Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 8
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Meine Mutter beschloss, nicht zurück zu blicken. Sie heiratet meinen Stiefvater, der mich adoptierte und wie sein eigenes Kind liebte. Wir sprachen nie über meinen wahren Vater. Meine Mutter erfuhr auch nie, dass ich meinen Vater über mehrere Jahre hinweg besuchte. Er war schwerkrank aus der Verbannung heimgekehrt und lebte unter unmenschlichen Bedingungen in einer Kammer in einer Gemeinschaftswohnung, in der es immer feucht war und der Fußboden mit Zeitungen ausgelegt wurde. Fast immer war er leicht oder schwer betrunken. Wenn er etwas nüchterner war, erinnerte er sich an seine Studienzeit, an seine Forschungen über jungen Wald, an seinen Widerwillen gegen Studentenverbindungen. Er erinnerte sich, dass seine Mutter ihn als Kind wie einen kleinen Herrn kleidete und ihn Jeannot nannte. „Du, meine Tochter, hast blaues Blut“, behauptete er, denn sein Vater sei ja nicht der Schuster in Dobele gewesen, den seine Mutter hatte heiraten müssen, sondern ein deutscher Baron. So war das. Mein Vater war nur einer in der schweigenden Legion derer, die sich nicht an die sowjetische Realität anzupassen vermochten. Die weder Breschnews noch Andropows Tod erlebten, weder Gorbatschow noch die singende Revolution, weder…
Berührt von Vaters Leiden, beschloss ich, Ärztin zu werden. Ich bin mir nicht sicher, dass ich ihn geliebt habe. Manchmal tat er mir leid, manchmal hasste ich ihn, denn ich spürte sein Selbstzerstörungsgen tief in mir stecken, spürte, dass es allmählich wachsen und stärker werden würde, und sah voraus, dass es mich besiegen würde. Wie sehr ich auch dagegen ankämpfen würde, es würde mich besiegen.
Ich erinnere mich gut an Vaters Todestag. Ein Nachbarin machte die Tür zur Gemeinschaftswohnung auf. Sie war eine herzliche jüdische Dame und hatte mich oft mit Kringeln aus der jüdischen Küche verwöhnt, die mit einer braunen, etwas zähen Glasur überzogen waren. Sie nahm mich liebevoll in den Arm, presste mich an ihr weiches Häkeltuch und schluchzte leise. Dann nahm sie mich an die Hand und wir gingen in Vaters Kammer. Dort lag er – ausgemergelt, mit halb geöffnetem Mund. Die Nachbarn hatten erst am zweiten Tag, nachdem er zu atmen aufgehört hatte, die Tür eingeschlagen.
Auf der fleckigen Couch und überall unter ihm lagen Zeitungen, aus denen uns die Gesichter froher Arbeiter und gerahmter Politbüromitglieder entgegenblickten. Er lag zwischen Texten, die den Fünfjahresplan in einem Jahr versprachen und die hohe hehre Moral des Kommunismus priesen, Texten, die dazu aufriefen, neue Städte in den großen Weiten zu bauen (wo Tausende unschuldig Gestorbene lagerten, die das Wesen ihres Vergehens so auch nicht erfuhren), zwischen Texten, die dazu aufriefen, die Ströme der Flüsse umzulenken, in Kirchen Dünger zu lagern und das Erbe der Vergangenheit in Büchern und Kunstwerken auszulöschen.
So lag er dort, einer von vielen, er hatte still kapituliert und war in einer Ecke gestorben, denn er vermochte nicht gegen die Epoche zu kämpfen, war unfähig zu vergessen, sich anzupassen, körperliche, geistige Erniedrigungen zu schlucken, Schande, Entehrung, Enttäuschung. Schuldlos schuldig. Auf die Müllhalde der Epoche geworfen. Höchstwahrscheinlich wurde er in einem Sammelgrab für Obdachlose am Stadtrand beerdigt. Meine Mutter fragte nie danach und erfuhr nie von seinem Tod. Sie schützte ihr neues Leben und versuchte, auch mich darin zu beschützen.