Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 33
1. Die vier Zufallsvereinten
ОглавлениеSie kamen sich sorglos und frei von Verpflichtungen vor, wie auf einem Schulausflug oder vielmehr beim Schulschwänzen.
Sie stiegen aus dem Minibus, als eine unsichtbare Turmuhr Mitternacht schlug. Wie in ihnen die Feder der Erregung nachließ, die sie lange Stunden angetrieben hatte, so nahmen sie nicht wahr, daß bereits der erste volle Tag in ihrem neuen Leben anbrach.
Die Eingangshalle des Kasinos, die sie aus einem niedlichen Park betraten, war nüchtern. Außer einer runden Sitzgruppe stand dort nur ein Empfangspult, an dem man gerade eine Gruppe malerisch bekleideter Afrikaner bediente. Gleichzeitig nahm ein unbekanntes Summen ihre Aufmerksamkeit gefangen. Erst als sie zu den verglasten Schiebetüren aufsahen, die als Kontrollschleuse und Schaufenster der riesigen Spielstätte dienten, erkannten sie die vielschichtige, durch den Raum gedämpfte Stimme einer Menschenmasse.
Das Kasino begeisterte sie durch seine Farbtönung, in durchdachter Harmonie mischten sich hier alle Schattierungen von Braun: auf den bemalten oder vielleicht geätzten hohen Fenstern, auf den Holzverschalungen der Wände, auf den Teppichen, Vorhängen und Bezügen; mit dem Braun harmonierte das Messing der Beleuchtungskörper und der Klinken und auch die gelblichen Ovale des Lichts aus den niedrighängenden Lampen, die aus dem Dämmerlicht die Spieltische ausschnitten. In dem riesigen Saal fand beinahe keine Bewegung statt. Zu den Tischen schienen sich Gruppen von Figurinen niederzubeugen, und über ihnen stieg ein Nebel aus Zigarettendunst empor.
Jeder der vier Tschechen empfand etwas anderes.
Der Zauberer und Koch: Dreißig Jahre habe ich auf dich gewartet, mein geliebtes Kügelchen!
Die Verkäuferin: Von all diesen Knackern muß doch wenigstens einer ein geschicktes tschechisches Mädel suchen.
Der Gärtner: Ist das die Welt, in der wir gemeinsam leben sollen...?
Die Pianistin: Christopher... Was macht jetzt Johann Christopher?
Es war für sie kaum noch vorstellbar, daß sie hier einmal mit jenem kraushaarigen Wirrkopf stand, der hier sein ganzes Gehalt gelassen haben würde, hätte sie ihm nicht gedroht, er würde sie dann nie mehr sehen. Er pflegte leidenschaftlich zu verlieren, um ihr zu beweisen, daß das Schicksal ihm allein das Glück in der Liebe gönnt, und sie hat sich dabei ertappt, wie sehr sie dadurch erregt wurde. Sein Gehalt vom Radio war übrigens für ihn nur ein Zubrot zu den Zinsen aus dem ererbten Familienkapital. Neben dem Altersunterschied warnte sie auch sein Reichtum, aus der Literatur kannte sie nur das schlimme Ende ähnlicher Typen... der Altersunterschied? was würdest du, mein lockiges Christöphchen, dazu sagen, würdest du mich jetzt hier, zehn Jahre älter, mit einem um fünfzehn Sternenjahre jüngeren Liebhaber sehen? Sie seufzte.
«Bist du müde?» hörte sie ihn sagen, «wir haben doch genug für ein Hotel.»
«Nein, nein!» sie war ihm dankbar für seine Fürsorge, doch wollte sie heute nicht allein zwischen vier Wänden sein, «ich bin froh», rechtzeitig ließ sie das Wörtchen «wieder» weg, «hier zu sein! Wie eine Zäsur, eine Pause ist das, weißt du, zwischen der einen und der anderen Welt.»
«Halli, hallo», befahl energisch ihr selbsternannter Führer, der sich hier inzwischen orientiert hatte, «alle Mann mir nach, Herrschaften gehen wir’s an!» Er zeigte auf das Pult, das die Exoten gerade verließen.
Die Verkäuferin riß ihre Augen von dem nie gesehenen lebenden Bild im Kasino los und staunte nun die üppig befransten Burnusse an. Die Frau in ihr lehnte sich auf, als sie auf das eigene leinene Complet zeigte; daß es in Budweis ein «Importstück» war, half ihr hier wenig.
«Kann ich denn so gehen?»
«Eine echte Dame», sagte der Zauberer, «darf heute auch in einem Kartoffelsack herumlaufen, falls sie dazu eine Nobelmiene trägt, und um uns Herren», er zeigte auf seinen offenen Kragen, «muß man sich doch bemühen, wenn man unseren Kies will.»
«Sie haben sich damit gebrüstet, hier die Bank zu sprengen», maunzte das Mädchen.
«Pst, das dürfen die doch nicht ahnen!»
Er trat zum Pult, wo er von zwei schwarzgekleideten Jünglingen, die Uniform der hiesigen Angestellten, mißtrauisch beäugt wurde.
«Viermal», befahl er und streckte dazu noch vier Finger hoch, als bestellte er in einer Kneipe eine Runde. Eine weitere Abkühlung der Geschäftsbeziehungen trat dadurch ein.
«Flüchtlinge?» fragte der ältere der jungen Männer.
«Warum denn?» antwortete Strniště mit einer Frage.
«Flüchtlingen wird der Besuch hier nicht empfohlen», erklärte der jüngere Jüngling.
«Und zwar warum?»
«Es ist nicht der Sinn der Unterstützung für Asylbewerber, daß man sie hier verspielt.»
