Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 12
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Ich durfte meinen Traum verwirklichen: ich wurde zum Medizinstudium zugelassen. Dafür sorgten wohl eine Reihe glücklicher Zufälle sowie die Besessenheit, mit der ich die Medizin verfolgte. Das medizinische Institut wurde von der unsichtbaren Mafia einer Ärztedynastie beherrscht. Sie beruhte auf der Tradition einiger jüdischer Familien, die den Krieg überlebt hatten, Generation für Generation gute Ärzte hervorzubringen. Wer nicht dazu gehörte, hatte es schwer, hier Fuß zu fassen. Aber ich war schwer aufzuhalten.
Auf meinem Tisch zuhause stand der Schädel eines unbekannten Toten, den mein Stiefvater auf einem verlassenen Dorffriedhof ausgegraben hatte und der in diversen Flüssigkeiten gebadet wurde, bis er einen bläulichen Glanz bekam. Meine Mutter ertrug das alles heldenhaft und opferte sogar einen Topf aus ihrer Sammlung. Auge in Auge mit dem Schädel betete ich jeden Morgen und Abend das Knochen-Alphabet auf Lettisch und Lateinisch herunter. Das Keilbein, os sphenoidale; das Hinterhauptbein, os occipitale; das Schläfenbein, os temporale; das Scheitelbein, os parietale; das Stirnbein, os frontale; der Oberkiefer, maxilla; das Jochbein, os zygomaticum; das Gaumenbein, os palatinum; das Tränenbein, os lacrimale; das Nasenbein, os nasale; das Zungenbein, os hyoideum…
Mein bester Freund war Leichen-Martin aus der Anatomie. Für einen Schnaps ließ er mich auch nachts in die abgeschlossenen Räume. Er fischte mir aus dem Formalinbecken den benötigten Körperteil, und ich konnte dann stundenlang daran herumschnippeln, präparieren und nähen. Um das Rätsel des Lebens zu lösen, musste man das Rebus des Todes zu Hilfe nehmen. Der Mensch war als Einheit zu verstehen. Sein toter Körper war der Nährboden des Lebens. Man konnte sich auch auf den Standpunkt von Leichen-Martin stellen: tot ist tot.
Mein Eifer fiel dem alten jüdischen Professor auf. Er sagte, ich hätte einen für eine junge Frau untypischen Drang, die Geheimnisse des menschlichen Körpers zu erforschen. Er sagte, ich sei zu klug und das würde kein gutes Ende nehmen. Er sagte, ich müsse lernen, mein Leben von dem der Patienten zu trennen, und ich müsse lernen zu verstehen, dass der Schlüssel zu den Kammern des Lebens und des Todes nicht in meinen Händen läge. Dass es da noch etwas anderes gäbe. Eine Existenz, die man nicht erwähnen durfte. Der alte jüdische Professor hatte nichts mehr zu verlieren. Eine Abends, als er mich in der Anatomie über eine in einem weißen Metallbottich in Formalin schwimmende Gebärmutter gebeugt vorfand, fragte er mich: „Glauben Sie an Gott?“ Das war eine unerwartete Frage. Sie war schwer zu beantworten, hier, wo alles Göttliche im Material praktischer Erkenntnis verstummt war. „Es ist mir noch nicht gelungen, ihm zu begegnen“, sagte ich. Es ist mir noch nicht gelungen, ihm zu begegnen – diese Phrase kehrte einige Jahre später zu mir zurück, an einem Ort, den ich mein ganzes Leben im Gedächtnis behalten werde. Oder besser, mein Leben lang. Ein ganzes Leben klingt nach Dauer. Ich glaube nicht, dass mir ein ganzes Leben beschert sein wird.