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Des Philosophen Grabesstimme

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Zwei Männer schreiben eine Biographie. Der berühmte Philosoph und Papst des französischen Marxismus und Mörder seiner Frau, Louis Althusser, seine eigene; und der Historiker Moulier-Boutang die von Louis Althusser. Beide sind jetzt erschienen. Dabei werden uns zwei verschiedene Lebensläufe vor Augen geführt, auch wenn sie streckenweise deckungsgleich sind. Beiden entsteigt man nach der Lektüre wie einem Säurebad, also ziemlich aufgelöst. Die lebenslange Verzweiflung und allgegenwärtige Düsternis des Louis Althusser «lassen Sartres ‹Ekel› [la nausée] wie einen Pennälerwitz und ‹Die Pest› von Albert Camus wie eine harmlose Epidemie erscheinen» (Moulier-Boutang).

Althusser? Bisher als Verfasser von ebenso knochentrockenen wie scharfsinnigen Traktaten, als langjähriger Professor des Elitetreib- und Triebhauses Ecole Normale Supérieure und Mitglied der Kommunistischen Partei bekannt. Elegant hat er zwar immer geschrieben, ausgefeilt und präzis, ein schmales Werk («Pour Marx», «Lire le Capital» usw.), sein Einfluss in Frankreich war eminent, er hat die philosophische Debatte in Sachen Reformkommunismus oder Eurokommunismus dominiert. Er hat sich gegen die Instrumentalisierung der Philosophie gewehrt, gegen das «enorme theoretische Vakuum der französischen Marxisten, welche, meist kleinbürgerlichen Ursprungs, zur Partei gestossen sind und, weil sie nicht Proletarier waren, ihre imaginäre Schuld abzutragen glaubten, indem sie einem reinen Aktivismus verfielen» («Pour Marx»). Dass er aber als Person existierte, 1918–1990, dass er litt, verzweifelte, etwa die Hälfte seines Lebens in psychiatrischer Behandlung und/oder Irrenhäusern verbrachte, ständig, schon als Kind, von Selbstmordgedanken geplagt war, hat er nie beschrieben: bis er jetzt, als Toter, seine Autobiographie publizieren liess. Sie wirft den Leser um. Er steht wieder auf, und Moulier-Boutang boxt ihn nochmals um. So war das also! Er hat die Rolle als Guru mit seiner Selbstzerstörung erkauft. Althusser, manisch-depressiv, als Schriftsteller grossartig, tot und sehr lebendig, und man sieht, wie sein philosophisch-marxistisches Über-Ich, früher sein katholisches, den Schriftsteller Althusser abgemurkst hat, so wie er am 16. November 1980 seine Frau Hélène erwürgt hat, in der Umnachtung.

Ist die Mutter an allem schuld, ein bisschen auch der Vater? Wenn man Althusser glaubt: ja; wenn man Moulier-Boutang liest: nur bedingt. Althusser über seine Mutter (Kindheitserinnerungen): «Wir fuhren damals oft in jene Gegend namens Fougères, (…) und der Wagen wurde von einer fetten, ruhig dahintrottenden Stute gezogen. Ich sass neben dem Kutscher und sah, wie der dicke Arsch der Stute sich bewegte. In der Mitte hatte es einen schönen feuchten Spalt, der mich interessierte, ich wusste damals nicht, weshalb. Aber meine Mutter vermutete es an meiner Stelle, denn sie hiess mich hinten Platz nehmen, von wo aus ich die Stute nicht mehr sehen konnte, aber am Strassenrand sah man jetzt Hähne, welche die Hühner bestiegen. Ich zeigte sie meiner Mutter lachend, es war komisch, aber sie fand das nicht lustig und schimpfte: Lach doch nicht vor Monsieur Faucheux, er wird denken, dass du ein Ignorant bist. Wovon? Ich habe es nie erfahren.»

