Читать книгу Animus oder Die Seele eines Stärkeren - Nik Morgen - Страница 6
Aloe
ОглавлениеARZT: Meine Sehnsucht nach ihm verzehrt mich. Wieso sind wir hier und nicht bei ihm?
SAKRISTANIN: Weil er es so gesagt hat! Wir müssen ihn hier erwarten, damit er rechtzeitig die Messe lesen kann.
ARZT: Und er kämpft allein dort draussen bei der Meute. Die Liebe selber kämpft.
SABINERIN: Nicht allein! Ich bin mit ihm dort draussen auf dem Schlachtfeld. Aber lange halt ich es nicht mehr aus. So viele hab ich schon umgebracht. Mit seinem Schwert um ihre Seelen zu retten.
SAKRISTANIN: Sag ihr, sie soll aufhören. Sie macht mich krank mit ihrem Satan!
SABINERIN: Meinst du, es wäre lustig, in der Flamme zu stehen und zu sehen, wie sie brennt? Meinst du, es wäre lustig zu wissen, dass er blutig hier ankommt und stirbt? Weißt du, dass heute Fronleichnam ist, und zwar nicht bloss als Fest im Kirchenjahr. Oh doch, ein Fest! Ich freue mich! Fronleichnam. Heute ist der Tag meines Lebens!
SAKRISTANIN: Es gibt schon genügend widrige Umstände. Auch ohne Furien, die das Schlimmste heraufbeschwören. Ich kann mit Katastrophen umgehen, aber nicht mit Irrationalität, Wichtigtuern und Fantasten. Und du lässt dich von ihr treiben und trotzt mir.
ARZT: Lass sie. Ich kann dich nicht trösten. Meine einzige Hoffnung besteht darin, ihn gesund zu machen. Wenn sich das als eine Utopie erweist, dann kann ich dir gar nichts mehr anbieten.
SABINERIN (Zur SAKRISTANIN): Sei doch ein bisschen selbständig. Wir brauchen dich. Wieso bist du eifersüchtig? Denkst du nicht an ihn, der für dich leidet?
SAKRISTANIN: Natürlich. Aber ich spalte ihn nicht ab vom Rest der Menschheit. Wir leben weiter, auch wenn er stirbt. Um ihn bin ich von allen am wenigsten besorgt. Er geht doch nicht verloren. Aber wir gehen einander verloren auf diese Weise. (Zum ARZT, flehentlich.) Andreas!
ARZT: Ich bitte dich, sei still.
SAKRISTANIN: Ich weiss, dass du ihn mehr liebst als mich.
ARZT: Was spielt das für eine Rolle? Er steht ausser Konkurrenz. Ich würde niemanden lieben ohne ihn.
(Stimmen werden durch die hintere Tür zur Sakristei vernehmbar.)
Hört.
SABINERIN: Er kommt. (Geht zur Tür. Sie öffnet sie und der PRIESTER kommt herein gestützt und begleitet von einer ganzen Horde.) Jozef.
ARZT: (Springt auf ihn zu.) Jozef.
SABINERIN: Blut. (Sie reisst sein Hemd über der Brust weit auf. Hysterisch.) Da ist er verletzt. Wir müssen ihn verbinden. Allmächtiger, hilf!
ARZT: (Ellbogt sich durch die Leute zu ihm.) Lasst mich zu ihm durch.
SABINERIN: Die Leute müssen raus. (Beginnt, die Leute zu vertreiben.) Raus. Verschwindet. Er braucht den Arzt. Wollt ihr ihn umbringen?
ARZT: Schliesst beide Türen. (Zu ihm.) Herr, was haben sie dir getan.
(Die Türen werden geschlossen.)
SABINERIN: (Laut.) Was haben sie dir getan! Oh nein, oh nein.
SAKRISTANIN: (Zerrt sie zu Boden.) Weg. Du stürzt ihn.
