Читать книгу Muttermilch - Nora Ikstena - Страница 7

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Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter mich jemals zur Schule gebracht oder von der Schule abgeholt hätte. Das tat immer ihr Stiefvater, der sie adoptiert hatte. Wir gingen die nach dem russischen Klassiker Gorki benannte Straße entlang, ein leichter Wind wehte von der Straße des französischen Schriftstellers Barbusse eine Mischung aus Hopfen- und Schokoladengerüchen herbei. Das kündigte von Frieden und Zuhause. Es war nur ein kurzer Weg, ein Streifen Zeit im Raum der Geschichte. Irgendwo weit weg, in einer unerreichbaren geographischen Zone, desertierte jemand aus dem Vietnamkrieg und verdarb sich damit das Leben unter mustergültigen amerikanischen Gastgebern und Gastgeberinnen, die sich von Blumenkindern, Drogen und Rock ‚n‘ Roll abwandte. Irgendwo weit weg lag jemand in der sibirischen Weite unter dem Gras, jemand verbüßte noch seine Strafe für den Verrat am Volk, doch ein anderer war zurückgekehrt, um den Alltag für die ihm noch bestimmte Zeit schweigend zu ertragen. Irgendwo nicht ganz so fern lebte jemand ein alternatives Leben: las verbotene Bücher im Samisdat, trank Wodka und träumte vom freien Westen, der wie eine Fata Morgana hinter dem Eisernen Vorhang in der Luft schwebte. Aber hier in der Nähe lebten die Menschen ihren Alltag. Standen am Morgen auf, arbeiteten, legten sich schlafen. Verliebten sich, machten Kinder, lebten, starben.

Ich hatte keine Angst vor den Amerikanern, ich fürchtete mich weder vor Onkel Sam noch vor einem Atomkrieg. Ich hatte Angst vor meiner Mutter. Manchmal wurde sie von einer satanischen Macht befallen, die aus ihr hervorbrach und alles um sie herum vernichtete, insbesondere die Liebe ihrer Nächsten. Dann hasste sie ihre Mutter, hasste noch mehr ihren Vater und hasste die Tatsache ihrer eigenen Geburt. Sie schloss sich im Klo ein und heulte, und der lange Flur, an dessen Ende ich stand und durch den dies Heulen drang, das meine Kinderknochen zum Zittern brachte, war Ausdruck eines endlosen, unerklärlichen Hasses auf ein Leiden, das ich noch nicht verstand, auf die Ungerechtigkeit des Schicksals, auf die Gier nach Leben, in dem sich das Licht der Existenz wie in einem dunklen Tunnel in einem grausigen Strudel der Vergänglichkeit drehte.

Dann wieder wurden die Momente der Dunkelheit von seltenen kleinen Lichtflecken abgelöst. Wir saßen im Wohnzimmer am offenen Fenster, durch das Essensgeruch und Kindergeschrei drangen. Meine Mutter zeichnete mit Buntstiften auf ein großes Blatt Papier, wie ein Baby auf die Welt kam. Ich saß auf ihrem Schoß und hatte keine Angst. Zuerst zeichnete sie ein lächelndes Baby im Bauch der Mama, dann zeichnete sie den Kopf des Babys, der gerade zwischen den Beinen der Mama herausgeglitten war, und die Grimasse auf seinem Gesichtchen zeugte von dem Leiden und dem Schrecken, die es hier erwarteten. Dann zeichnete sie Mama und Kind mit der Nabelschnur zwischen sich, sie schienen sich an der Hand zu halten und fröhlich zu tanzen. Dann zeichnete sie noch die Schere, die die Nabelschnur durchschnitt. Und dann zeichnete sie die Mama, die ihr Kindchen im Arm hielt und es mit sanften, aber zugleich erschreckten Augen betrachtete. Ich folgte den Bewegungen ihrer Hand, den Zügen des Stifts. Ihre Hand war klein und weiß, die Nägel abgebrochen, die Haut in der Handfläche trocken und aufgerissen vom ewigen Talkum, den sie in die Gummihandschuhe schütten musste. Ich saß auf Mamas Schoß, ich hatte keine Angst, und ich beugte mich nieder und schmiegte meine Wange in ihre Hand.

Muttermilch

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