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Niemand ist dumm

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Es gibt noch einen zweiten Effekt, den man in diesem Zusammenhang beobachten kann. Dieser wurde mir bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in Österreich im Mai 2019 erst richtig bewusst. Eine Woche zuvor hatten »Süddeutsche Zeitung« und »Spiegel Online« das sogenannte Ibiza-Video veröffentlicht, das einen handfesten politischen Skandal in Österreich auslöste. In diesem Video waren der ehemalige Vizekanzler und damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus, damaliger FPÖ-Klubobmann und Nationalratsabgeordneter, zu sehen. Die beiden wurden von der vermeintlichen Nichte eines russischen Oligarchen in eine Villa auf Ibiza eingeladen. In einer bestimmten Sequenz des Videos erkennt man die eindeutige Bereitschaft zur Korruption, die Absicht, unabhängige Medien für eigene Propaganda zu erwerben und zu instrumentalisieren, und Strategien, wie man die Gesetze zur Parteifinanzierung umgehen könnte. Noch bevor die Ibiza-Bombe platzte und Heinz-Christian Strache infolge der Affäre von allen Ämtern zurücktrat, wurde er in einer symbolischen Geste für die bevorstehende EU-Wahl auf Platz 42, den letzten Platz der freiheitlichen Liste, gereiht. Auch nach seinem Rücktritt änderte sich, da es rechtlich nicht möglich war, nichts mehr an seiner Position auf dieser Liste.

Was dann passierte, ist nur schwer zu verstehen: Heinz-Christian Strache erhielt bei der EU-Wahl 44 751 Vorzugsstimmen, und das, nachdem das Ibiza-Video bereits eine Woche lang bekannt war! Fernsehen, Radio und soziale Medien berichteten immer wieder ausführlich darüber. Es gab, selbst in der FPÖ, niemanden, der das Ganze verteidigte oder für gut befunden hätte. Ganz anders sahen es scheinbar Straches Stammwähler. Ich frage mich heute noch: Was motivierte 44 751 Menschen dazu, diesem Mann nach diesen öffentlich gemachten Entgleisungen eine Vorzugsstimme zu geben? Hatten sie das Video vielleicht nicht gesehen? Möglicherweise nicht – oder sie wollten es einfach nicht wahrhaben. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, und man besser vor bestimmten Dingen die Augen verschließt, um in der eigenen, bequemen Meinungsblase verweilen zu können. Mit ziemlicher Sicherheit hat in dieser Woche der »Aufpasser« im Gehirn der Stammwähler Alarm geschlagen. Politische Meinungen lassen sich selbst in solch krassen Fällen kaum ändern. Darüber hinaus kommt hier noch ein Zusatzfaktor ins Spiel – der »Backfire-Effekt«. Dieser verstärkt die ursprünglichen Ansichten sogar, auch wenn die vielen öffentlich gemachten Fakten und Beweise eher das Gegenteil erwarten ließen. Wäre dieser Effekt mit reiner Parteipropaganda ebenfalls erreicht worden? Ich denke nicht.

In einer solchen Situation sind wir alle aufgerufen, besonders achtsam zu sein und nicht vorschnell zu urteilen. Denn man läuft sehr schnell Gefahr, Menschen wie jene, die Strache trotz alledem ihre Vorzugsstimme gegeben haben, als »dumm« zu bezeichnen. Doch es sind genau diese Aussagen, die den Spalt in unserer Gesellschaft immer weiter vergrößern. Für die meisten von uns ist es vermutlich kaum nachvollziehbar, wie es zu diesem hohen Stimmenanteil für Strache kommen konnte. Umso wichtiger, dass wir uns darum bemühen, die Gründe für ein solches Verhalten zu verstehen. Ich möchte Ihnen, liebe Leserinnen und liebe Leser, in diesem Buch die entsprechenden Einsichten und Werkzeuge dafür an die Hand geben.

