Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 6
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Seit dem Drama in der Baumschule waren mindestens neun Jahre vergangen. Ich war eine Musterschülerin und nahm an Schulaufführungen und Kundgebungen teil. Ich hielt das große M, als wir Kinder die russische Botschaft My za mir! Wir für den Frieden! bildeten. Jeden Morgen lag für mich eine frisch gebügelte Schürze bereit, die Zöpfe wurden fest auf den Hinterkopf geflochten oder zu Affenschaukeln gebunden. Meine Mutter liebte und verwöhnte mich. Eines Tages tauchte ein großgewachsener, freundlicher Mann bei uns auf. Meine Mutter sagte, das sei nun mein Stiefvater. Am Abend, als er fort war, sah ich meine Mutter zum ersten Mal weinen. Sie saß in unserer langen engen Küche mit dem Fenster zum Hof, auf dem Herd dampfte ein Topf Kürbis zum Einlegen, und meine Mutter erzählte.
Mein Töchterchen, mein liebes Töchterchen. Dein Papi wurde verhaftet, weil er die Tannenbäumchen retten wollte. Die Tannenbäumchen wollte er retten, und was hatte er davon, wäre er nicht hinausgerannt, hätte er nicht „ihr Halunken“ geschrien, wäre er heute noch bei uns. Aber er liebte den Wald und seine Tannenbäumchen, und er rannte hinaus. Sie haben ihn zusammengeschlagen, abgeführt, drei Tage lang habe ich ihn gesucht, bis ich ihn am Bahnhof Šķirotava gefunden habe. Hinter Gittern, voller Wunden, ganz ausgezehrt. Durch das Gitter hindurch hat er meine Hand genommen und sie ganz fest gehalten, bis ein Aufseher kam und ihm mit dem Gewehrkolben auf die Hand schlug, auch meine hat er dabei getroffen. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. Es fehlte jede Spur. Bis einer aus der Ferne die Nachricht brachte, dass er tot sei. Fünf Jahre ist das jetzt her. Er ist tot, mein Töchterchen, dein Papi.
Ich erinnere mich nicht, dass es mir viel ausgemacht hätte. Ich erinnere mich an Mamas weinerliche Stimme und daran, dass sie für alles Verkleinerungsformen benutzte – Töchterchen, Tannenbäumchen, Papi. Mein stattlicher Stiefvater gefiel mir, und an meinen Vater konnte ich mich nicht erinnern.
Bis eines Nachmittags am Kiosk bei meiner Schule, wo es einen Sodaautomaten gab, von dem zu trinken kategorisch verboten war, aber genau das war es, was man am meisten wollte, ein großer aufgedunsener Mann zu mir kam und sagte, er sei mein Vater. Ich rannte weg, so schnell ich konnte, schreiend und weinend rannte ich nach Hause, wo ich meine Mutter bleich wie ein Leintuch vorfand. Er war nicht gestorben. Er war zurückgekommen.