Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 5

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Ich weiß nicht, wie meine Mutter und Großmutter unter sich die Geschichte von Mutters Verschwinden lösten, denn sie wurde nie erwähnt. Den Duft der Muttermilch ersetzte in meiner Kindheit das Aroma von Medikamenten und Desinfektionslösungen, das meine Mutter stets wie eine Wolke umschwebte, wenn sie erschöpft vom Nachtdienst in der Frauenklinik zurückkehrte, oder wenn sie zu Hause stundenlang wach auf ihrem Bett lag. Ihre Handtasche war vollgestopft mit Tabletten, Ampullen und diversen Metallwerkzeugen. Durch einen Vergleich mit Abbildungen im Lexikon der Medizin erkannte ich darin später die verschiedenen, in meinem Bewusstsein furchtbaren, Instrumente eines Frauenarztes. Ziemlich gruselig erschien mir diese Welt, in die jede ihrem Mutterinstinkt folgende Frau zu gegebener Zeit unvermeidlich hineingezogen wird. Wenn meine Mutter einmal eine Nacht zu Hause verbrachte, saß sie lange wach bei Zigaretten und Kaffee, gebeugt über Berge medizinischer Fachbücher und Nachschlagewerke. Auf ihrem Schreibtisch reihten sich Zettel aneinander, auf denen neben schriftlichen Notizen Zeichnungen von Gebärmuttern, Eileitern, Becken und Scheiden in verschiedenen Kombinationen, aus verschiedenen Winkeln und Perspektiven erschienen.

Meine Mutter kannte sonst nichts von der Welt. Sie schloss demonstrativ die Tür, wenn im Nebenzimmer die Fernsehnachrichten mit dem lispelnden Leonid Iljitsch Breschnew eingeschaltet wurden, sie las nicht die Zeitung Rīgas Balss, nach der die Leute an der Ecke der Gorkistraße schon ab fünf Uhr abends anstanden. Genauso lange Schlangen bildeten sich am Nachmittag in den Fleisch- und Milchgeschäften, wo hin und wieder das eine oder andere zum Verkauf angeboten wurde: Würstchen oder Fleischwurst oder gar abgepackte Butter, und man durfte maximal ein Pfund kaufen. Auch davon wusste sie nichts. Aber neben den Bergen medizinischer Fachliteratur stand Melvilles Moby Dick. Die Sehnsucht nach der unfassbaren Freiheit eines eigenen Lebens.

Ich erinnere mich nicht daran, dass Mutters Hand mich berührte, aber ich erinnere mich an ihren durchstochenen Oberschenkel, an dem sie das Spritzensetzen übte. Ich erinnere mich, wie sie mit blauen Lippen im Bett lag, als sie das erste Mal ein Medikament überdosiert hatte, möglicherweise im Rahmen eines medizinischen Experiments. Ich erinnere mich an den Geruch ihres Morgenrocks, den Geruch der bitteren Tinkturen, die man ihr gab, als man sie ins Krankenhaus brachte. Und ich erinnere mich an den Flur der Frauenklinik, wo ich nach dem Nachtdienst auf sie warten durfte. Dann gingen wir ins Café in der Aloja-Straße und aßen Soljanka und grusinische Würstchen, und sie goss sich aus einer Ampulle Koffein in den Kaffee. Und ich weiß noch, wie starr unsere kleine Straße war, wie auf einem Bild, das aus einer anderen Zeit ausgeschnitten und in die heutige eingeklebt sein könnte. Nur die elegant gekleideten Leute auf dem Weg zu den Pferderennen im Hippodrom um die Ecke waren daraus verschwunden. An ihrer Stelle eilten nun andere Menschen mit eingezogenem Kopf auf dem Weg zur Arbeit dem Kommunismus entgegen. Aus ihren löchrigen Einkaufsnetzen lugten Stangenbrot und Kefirflaschen mit grellgrünen Deckeln und in graues Papier eingeschlagene Wäschepakete, die mit dünner brauner Kordel verschnürt waren.

Muttermilch

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