Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 4
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An den 22. Oktober 1944 erinnere ich mich nicht. Doch ich stelle ihn mir vor. Riga frisch befreit von den Hitlerdeutschen. Bei den Bombenexplosionen sind die Fenster der Frauenklinik zersprungen, es ist feucht und kalt, und die Frauen, die gerade entbunden haben, wickeln sich hilflos in ihre blutigen Laken. Übermüdete Schwesternhelferinnen trinken Hochprozentiges und wickeln tote Säuglinge in Päckchen ein. Es grassiert eine Seuche, die allgemein Nasentyphus genannt wird. Jammern und Weinen ist zu hören, Bomben pfeifen durch die Luft, und durch das Fenster dringt Brandgeruch. Meine Mutter hat mich heimlich aus der Säuglingsstation geholt. Sie hat mich an sich gewickelt und pumpt mir ihre Milch in die Nase. Aus meinem Näschen läuft eine Mischung aus Eiter, Milch und Blut. Ich würge und atme, würge und atme.
Und dann plötzlich Ruhe und Frieden. Ein Pferdchen zieht einen Wagen über einen sonnigen, herbstlichen Weg von Riga nach Babīte. Mein Vater hält den Wagen mehrmals an, damit meine Mutter mich stillen kann. Ich würge nicht mehr, atme ruhig und sauge gierig Mutters Milch. Wir haben ein schönes Haus in der Oberförsterei von Babīte, es gibt dort kaum Möbel, auch keine Wiege, aber meine Mutter bereitet mir ein Bett in einem großen Koffer.
Jeden Morgen schaut mein Vater nach den Tannen in seiner Baumschule. So geht das bis Weihnachten, als plötzlich ein Lastwagen mit Soldaten in die Försterei fährt. Sie schreien herum in einer Sprache, die meine Eltern nicht verstehen. Die Soldaten springen vom Wagen und fangen an, die jungen Tannen zu fällen. Mein Vater läuft aus dem Haus, vorher schließt er noch meine Mutter im Dachzimmer ein, wo sie mich im Koffer versteckt, in den sie zuvor Löcher gebohrt hat, damit ich atmen kann. Mein Vater schreit: „Ihr Halunken, ihr Halunken!“ und versucht, die Tannen zu retten. Sie schlagen ihn blutig und werfen ihn zusammen mit den gefällten Bäumen auf den Lastwagen. Die Rotte zieht fluchend durch das Haus, hämmert an alle Türen. Meine Mutter sitzt mit angehaltenem Atem im verschlossenen Dachzimmer im Schrank, auf den Knien hält sie den Koffer, in dem ich atme. Der Lärm ist schrecklich, sie demolieren das Haus. Bis alles still ist und man nur noch ein Geknatter hört, als der Lastwagen abfährt.
Gegen Morgen klettert meine Mutter aus dem Schrank. Sie stillt mich, bindet mich an sich, zieht eine dicke Schicht Kleidung an und geht zu Fuß zurück nach Riga. Erst am späten Abend erreichen wir die Tomsons-Straße, die bald darauf nach Mitschurin umbenannt wird, und die Wohnung Nummer dreizehn. Meine Mutter ist todmüde, aber sie muss noch die von den Bomben zerschlagenen Fenster zukleben, sonst erfrieren wir beide.