Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 9
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Meine Eltern, das waren für mich die Mutter meiner Mutter und ihr Stiefvater. Meine Mutter war ein Wesen, das außerhalb des Familienverbands stand. Etwas, um das sich unsere Leben drehten, dem sie sich unterordneten, mit dem sie etwas untrennbar verband und von dem sie abhingen. Die ständigen Kämpfe ihrer Engel und Dämonen, die zeitweise unseren Alltag aus Zeit und Raum hinauskatapultierten. Die uns in einen mystischen Kampf zwischen Gut und Böse hineinrissen und auf der fragilen Grenze zwischen Leben und Tod balancieren ließen. Voll Sorge warteten wir darauf, dass sie nach Hause kam, und atmeten manches Mal erleichtert auf, wenn sie die Tür aufmachte. Wir konnten nicht wissen, was der kommende Tag oder die kommende Nacht bringen würde. Keiner von uns wusste etwas über meinen Vater. Großmutter meinte, dass sie sich vielleicht auf einem Dorffest getroffen hatten, zu dem hinzugehen sie und ihre Schwester sie gedrängt hatten. Jedenfalls war meine Mutter danach schwanger. Mehr wusste niemand. Aber ich stelle es mir vor, wie sie sich begegnet sind.
Wie sind sie sich begegnet?
Während sie in der kleinen Küche im kleinen Haus der Schwester ihrer Mutter den löslichen Kaffee umrührt, kündet das krächzende Transistorradio zum wiederholten Male, dass heute der (wievielte?) Januar 1969 ist. Ein Januarmorgen in ihrem Leben, an dem sie, zu Besuch bei ihrer Tante auf dem Land, versucht, den Blödsinn des wissenschaftlichen Kommunismus schnell durchzulesen und im Gedächtnis zu behalten, um die übrige Zeit der Medizin und der Entstehung des Lebens zu widmen, sowie hin und wieder den Werken von Boris Pasternak und Jean Paul Sartre in gelblichen Kopien. Sie wird Ärztin, sie wird Wissenschaftlerin, was auch immer sie dafür tun muss. Bisher fällt es ihr leicht, ihr Studium im offiziellen System zu durchlaufen und sich parallel dazu eine ganz andere, verbotene Bildung anzueignen. Mutter und Tante machen sich Sorgen. Sie kann tagelang in ihrem Zimmer bleiben und lesen. Sie ist schon über zwanzig, aber noch nie wurde ein junger Mann an ihrer Seite gesehen. Ist sie attraktiv? Ja, besonders, wenn sie abmagert. Zarte Knochen, runde, feste Brüste. Blondes Haar, das sie manchmal bleicht. Sommersprossige Haut, kleine Hände.
Über ihre Kleidung macht sie sich kaum Gedanken. Sogar in die Uni geht sie in weiten, bequemen Hosen, auch wenn sie die ängstlichen, argwöhnischen Blicke von Dozenten und Kommilitonen spürt. Hosen schicken sich für Frauen nur sonnabends und beim Ernteeinsatz. Ansonsten haben sie knieumspielende Röcke zu tragen, oder zurückhaltende Minis, wenn die Mode es gerade verlangt.
Während die Tante ihrem Mann Kartoffeln zum Frühstück brät, trinkt sie bitteren Kaffee, sieht aus dem Fenster und denkt, dass der riesige Wal, von dem der wilde Kapitän besessen ist, wohl ein Name für die starke Seelenkraft ist, gegen die man sich nicht wehren kann, die einen immer weiter vorwärts und schließlich ins Meer hinein treibt.
Am Abend stecken Mutter und Tante sie beinahe mit Gewalt in das Kleid, das ihr Bruder aus England geschickt hat. Sie soll endlich aufhören, sich in diese Bücher zu verbeißen, sie soll jetzt lieber ins Dorfklubhaus gehen zum Ball. Das örtliche Ensemble spielt, es gibt Häppchen und Erfrischungen, und vor allem wird getanzt. Das oberschlaue Stadtfräulein soll mal ordentlich mit den Landburschen tanzen. Sie soll bloß nicht denken, dass sie entkommt, die beiden Schwestern bringen sie bis an die Tür des Klubhauses.
Als sie die Tür aufmacht, weiß sie nicht, womit sie das, was sie sieht, vergleichen soll. Auf der Bühne bewegt sich hölzern ein Sänger.