Die Mutter hatte bekanntlich einem Louis Althusser die Ehe versprochen oder war diesem von ihren/seinen Eltern versprochen worden. Louis stürzte im Ersten Weltkrieg mit seinem Flieger über Verdun ab, worauf sie von dessen älterem Bruder geheiratet wurde. Darauf idealisierte die Mutter den Verstorbenen, welchen sie fleischlich nie kennengelernt hatte, perhorreszierte ihren wirklichen Mann, weil er dem Idealbild nie genügen konnte, nannte ihren Sohn LOUIS und übertrug ihm die Rolle des toten Verlobten. Der Vater war Bankangestellter, dann Direktor, senkrecht, aber zu Hause schweigsam, erst im Freundeskreis auftauend. Wenig Kultur zu Hause; Althusser liebäugelt offensichtlich mit dem Kindheitsmilieu von Sartre, wie es in «Les mots» erscheint: riesige Bibliothek und kein Vater. Die späteren Schwierigkeiten mit den Frauen, seine Angst vor der Sexualität, schliesslich die Ermordung seiner Frau, sieht er, explizit oder implizit, als Folge des mütterlichen Liebesvakuums. Nachdem er z.B. das erste Mal mit seiner Zukünftigen geschlafen hatte, sei er sofort krank geworden, der beste Psychiater auf dem Platz Paris habe eine «dementia praecox» diagnostiziert. Die Therapie: «Damals wurden die Elektroschocks ohne Narkose oder Curare verabreicht. Wir waren alle in einem grossen hellen Saal versammelt, Bett an Bett, und der Vorsteher von untersetzter Gestalt und schnauzbärtig, weshalb die Kranken ihn Stalin nannten, bugsierte seinen elektrischen Kasten von einem Kunden zum andern und setzte allen Konsumenten sukzessive den Helm auf. Man sah, wie der Nachbar sich reglementär in einer epileptischen Krise aufbäumte, man konnte sich vorbereiten und das berühmte zerkaute Tuch zwischen die Zähne nehmen, welches mit der Zeit nach Strom schmeckte. Es war ein schönes kollektives Schauspiel und sehr erhebend.»

Das war zur Zeit, als Althusser seine Neigung für Stalin entdeckte, dessen Praxis er lange verteidigte. Es sieht aus, als ob Stalin ihm philosophische Elektroschocks verabreicht hätte. Im Kampf gegen die verhasste Bourgeoisie (sein eigenes Milieu), welche mit Hitler kollaboriert hatte, und im Engagement für die Habenichtse (zu denen er nicht gehörte) war ihm zeitweise jeder Verbündete recht. Althusser sah Stalin als neuen «motorisierten Weltgeist», sozusagen. Der Weltgeist hat immer recht, er kennt das Ziel der Geschichte und nimmt, im Hinblick auf das künftige Goldene Zeitalter, alle Grausamkeiten der Gegenwart in Kauf. Hegel sah in Napoleon, als dieser nach der Verwüstung von Jena durch die französischen Soldaten unter seinem Fenster vorbeiritt, den «Weltgeist zu Pferde» verkörpert, und der hegelianische Althusser lokalisiert den Weltgeist in Stalins Panzern, welche Osteuropa befreien und besetzen. Augen zu und durch! Und er träumte anscheinend von einer paulinischen Rolle. Paulus hatte das Christentum aus der jüdischen Kultur in die römische verpflanzt, Althusser wollte das Christentum dem neuen Rom, also Moskau, aufpfropfen, und zu dem Behuf hätte es zuerst den atheistischen Marxismus übernehmen sollen: negative Theologie. Erst nach dem Sieg des «Königreichs der Armen» (Sowjetunion) sei auch ein Triumph des erneuerten Christentums möglich. Seine Depressionen, so glaubte er, würden mit dem untergehenden Spät(!)-Kapitalismus verschwinden (Moulier-Boutang), und damit seine unerträgliche Angst: «Ich habe so viele Depressionen erlebt seit dreissig Jahren, dass man mir gestatten wird, nicht davon zu sprechen. Wie soll man übrigens von dieser Angst reden, die wirklich unerträglich ist, an die Hölle grenzt und an die fürchterliche und unergründliche Leere?» (Althusser) Man möchte den «General der Philosophie» (Moulier-Boutang) postum umarmen und ihm zurufen: Hätten Sie das nicht früher schreiben können, Monsieur, und von ihrem Papst-Thron hinuntersteigen zu uns anderen, die sich ihrer Depressionen schämen? Hätte manchem (mancher) geholfen: zu wissen, dass die Halbgötter umnachtet sind und es ihnen sterbenselend ist.

