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10. Den selben Tag, 13.30

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Seine Omegauhr tickte kaum neunzig Minuten runter, für Dora war es eine Ewigkeit. Die ganze Zeit benahm sich Milan unzurechnungsfähig. Er hat die beiden gezwungen, bei laufendem Motor im Wagen zu sitzen, der auf dem baumlosen Betonparkplatz wie ein Ofen glühte, nur weil man von dort die Schranke sehen konnte. Der zweite Zöllner verschwand und kam gleich wieder, die Schranke hob sich und sank, wie es Milan nicht brauchen konnte. Er hatte den Fuß unentwegt auf dem Gaspedal wie am Start, schaltete die Kupplung ein und aus. Er fluchte dabei hemmungslos, doch wagte Dora es nicht, ihn zu maßregeln. Sie hat sich damit abgefunden, daß Petřík ein traumatischer Tag bevorsteht, und hoffte nur, daß dieser von künftigen Erlebnissen aus dem Gedächtnis des Kindes gelöscht werde.

Die Grenze verlief hier durch eine Gebirgslandschaft, die gleich hinter dem Schlagbaum aufzuhören schien; die abgefertigten Autos versanken sofort unter dem Horizont, die anrollenden tauchten schlagartig auf. Von Österreich waren nur entfernte Hügelscheitel zu sehen, als wollte sich ihr Ziel vor ihnen verstecken. Das, spürte Dora, deprimierte ihn am meisten. Obwohl selbst launisch und unberechenbar, unverständlich oft sich selbst, brachte ihn die kleinste Irrationalität aus dem Gleichgewicht. Das erste entschuldigte sie mit seinem Beruf, sie hat sich mit den Jahren davon überzeugt, daß Schauspielerei sich in einem bestimmten Arbeitsstadium in eine Art Schizophrenie verwandelt. Das zweite störte sie mehr und mehr, denn von ihm, der sich in so viele erdichtete Schicksale eingefühlt hatte, erwartete sie ein wenig Verständnis für die echten.

Mehr als seine Seitensprünge, die sie für eine Art Geistesverwirrung gehalten hatte, für ihre Ehe nie wirklich bedrohlich, verletzte sie seine Gefühllosigkeit, ja seine Brutalität, mit der er sie anzugreifen pflegte, wann immer er tief im Unrecht war. Langsam kam sie dahinter, daß selbst diese Rüpelhaftigkeit nur eine Art Fieber ist, das im Körper Schadstoffe liquidiert, eine Art Siedepunkt, bei dem im Wasser Bakterien getötet werden. Wenn er genug getobt und früher sogar vor Wut etwas zertrümmert hatte, entschuldigte er sich und tat Buße, versprach goldene Berge und das Blaue vom Himmel.

Mit seiner Kaputtschmeißerei hörte er erst auf, als sie einmal in ihrer Verzweiflung dagegen ein Mittel fand. Er zerschlug zwar, war ihr aufgefallen, was ihm unter die Hand kam, doch selbst in anscheinend blinder Rage wählte er immer einen ersetzbaren Gegenstand, meist aus dem Zwiebelmusterservice, das schlimmstenfalls im Devisenladen nachzukaufen war. Und so, als er wieder auf dem Höhepunkt eines wilden Auftritts die blauweiße Platte mit dem Rest eines Baiserkuchens zertrümmert hatte, griff sie nach der uralten dreistöckigen Pralinenetagere aus dem rosaweißen Karlsbader Überfang, die sie selbst ungemein mochte, und führte das gleiche Theater auf.

Danach wurde ihr mordsübel, und sie erwartete, er würde sie zum erstenmal schlagen, aber in seinen Augen war nur kindliches Staunen, er war sprachlos, versteinert. Dann schoß er aus dem Zimmer, doch die Außentür hat nicht geknallt, er kam mit der Schaufel zurück und begann die Scherben zu beseitigen. Also holte sie den Eimer voll heißen Wassers und putzte mit dem Lappen das Baiser samt Johannisbeeren vom Teppich. Schweigend führten sie das Werk gemeinsam zu Ende und fingen zu reden an, als wäre nichts passiert. Seit diesem Tag hat er nie mehr etwas zerschlagen.

