Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 11
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Wenn ich an meine Mutter denke, an ihre und meine Geburt, wird mir immer bewusst, dass alles so verdammt abhängig ist von den äußeren Umständen, die selbst entweder Folge eines ebenso verdammten Zufalls sind oder Teil eines großen, unverständlichen Plans. Ort und Zeit unserer Geburt bestimmen unser Leben. Wir hätten ein anderes Leben gehabt, wenn wir nur woanders geboren wären. Ich hätte zum Beispiel eines der Kinder sein können, die im August 1969 in Woodstock geboren wurden. Wie man weiß, sind während des Festivals drei Menschen gestorben – einer an einer Überdosis Heroin, der zweite wurde von einem Traktor überfahren und der dritte fiel von einem hohen Gerüst. Und zwei Kinder wurden geboren. Außerdem kamen neun Monate nach dem Festival noch Tausende Kinder auf die Welt, die in Woodstock gezeugt worden waren.
In meiner Vorstellung sehe ich meine Mutter nicht als Medizinstudentin im sowjetischen Lettland, die sich ein Kind eingefangen hat, das sie nicht gewollt hatte, die durch das graue herbstliche Riga geht in einem zu engen Mantel, den der Bruder ihrer Mutter, den sie nie sehen wird, aus London geschickt hat. Der Mantel wird nur von einem Knopf über ihrem dicken Bauch zugehalten, ihre Stiefel sind schon stark abgetragen, und unterm Arm trägt sie ihre Mitschrift aus der Endokrinologie. Nicht so sehe ich sie, sondern mit langen glatten Haaren, einem bunten Stirnband, der dicke Bauch nur halb versteckt unter einer geblümten Bluse, darunter lockere Jeans. Alles ist anders: in diesem Paralleluniversum herrscht das Chaos der Freiheit, es duftet nach Gras und Sperma. The Who singen „See me, feel me“, und als das Lied beginnt, geht die Sonne auf. Freiheit und Welt kennen keine Grenzen. Vor lauter Glück und nach dem zweiten Joint setzen bei meiner Mutter die Wehen vorzeitig ein.
Wenn auch die Geschichte ein solches Szenario unmöglich gemacht hatte, so war doch etwas von einem Blumenkind in meiner Mutter. Sie schreckte nicht vor Selbstexperimenten zurück und lebte häufig in einem alternativen Nebel – sowohl im wörtlichen Sinne, wenn sie etwas genommen hatte, als auch im übertragenen, wenn sie sich über die Beschränkungen des Zeitalters hinwegsetzte, in das sie hineingeboren war und in dem sie leben musste. Ich sehe sie noch vor mir, angetrunken, beschwipst vom Wein auf der Butterblumenwiese beim Hippodrom, in dem keine Pferde mehr liefen, sondern irgendwelche Werkstätten untergebracht waren. Das Hippodrom, das für sie Symbol eines anderen, glücklichen, unbeschwerten und freien Lebens war. Sie rannte durch die Butterblumen wie eine schöne junge Stute, und ich trottelte hinterher wie ein kleines Fohlen, wir fielen zusammen hin und meine Kinderwange stieß an die Mutterbrust. Sie war rund und weich, und ich presste meine Wange fester daran. So lagen wir dort, und Welt und Freiheit kannten keine Grenzen.
Erst später, nach ihrem Tod, als die Zeit der großen Umbrüche hinter uns lag und das Leben meiner Mutter hätte beginnen können, jedoch endete, würde ich möglicherweise eine Ahnung von den Grenzen bekommen, die sie in ihrem Leben überschritten hatte. Und von der wichtigsten Grenze, der zwischen Leben und Tod, die sie bis ins Detail erfahren hatte, da sie täglich vor ihr stand und sich nicht fürchtete, sie zu überschreiten, zu der sie immer wieder zurückkehrte bis zum Moment der großen Trennung.