Später liess er sich in die chemische Zwangsjacke stecken (Neuroleptika), hat Schlafkuren ertragen (mit Penthothal-Spritzen), Lithium geschluckt, das Bogomolev-Serum eingespritzt bekommen, sich in Hochsicherheitstrakten einschliessen lassen (Klinik von Soisy), jede Art von Antidepressiva konsumiert: alles für die Katz.

Seine Biographie ist die Geschichte der Psychiatrie der letzten fünfzig Jahre. Nur Deckelbäder hat er nicht abbekommen. Er war eine ambulante Apotheke und zeitweise so mit Medis vollgepumpt, dass er, wie Moulier-Boutang mir sagte, welcher ihn oft im depressiven Zustand gesehen hat (da konnte er jeweils nicht mehr reden und war völlig bewegungslos, vor-tot), nur noch einen Schluck Alkohol hätte nehmen müssen, und er wär' hinübergewesen.

Seine Schüler haben kaum etwas von den Verzweiflungen des Meisters mitbekommen, wenn er wieder interniert wurde, liess die Direktion der «Ecole Normale Sup» (sogenannte «Grande Ecole», eigentlich höheres Lehrerseminar) verlauten, er sei in den Ferien. War er ja auch, gewissermassen. Er soll ein vorbildlicher Lehrer gewesen sein, habe zuhören können und hat den Schülern, welche die fürchterlich strenge, nur mit härtestem Büffeln zu bestehende «Agrégation» nicht bestanden (Michel Foucault, Jacques Derrida u.a.m), über ihre Depressionen hinweggeholfen und ihnen das Repetitionsjahr schmackhaft gemacht oder erträglich. Konnte sich selbst unter Depressionen etwas vorstellen …

Ein Lichtpunkt: seine Geliebten. Man wird die schönste Prosa des Louis Althusser nie, oder erst in unabsehbarer Zeit, lesen können. Befindet sich nämlich in den siebenhundertfünfzig Briefen, die er an Claire Z. geschrieben hat; sie hat ihm fünfhundert zurückgeschrieben. Es war aber nicht nur eine Liebes-Brief-Beziehung, sondern eine ausgeflippte, echt erotische, zugleich spirituelle Leidenschaft (Moulier-Boutang hat die Briefe gesehen und bringt ein Zitat). Auch mit Franca X. war er glücklich.

Die Ehe mit Hélène hingegen – da haben sich zwei Unglücksraben vereinigt. Hélène Ratman-Légotien kam aus einer verwüsteten Kindheit, wurde von ihrer Mutter verabscheut, hat ihrem krebskranken Vater, auf Anraten des Arztes, der das selbst nicht zu tun wagte, im Alter von 13 Jahren die tödliche Spritze verabreicht, ein Jahr später dann auch grad noch der Mutter. Verständlich, dass die Kommunistische Partei ihr ein Familienersatz wurde (wie für Althusser – beide waren in derselben Familie, als sie sich heirateten: Inzest?). Hélène wurde, aus nie genau geklärten Gründen, von der Partei, die ihr das Leben bedeutete, 1950 ausgeschlossen und Althusser von der Partei aufgefordert, sich von ihr zu trennen. Ein regelrechter Prozess à la Moskau war dem vorangegangen. Der kommunistische Dichter Paul Eluard («Sur mes cahiers d'écolier j'écris ton nom: Liberté»), der grosse Freiheitsspezialist, wird von Althusser um Hilfe gebeten, wendet sich indigniert ab. Althusser ist der Partei trotzdem treu geblieben. Die beiden leben dann, eine höllische Ehe, jahrzehntelang zusammen in der Amtswohnung der «Ecole Normale Sup» (ein Internat, in dem übrigens erst seit kurzem auch Frauen zugelassen sind). Hélène wird, ménage à trois, vom gleichen Psychiater wie Louis, René Diatkine, behandelt, der es auch sonst mit der Berufsethik nicht so genau nimmt, er lässt Louis auf sein Verlangen, nach einer Suiziddrohung, internieren, analysiert ihn face-à-face. Althusser soll allerdings kein einfacher Kunde gewesen sein, habe jeweils, schon nach den ersten Sitzungen, seine Analytiker zu analysieren begonnen und sie mit diabolischen Psychotricks zur Verzweiflung getrieben, so wie er auch den Leser manchmal fast zum Überschnappen bringt: Er hat in einem Buch (Bestseller) zwei Autobiographien veröffentlicht, eine kürzere, 1976 geschriebene («Les faits»), eher leichtfüssig bis zynisch, brillant und lustig; und eine längere, «L'avenir dure longtemps» (Zitat von de Gaulle), fünf Jahre nach dem Erdrosseln seiner Frau produziert; die erste verhält sich zur zweiten wie die Komödie zur Tragödie. In der ersten erzählt er u.a., skurril, aber komisch überzeugend, wie er ein atomares Unterseeboot gestohlen hat und von Papst Johannes XXIII. in die vatikanischen Gärten eingeladen worden ist und de Gaulle, der ihn um Feuer bat, auf dem Trottoir begegnet ist: alles Mumpitz, sagt Moulier-Boutang; aber damit wolle er vielleicht sagen, dass es sich bei seiner Autobiographie um Fiktion handle (obwohl sie andererseits von nachprüfbaren Daten strotzt).