Damals hat sie die Medizin gegen seinen Jähzorn zum ersten- und zum letztenmal gefunden. Dieser hat seine schärfsten Kanten verloren, doch die verbalen Ausfälle dauerten um so länger an. Sie haben sich von einem Tag auf den anderen gelegt, als er sich entschieden hatte, aus der Heimat fortzugehen, was sie vor allem anderen mit dieser Absicht versöhnte. Sie glaubte, er spare jedes Quentchen Energie für das Ringen, das draußen hauptsächlich ihn erwartete.

Wenn sie und Petřík jetzt wieder im Kraftfeld seines Zorns gefangen saßen, um so aufreibender, je weniger er an ihrer Lage etwas ändern konnte, hat sie sich erstmals die Frage gestellt, ob sich an ihrem Schicksal «dort» etwas bessern würde. Gewiß, er ließ hier den Ballast zurück, der ihnen Leben und Liebe verdorben hatte, an erster Stelle «den Bolschewisten», wie er für sich die ganze politische Geschwulst vereinfachend nannte, wozu alles gehörte, von dem «Kotz» der Regimeautoren, die er spielen mußte, bis zu dem «Scheiß» der Staatsjournalisten, in den er sich dann so unglücklich eingetunkt hatte, als auch die endlosen Konflikte mit Doras Mutter und dazu noch die Prozession von Weibern zwischen fünfzehn und fünfzig, von der Gier befallen, mit Hamlet oder Fürst Myschkin und weitaus lieber noch mit dem widerlichen Jago zu schlafen, was offensichtlich auch einigen gelungen war...

Nur, da war der Haken: Was er nicht dalassen konnte bei dem riskanten Versuch, die ihm verweigerte Ehre und Freiheit anderswo zu erlangen, war sein Charakter. Wenn sie jetzt von neuem erlebte, wie er sich völlig gehenließ und dem gefährlichen Punkt näher kam, wo er nicht mehr wußte, was er tat, fröstelte sie bei der Erkenntnis, daß er sein Hauptproblem mit sich schleppt, in sich, wie eine Krebszelle, die jederzeit weiterwuchern kann, und wer wird das ausbaden? Immer nur...

«Papa», ließ sich Petřík plötzlich vernehmen, «wann fahren wir...?»

O nein! Es hat Dora weh getan, er wählte heute für das Wiederfinden der Sprache die schlimmsten Momente! Da schrie der Schauspieler bereits.

«Halt die Klappe! Du hältst sie doch das ganze Jahr über, also halt sie auch jetzt, oder ich setz dich hinaus, und du darfst da brabbeln bis zum Sterbetag!»

Da brauste auch Dora auf, doch ehe es ihr gelang, die Tür aufzumachen und das arme Kind von hinten rauszuholen, damit er mit sich alleine schimpfe und fahre bis ans Ende der Welt, schrie er schon wieder.

«Los geht’s!»

Der Motor lief immer noch, er legte den Gang ein und gab mächtig Gas. Vor dem Schlagbaum stand nur ein einziges Auto und ein einziger Zöllner.

«Haltet euch fest!» befahl er verspätet, «ich fahre bis hinter den Wagen und breche gleich mit ihm auf!»

Der vorangegangenen Szene war er sich offensichtlich überhaupt nicht bewußt, und Dora wünschte sich nichts mehr, als endlich mal drüben zu sein.

«Petřík», wiederholte sie sanft, damit der verstörte Junge es begriff, «halt dich, wie du kannst, es wird nochmals einen Ruck tun!»

Der Schauspieler bremste, um noch im Fahren den Augenblick zu erwischen, wenn der Österreicher vor ihm, der soeben seinen Paß zurückbekam, losstartet. Der Schlagbaum hob sich, und der Zöllner stand auf dem Bordstein, es muß klappen! war sich Milan ebenso sicher wie bei einem Bühnenauftritt.

«Noch eh der Jugo kapiert, daß ich nicht anhalte, bin ich durch!»

Er weiß nicht einmal, daß er laut denkt, begriff Dora. Da brüllte er schon wieder.

«Mach doch, Idiot!»

Wider Erwarten blieb der Vordermann stehen und fing mit dem Zöllner zu ratschen an. Milan fuhr schon im Schrittempo.

