Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 14
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Es war ein schöner Sommertag 1977. Am Morgen nach dem Nachtdienst rief mich der Chefarzt an und sagte, es gäbe für mich die Möglichkeit, mein Wissen in Gynäkologie und Endokrinologie in Leningrad zu erweitern. Nach dem Schlachthof, wie wir unter uns den Nachtdienst nannten mit seiner endlosen Tretmühle von Geburten, Kaiserschnitten, geplanten und spontanen Schwangerschaftsabbrüchen, Myomen, Polypen und Zysten, erschien es unfassbar, nach Leningrad zu fahren und sich der Forschung zu widmen. Ich müsse mich daher heute noch in der Friedrich-Engels-Straße melden, wo man sich kurz mit mir unterhalten würde. Eine reine Formsache, sagte der Chefarzt.
Man lud mich in die Vorhölle ein. Vielleicht würde man mich ins Paradies einlassen, aber vielleicht würde ich dafür mit Blut bezahlen müssen. Gestärkt mit Kaffee und Koffeinampullen machte ich mich auf den Weg in die Friedrich-Engels-Straße. Vorbei an unserem Haus, wo mein Stiefvater das Frühstück bereitete und meine Mutter meiner Tochter vor der Schule die Zöpfe flocht. Vorbei an ihrem Leben, in das ich nicht passte, wo ich wie ein Gespenst aus einer anderen Welt erschien. Einer Welt, die mich immer tiefer in ihr Mysterium hineinzog, die mich in ihre Tunnel lockte und versprach, mir das Geheimnis von Tod und Leben zu enthüllen.
Nur eine Formsache, hatte der Chefarzt gesagt. Ich ging zu dem Gebäude, in dessen Keller vier Jahre vor meiner Geburt ganz formal die junge Sowjetmacht unschuldige Menschen getötet hatte, und ihr Blut war durch besondere Rinnen in das Abwasser meiner Heimatstadt geflossen. Zusammengepfercht in kleinen Räumen ohne Luft, mit einer grellen Lampe über ihren Köpfen, hatten sie entweder ihren Tod oder die Deportation nach Sibirien erwartet, ohne ihre Schuld zu kennen oder zu verstehen. So waren damals die Zeiten, Verbrechen waren an der Tagesordnung. Nur eine Formsache. Ich musste durch diesen Kreis der Hölle hindurchgehen. In Leningrad erwarteten mich neue wissenschaftliche Entdeckungen und ein freier Geist, den sich das geduckte, von der Macht erdrückte Riga nicht erlaubte.
Im Haus in der Friedrich-Engels-Straße führte mich ein gepflegter Herr in Zivilkleidung höflich in einen Raum, in dem es nur einen Tisch, eine Wasserkaraffe und ein Glas gab. Er begann ohne Umschweife.
Sie sind eine sehr begabte junge Ärztin, aber sie haben eine schwierige Biographie. Beantworten Sie meine Fragen kurz und verständlich.
Haben Sie jemals Ihren Vater getroffen?
Nein.
Wussten Sie, dass er ein Vaterlandsverräter war?
Nein.
Wenn Sie es gewusst hätten, hätten Sie ihn kontaktiert?
Nein.
Hat Ihre Mutter jemals von ihrem Bruder erzählt?
Nein.
Wussten Sie, dass er in London antisowjetische Propaganda und Hetze betrieb?
Nein.
Hätten Sie ihn gerne kennengelernt?
Nein.
Was genau haben Sie mit den folgenden Worten gemeint, die Sie an dem und dem Tag um die und die Uhrzeit in der Anatomie geäußert haben: „ich habe ihn noch nicht getroffen“? Wer ist dieser Er?
Gott.
Glauben Sie an Gott?
Nein.
Danke. Wir werden Ihren Chefarzt von unserer Entscheidung über Ihr Studium in Leningrad unterrichten.
Am Nachmittag rief mich der Chefarzt an und beglückwünschte mich zu meiner Fortbildung in Leningrad. Eine Stunde später mussten wir raus zum Hippodrom, das in blauen Flammen stand. Ich konnte noch alle möglichen Ampullen in meine Tasche werfen. Ich war aufgeregt, vor Ort habe ich mich anscheinend inadäquat verhalten, weshalb man mir eine Beruhigungsspritze gab. An Weiteres erinnere ich mich nicht.