Die große Frage dabei: Wenn es also nicht möglich ist, festgefügte Ansichten zu ändern, wie wir es bei den Wählern von Strache und auch bei den Anhängern der Flat-Earth-Theorie gesehen haben – welche Möglichkeiten und Instrumente haben dann politische Kräfte im Parlament, die Gegenseite zu überzeugen? Gibt es da überhaupt eine Chance auf Erfolg? Welche Chance hat dann der Austausch von Argumenten in Sachen Klimakrise – ebenfalls ein emotionales Hochspannungsthema?

Der Backfire-Effekt und die Erkenntnisse von Kaplan, Gimbel und Harris gelten auch für die Funktionäre von Parteien und die Verantwortlichen in Unternehmen. Wenn Sie schon einmal Abgeordnete im Fernsehen beobachtet haben, wird Ihnen schnell klar geworden sein, dass diese nicht angetreten sind, um ihre Meinung eventuell auch einmal zu ändern. Schade eigentlich – Politik als Wettbewerb der besten Ideen ist doch eine schöne Wunschvorstellung! Davon sind wir aber weit entfernt. Ganz im Gegenteil, in den Parlamenten kochen doch fast immer nur die Emotionen hoch. Ich habe oft den Eindruck, dass der ideologische Wächter im Gehirn von Abgeordneten schon in dem Moment aktiv wird, in dem sie durch die Tür des Parlamentsgebäudes gehen. Wie oft müssen dann die Vorsitzenden scharfe Ordnungsrufe erteilen und Abgeordnete verwarnen! Leider geht es bei den erhitzten Debatten im präfrontalen Cortex der Parlamentarier ziemlich rund. Und dem staunenden, politisch interessierten Zuseher wird klar, wie sehr jeder auf seiner Seite der Debatte gefangen ist und warum die Positionen verhärtet bleiben.

Mit unseren Überzeugungen, Weltbildern und Glaubenssätzen, nach denen wir alles ausrichten, haben wir unseren vermeintlichen Platz in der Welt gefunden. Wird nun von außen Druck auf diese Ordnung ausgeübt, dann kommt unser bequemer und vertrauter Ablauf gehörig ins Wanken. Unser Hirn strebt nach jener Sicherheit und Stabilität, die wir brauchen, um die alltäglichen Herausforderungen des Lebens zu meistern. Und da unsere Glaubenssätze meist aufeinander aufbauen, kommt ein Angriff auf einen einzelnen Aspekt schnell einem Angriff auf das gesamte Gefüge gleich.

Vor emotionalen Prozessen im Gehirn ist niemand gefeit. Auch mein Gefüge kam schon öfter gehörig ins Wanken. Ich bin im Jahr 2010 den Toastmasters, einer internationalen Rhetorikorganisation mit weltweit 16 400 Clubs, beigetreten. Dort erlernte ich mein Redner-Handwerkszeug und hielt dann beinahe jede Woche eine Rede in einem anderen Rhetorikclub. Meine Vorbilder in puncto Rhetorik waren ausschließlich Mitglieder dieser Organisation. Ich wollte nicht mal mehr in eine Stadt ziehen, in der es keinen Toastmasters-Club gab, also habe ich kurzerhand selbst einen gegründet, die »Blue Danube Speakers« in Linz. Mein Herz brannte für diesen Club, und ich zeigte dort mit Begeisterung den Neumitgliedern die ersten Schritte zu einem gelungenen Toastmasters-Vortrag. Ich habe keine der europäischen Konferenzen ausfallen lassen, denn die Organisation war für mich wie eine Familie. Ich war sicher: Ich befand mich auf dem Weg zur Rhetorikspitze und hielt auf diesen Konferenzen voller Überzeugung selbst mehrere Rhetorik-Workshops.

Doch 2015 änderte sich alles. Ich bekam von meinem geschätzten Speaker-Kollegen Michael Rossié von der German Speakers Association (GSA) Feedback zu meinem aktuellen Vortrag: »Deine Reden wirken wie klassische Toastmasters-Reden.« Er meinte damit die typischen Toastmasters-Gesten und Stilelemente und den Toastmasters-Grundtenor in meiner Rede, die ich – auch nach den Regeln der Gemeinschaft – so gut wie auswendig gelernt hatte. Ich verstand in diesem Moment instinktiv, dass Michaels Feedback kein Kompliment war.

Dialog statt Spaltung!

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