«Fahr in den Arsch! Mir kommt die Scheiße hoch!»

Der Schuft und Schurke, wie er ihn beschimpfte, regte sich nicht. Sie mußten hinter ihm anhalten, und Dora riskierte jetzt, Milan in eine noch größere Raserei zu bringen, doch ihre Angst um Petřík war stärker: Sie lehnte sich nach hinten und zog ihn an sich. Er zitterte am ganzen Körper. Es soll ein Ende nehmen! flehte Dora das Schicksal an. Und es hat sie erhört, wenn auch auf ganz andere Weise als erhofft.

Überraschend setzte sich der vordere Wagen in Bewegung. Der Zöllner ging auf sie zu.

«Jetzt!» befahl sich der Schauspieler selbst, krümmte den Buckel, wie er es in seiner Jugend beim Skispringen tat, und trat das Gaspedal bis zum Boden durch.

Der Škoda stand.

«Was soll das...?» stotterte er verwirrt, bis ihm klar war: Der Motor war gestorben.

Das Auto vor ihm befand sich noch unter der Schranke. Er startete. Nichts. Noch einmal. Nichts. Der andere fuhr bereits in das Tal hinunter, das man von hier schon sehen konnte. Hinter dem österreichischen Zollamt flatterten bunte Fahnen einer Tankstelle wie vor einem Zirkus. Dora sah, wie Milan der Schweiß über Stirn und Nase rann. Der Anlasser lud mit Gequietsche die Batterie leer, der Motor sprang nicht an. Entsetzen übertrug sich auch auf sie.

Dann begann der Schlagbaum zu sinken, hinter ihnen hat sich plötzlich ein halbes Dutzend Autos eingefunden, und aus dem Gebäude tauchte der zweite Mann auf. Der erste stand vor ihnen, freundliches Interesse in den Augen. Er hob den Zeigefinger, als wollte er sich zu Wort melden, beugte sich nach unten und pferchte den Kopf in das Fahrerfenster. Er schaute kurz auf das Armaturenbrett, nickte zufrieden und rückte mit des Rätsels Lösung heraus.

«Nema sprita...» und er wiederholte es deutsch, «kein Benzin!»

Milan sah aus, als würde er in Ohnmacht fallen. Jetzt hatte Dora Angst um ihn. Der Uniformierte besänftigte ihn.

«Macht nichts! Ich Ihre Pässe...» er führte das Stempeln vor und zeigte auf den Kollegen, der an ihnen vorbei auf den nächsten Wagen zuging, «wir dann beide...» er ahmte das Schieben bergab zur Tankstelle nach und streckte die Hand nach den Dokumenten aus.

Dora reichte sie ihm, in der grünen Verkleidung und mit dem eingelegten Hundertmarkschein. Das Schicksal nahm die Gestalt eines Feschaks mit Schnurrbart an. Als Zugabe lächelte sie ihn an, so bezaubernd, wie es ihr unter diesen Umständen gelang. Er strahlte auf, doch sein Genosse kehrte plötzlich zurück, nahm aus der Tasche einen Zettel, trat vor den Škoda. Kein Zweifel, daß ihn das Kennzeichen interessierte.

Die Hoffnung stirbt als letztes, war Milans Devise. Die seine lag im Sterben! Dora nährte ihr Flämmchen: Sie versuchte nun auch, mit dem zweiten zu kokettieren. Ein Blick des Ekels traf sie. Ob er, mit Milan gesagt, ein Supersaubolschewist war oder einfach ein Schwuler, sie durfte auf das Schlimmste gefaßt sein. Er nahm dem ersten die Pässe ab und führte ihm wie ein Schullehrer ihr graues Innenleben vor.

«Steigen Sie aus!» befahl er Dora spöttisch, und als sie verblüfft gehorchte, sogar Petřík im Wagen zurücklassend, wandte er sich zum Fahrer, «gehen Sie in den Leerlauf, wir schieben Sie zurück!»

Er bedeutete den Glückspilzen dahinter zurückzusetzen, um dem Škoda Platz zu machen. Die Hoffnung wurde unwiderruflich zu Grabe getragen.

Ende der großen Ferien

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