Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 10

Оглавление

*

Nach Vaters Tod wuchs in mir langsam, aber sehr bestimmt der Hass gegen die bestehende Gesellschaftsordnung und gegen meine Mutter. Eingeschüchtert und ihrer Biographie wegen im Visier der Obrigkeit, schärfte sie mir jeden Morgen vor der Schule ein, gewissenhaft alles aufzunehmen, was die Lehrer lehrten, nicht zu widersprechen und mich aktiv bei den Pionieren und später im Komsomol zu beteiligen. Der Hintergrund meines Stiefvaters – eines Kämpfers der siegreichen Sowjetarmee im Großen Vaterländischen Krieg – schützte meine Mutter. Ein Hintergrund, der mit der roten Farbe der Wahrheit einen anderen Hintergrund übermalt hatte: dass er im unabhängigen Lettland im Wachdienst des Präsidenten angestellt war und dass sein Bruder sich freiwillig zur deutschen Armee gemeldet hatte. Bruder gegen Bruder: die blutige Polka der Geschichte.

Spätabends in der Küche sprachen meine Mutter und mein Stiefvater über ihre Brüder. Der Bruder meines Stiefvaters war als Vaterlandsverräter mit dem Tod bestraft worden. Zuvor hatte man ihn wegen eines ihm selbst unbekannten Verrats gefoltert. Die russischen Hunde, sagte mein Stiefvater mit gepresster Stimme. Mir war das unerklärlich. Mit diesen Hunden war er doch Schulter an Schulter fast bis Berlin marschiert; zu den Feiertagen im Mai und November ging er auf die Kundgebungen dieser Hunde und bekam ein Päckchen mit Lebensmitteln, die man im Laden nicht kaufen konnte, zum Beispiel geräucherte Hartwurst, löslicher Kaffee und eingelegte Gurken und Tomaten aus dem Bruderland Bulgarien.

Der Bruder meiner Mutter lebte gesund und munter in London, von wo wir Päckchen mit unerhörten Dingen erhielten: wunderschöne Stoffe, Garnrollen und Schnittmuster, nach denen meine Mutter Kleider schneiderte. Dort in London besaß mein Onkel eine Kleiderfabrik. Zweimal pro Jahr schrieb meine Mutter ein Gesuch an die sowjetischen Behörden mit der Bitte, ihren Bruder besuchen zu dürfen. Zweimal pro Jahr erhielt sie eine offizielle Antwort mit dem Bescheid: unbegründet, abgelehnt. Ihre zehn Jahre währende Korrespondenz mit den Behörden endete mit dem letzten Gesuch, dem um Erlaubnis, zur Beerdigung ihres Bruders nach London zu fahren. Auch darauf erhielt sie den Bescheid: unbegründet, abgelehnt.

Ungeachtet dieser Absurditäten fuhr meine Mutter zielstrebig fort, mich auf die gerade Bahn einer rechtschaffenen und vertrauenswürdigen jungen Sowjetbürgerin zu lenken. Und genauso zielstrebig blühte in mir der Hass gegen diese ganze Scheinheiligkeit auf, die die Menschen zu einem Doppelleben zwang. Dazu, auf den Mai- und Novemberdemonstrationen Fahnen zu schwenken zum Lobpreis der Roten Armee, der stärksten Armee der Welt, der Revolution und des Kommunismus, und dann daheim in der Küche alles mit einem Gläschen wegzuspülen, sich zu bekreuzigen und auf die englische Armee zu warten, die über Bolderāja einmarschieren und Lettland vom russischen Joch befreien würde.

Wenn ich meine heuchlerische Rolle in der Schule gewissenhaft erfüllt hatte, zog ich mich immer weiter in mich zurück und las das Lexikon der Medizin, das nach dem Tod des Professors in unseren Besitz gekommen war. Er hatte ganz allein in der Wohnung über uns gewohnt, und die neuen Mieter hatten seine Bibliothek einfach zum Fenster hinaus geworfen. Im Hof entstand rasch ein riesiger Bücherhaufen, von dem sich jeder nehmen konnte, was er wollte. Meine Mutter staunte nicht schlecht, als ich die Bände des großen Lexikons die Treppen hoch schleppte, machte aber keine Einwände, um die wachsende Kluft zwischen uns nicht noch zu vergrößern.

Da war sie: die Wahrheit über das erbärmliche und heuchlerische Geschöpf, das man Mensch nannte. Ein Gewirr von Blutbahnen, aufgewickelte Därme, Drüsen und Sekrete, Lymphen und Arterien, Phalli und Vaginas, Hodensäcke und Gebärmütter.

Die göttliche Wahrheit, in der so viele feine Lebensmechanismen zusammenwirkten, in der jeder Zufall zu einem Verhängnis werden konnte, aber es nicht wurde, denn dieses Gebilde war erschaffen zum Leben, nicht zum Sterben. Und der Tod war in dieser Geschichte nur ein zufällig unvermeidbarer Haltepunkt.

Muttermilch

Подняться наверх