Eine weiße Karavelle
gleitet durch das Himmelszelt,
wenn ein Tag
mit der Nacht
in den ewgen Abgrund fällt.
Auf der Tanzfläche bewegen sich mehrere Paare. Die einen versuchen sich im freien Tanz, andere halten sich gefasst wie zum Walzer. Am Buffet an der einen Seite des Saals drängeln sich die Dorfschönheiten mit selbstgemachten Türmen auf dem Kopf. Die Jungs treten am anderen Ende auf der Stelle.
Wenn ein Tag mit der Nacht in den ewgen Abgrund fällt.
Was tut sie hier? Was zum Himmel tut sie hier? Sie versteht nicht, was hier vor sich geht – Das Sein oder Das Nichts?
Doch natürlich zieht das von Mutters Bruder aus England geschickte Kleid sofort die Blicke der konkurrierenden Gruppe auf sich. Auch ihr blonder, glatt gekämmter Bubikopf.
Sie hofft, dass die Schwestern nicht mehr vor der Tür stehen wie Zerberusse, um sie in die sieben Kreise der Hölle zurückzustoßen. Zur Sicherheit wird sie noch ein wenig hierbleiben und dann rausgehen, einen langen Spaziergang machen, am Seeufer verweilen und bei ihrer Rückkehr vorspielen, bis zum Umfallen getanzt zu haben und dass der Jüngling, der sie nach Hause gebracht hat, zu schüchtern war, um herein zu kommen und Guten Abend zu sagen.
Sie richtet sich in einer Ecke in der Nähe der Tür ein und wird fast fröhlich beim Beobachten der Tanzenden.
Wenn ein Tag mit der Nacht in den ewgen Abgrund fällt.
Doch dann kommt quer durch den Saal ein klein gewachsener junger Mann auf sie zu. Sie hofft noch, dass seine Bahn abgelenkt wird, aber sehr bald ist klar, dass er auf sie zusteuert. Höflich bittet er um einen Tanz. Sie erwägt nicht einmal ihre Möglichkeiten. Gibt ihm einfach die Hand und reiht sich unter die Tanzenden ein. Sie tanzen Walzer. Er ist ungefähr so groß wie sie, aber er tanzt gut und sicher. Manchmal berührt seine Wange die ihre und sie konstatiert, dass das nicht unangenehm ist. In der Pause zwischen zwei Tänzen machen sie dasselbe wie die anderen Paare, sie stehen ein Stück weit auseinander, wissen nicht, wohin mit den Händen, und warten auf das nächste Lied. Nach dem zehnten Tanz lädt er sie ein, am Rand der Tanzfläche ein Glas Wein zu trinken. An den Tischen herrscht ein großes Gedränge, aber er schlüpft geschickt zwischen den Anstehenden hindurch und taucht aus dem Gewühl mit zwei Weingläsern auf. Sie setzen sich und trinken.
Sie wird Ärztin, Wissenschaftlerin.
Ach so. Er arbeitet zur Zeit als Mechaniker. Was hat sie denn hierher geführt?
Besuch bei der Tante auf dem Land.
Wie gefällt es ihr denn auf dem Land?
Ganz gut. Wenn sie Bücher hätte, könnte sie auf dem Land leben.
Was wird sie denn mal werden?
Wissenschaftlerin.
Ach so. Er würde gerne studieren und Flugzeugingenieur werden. Noch ein Tanz?
Nein.
Darf er sie zum Haus ihrer Tante begleiten?
Ja.
Die Januarnacht ist ungewöhnlich mild. Sie gehen zum See, der noch nicht zugefroren ist. Er sammelt flache Steinchen und zeigt ihr, wie man sie übers Wasser hüpfen lässt. Ihre Gedanken wandern, während sie versucht, sagen wir, Feuerbach zu begreifen… Der Mensch urteilt über die Natur in Analogie zu sich, so nähert er sie scheinbar sich selber an… Das Steinchen berührt leicht die Wasseroberfläche und fliegt einen weiteren Bogen, aber um ein Diplom zu bekommen, muss sie Feuerbachs Atheismus begründen können. Das Steinchen versinkt.
Danach lädt er sie auf einen Tee ein, ganz in der Nähe, in ein Wachhäuschen, in dem die Nacht dann vergeht.