ARZT: (Untersucht ihn.) Ein Kugelschuss und Messerstiche. Wir müssen die Wunden waschen. Ich stütze dich. Komm, lehn dich an.
SAKRISTANIN: Ja, kann er das überleben? Muss er nicht ins Spital?
ARZT: Du weißt, was er gesagt hat: „Die Messe ist die beste Operation.“
SABINERIN: Setzt ihn auf den Stuhl.
SAKRISTANIN: (Bringt einen Stuhl herbei. Zur SABINERIN am Boden.) Du bleibst, wo du bist.
SABINERIN: Ja, ich schaue ihn an. (Sie singt den Kehrvers aus dem Hohelied auf Lateinisch: „Ein Lustgarten sprosst aus dir, Granatbäume mit köstlichen Früchten, Myrrhe und Aloe, allerbester Balsam.“)
ARZT: Wir müssen ihn entblössen. Hilf mir.
SAKRISTANIN: Schau. Sein ganzer Körper ist mit Bildern ausgemalt.
ARZT: Nimm etwas aus dem Koffer, damit ich die Wunden verbinden kann.
SAKRISTANIN: Da. Hier hab ich Balsam für deine Haut.
ARZT: Was ist es?
(Pause.)
SAKRISTANIN: Aloe.
(Gerade singt die SABINERIN das Wort im Kehrvers.)
ARZT: Komm, ich halte dich. (Pause.)
SAKRISTANIN: (Abschliessend.) So.
ARZT: Du musst stehen und die Messe lesen. Kannst du das tun? Komm. (Er hilft ihm auf die Beine.)
SABINERIN: (Hört auf zu singen.) Du taumelst. Aber du stehst... Ganz frei... Hier, ich leg dir das weinrote Band von deinem Kleid zum Schutz um die Hüfte. (Macht es und weicht zurück.) Seht. Seht an unsern wunderbaren Priester.
SAKRISTANIN: Stark ist er und schön.
ARZT: Legt ihm die Gewänder an.
SABINERIN: Gold. Gold sollst du tragen.
SAKRISTANIN: (Öffnet die Kastentür, nimmt ein Gewand und beginnt ihn einzukleiden) Schau. Dieses hier liess ich für dich anfertigen. Es liegt mehr am Körper an als die traditionellen Gewänder. Es wirkt schlichter, ist aber viel kostbarer.
ARZT: Es steht dir perfekt.
SABINERIN: Du wirst die Messe lesen, ja?
(Plötzlich stürzt der PRIESTER zusammen.)
SAKRISTANIN: (Eilt hinzu.) Jesus. Was ist geschehen?
ARZT: (Ist hinzugekommen.) Lasst mich.
SAKRISTANIN: Spürst du sein Herz?
ARZT: (Weint.) Ja, aber es schlägt nicht mehr. (Schluchzt. Auch die SAKRISTANIN schluchzt.)
SABINERIN: Herr, gib mir deine Gewänder. Ich trinke deinen Kelch. (Vom Kirchenraum werden die Stimmen der Leute hörbar. Jetzt riegeln sie an der Tür. SABINERIN zu den andern, mit Autorität.) Helft mir. Läutet die Kirchenglocken! Das Festtagskleid ist mir!
(Die Kirchenglocken werden elektrisch eingeschaltet.)
ARZT Ich trage deinen Körper vor den Tabernakel. Leg du das rote Band über ihn. (Er nimmt ihn über die Schultern.) Du bist leicht. Ich trage dich als wärst du das Kreuz, mein Siegeszeichen.
(Die SAKRISTANIN schliesst die Tür auf, vor der sich die Leute drängen. Der Glockenton und das Rufen der Meute wird stärker.)
SAKRISTANIN (Geht voran und ruft): Zurück! Zurück!
(Der Tumult legt sich und wandelt sich in Staunen. Stille ausser dem Glockenton. Dann stimmt die SABINERIN das „Te Deum“ an, welches als ein Raunen voll Emotion und Trauer von der Volksmenge aufgegriffen wird. Ausblenden.)