Moulier-Boutang seinerseits hat Althusser, in seiner minutiösen, spannend geschriebenen, an Richard Ellmanns oder Jean Lacou-tures Methode erinnernden Biographie, die auf Tausenden von unpublizierten schriftlichen und mündlichen Quellen fusst, erst bis zum Jahre 1956 behandelt (manchmal wie ein Psychiater: 505 Seiten). Man wartet gespannt auf den zweiten Band. Einen Abschnitt der französischen Geistes- und Politgeschichte muss man jetzt schon anders lesen.

PS: Warum tötete Louis Althusser?

Das Rätseln um den französischen Philosophen Louis Althusser geht weiter. Zwei Psychiater aus Bordeaux haben an einer medizinischen Fachtagung eine neue Hypothese vorgelegt, warum Althusser 1980 seine Frau Hélène erwürgt hat.

Nicht aus Mitleid habe der berühmte Philosoph getötet, auch nicht getreu einem Selbstmord-Pakt zwischen Opfer und Täter, meinen Michel Bénézech und Patrick Lacoste, die beiden Psychiater: «Vielmehr weist alles darauf hin, dass es sich um ein Drama der Leidenschaft handelt, einen Konflikt von Liebe und Hass.»

Die beiden auf Kriminalfälle spezialisierten Psychiater stützen sich, wie die Zeitung «Le Monde» berichtet, vor allem auf die letztes Jahr erschienenen autobiographischen Schriften von Althusser (TA vom 25. September). Der marxistische Philosoph habe enorme Angst gehabt, seine Frau verlasse ihn, wofür sich die Anzeichen in den letzten Wochen vor der Tat verstärkt hätten: «Wir haben es hier mit einem Typ von Beziehung zu tun, wie sie Mutter und Baby verbindet. Wenn eine solche Beziehung zu zerbrechen droht, besteht eine existentielle, vitale Gefahr und das Risiko, dass es zu einer mörderischen Tat kommt», glauben die Psychiater. Um der Trennungsangst zu entgehen, habe Althusser es vorgezogen, «das Objekt seiner Emotionen zu vernichten und so im Tod unbeschränkt zu besitzen».

Althussers Tat hatte in der französischen Öffentlichkeit ungläubiges Entsetzen ausgelöst. Da der Philosoph für nicht zurechnungsfähig erklärt wurde, kam es zu keinem Prozess. Althusser wurde in einer Klinik interniert und später freigelassen. Er starb 1990.

Althusser litt während Jahrzehnten an Depressionen und wurde immer wieder in Kliniken behandelt. Mit seiner Frau Hélène lebte er zurückgezogen in einer Dienstwohnung in der berühmten Pariser Ecole Normale Supérieure, an der der Philosoph unterrichtete. Althusser, dessen Bücher international Aufsehen erregten und viel diskutiert wurden, kannte Hélène seit 1946. Von der Ehehölle des Paars wussten selbst Freunde und Schüler nichts.

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