«Sehr vernünftig», sagte er, «ich beabsichtige aber, hier zu gewinnen.»
«Wir bedauern, doch...»
Die Pianistin wurde wütend. Sie versöhnte sich bereits damit, daß sie in der Nacht nicht im Lager aufgenommen wurden, doch hier war sie einst gewissermaßen als Königin aufgetreten und wollte nun nicht wie ein lästiges Insekt verscheucht werden.
«Ist das eine Empfehlung oder ein Verbot?»
Beide Empfangsleute schauten sie genauer an und wurden milder.
«Eine Empfehlung», sagte der Ältere, «doch wir richten uns nach ihr, wir haben hier schon Tragödien erlebt.»
«Was sagt er?» fragte der Gärtner.
Der Antwort hat Strniště wahrhaft wie ein Zauberer vorgegriffen. In der Hand, vor einem Augenblick noch leer, hielt er ein grünes Büchlein und sagte höflich.
«Der Irrtum besteht nur darin, daß wir ordentliche Bürger der Tschechoslowakischen und obendrein noch Sozialistischen Republik sind. Ist auch denen hier der Zutritt verboten?»
Verlegen haben sie darin geblättert. Strniště wandte sich seinem Häuflein zu.
«Bemühen Sie sich bitte, auch Ihre Pässe vorzuzeigen, damit sie uns zum letztenmal von Nutzen sind. Und du», ordnete er ähnlich unverbindlich Bobina an, «verdünnisiere dich auf zwei Nullen!»
«Wie...» sie begriff nicht.
«So, die Richtung, in die dein Hintern zeigt, und dann links, ich kann es dir jetzt nicht zeigen, schleich dich dann einfach nach, danke!» dies galt bereits dem Paar, das ihm seine Papiere wiedergegeben hatte.
Die Wachsamkeit der Jünglinge zerstreute sich, das Mißtrauen noch nicht.
«Bei uns wird nur in Gesellschaftskleidung gespielt.»
Der Zauberer zeigte spöttisch in den Spielraum. An der Kasse hinter der Tür wechselte eine Männerschar in amerikanisch schrillen Sakkos Geld ein.
«Sehen wir da nicht besser aus?»
«Die Herren tragen Krawatten.»
«In jedem guten Kasino dieser Welt», sagte er bedeutungsvoll, «hat man mir einen Schlips geliehen.»
Ein zweitesmal versuchten sie, die Oberhand zu gewinnen.
«Hier wird nur um harte Währung gespielt.»
«Schillinge?»
Es klang enttäuscht und für sie endlich wie der Punkt hinter diesem Auftritt. Sie beugten sich bereits über irgendwelche Papiere, als er sie endgültig fertigmachte.
«Und keine Mark?»
«Nur westliche.»
«Aha. Und Fränkli?»
«Die auch.»
«Und Pfund. Ich meine das englische?»
«Natürlich», das klang bereits gereizt.
«Und Dollars. Ich meine die amerikanischen?»
«Wir nehmen jede konvertible Währung an.»
«Ach, so geht’s hier zu. Und die Untergrenze? Wie zum Beispiel, daß ich mindestens tausend haben muß?»
Zu Recht hielten sie ihn schon für einen Spinner.
«Sie müssen soviel haben, um spielen zu können.»
«Und wie hoch ist der niedrigste Einsatz?»
«Tagsüber zwanzig, jetzt fünfzig Schillinge», sagte der Jüngling abschätzig.
«So daß das da reichen müßte!»
Er knöpfte die Manchesterjacke auf, und dann erstarrte auch das böhmische Duo. Eine Miniweste mit sechs aufgequollenen Täschchen überspannte das Hemd, die er der Reihe nach öffnete, um jedesmal ein Bündel zusammengefalteter Banknoten ein wenig zu lüften, jede Tasche eine Währung.
«Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir einen Safe zu mieten», erklärte er freundlich den sprachlosen Rezeptionisten, «findet man jetzt für uns ein Schlipspärchen?»
Da sie dorthin mußte, wollte die Verkäuferin auch zugleich das WC ausnutzen und erlebte dabei den ersten Schock. Zuerst war sie außerstande zu erkennen, daß sie tatsächlich dort war, wohin sie sollte. Ein Marmorsalon mit einer Reihe sonderbar geformter Waschbecken, in den sich leise Musik ergoß, erinnerte an nichts, was sie je gesehen hatte. Als sie endlich feststellte, daß sich hinter den Spiegeltüren Kabinen verbargen, war sie sich wiederum nicht sicher, ob die Sitze aus geblümtem Porzellan wirklich so einem niederen Zweck dienten. Danach erlebte sie das Schlimmste: Sie konnte die Spülvorrichtung nicht finden. Kein Hebel, keine Kette, aber auch kein Wasserkasten, nichts.
Am Rande der Verzweiflung hatte sie einen Druckknopf entdeckt, fast unsichtbar in die Kachelwand eingelassen. Dann erschrak sie, als ein giftiggrüner Wasserstrahl in die Schüssel sprang, erst an dem wohlriechenden Duft, den er mit sich führte, hat sie das Reinigungsmittel erkannt.
Mit einiger Scheu wollte sie sich in einem der prachtvollen Becken die Hände waschen. Sie war immer ein reinliches Mädchen gewesen, doch in Böhmen ging sie lieber verschmutzt nach Hause, statt sich in der rostigen Flüssigkeit säubern zu müssen, die aus den Röhren im Kaufhauswaschraum tröpfelte. Hier jedoch fand sie keinen Wasserhahn, nur einen seltsamen Hebel, der sich nicht niederdrücken ließ. Langsam wurde sie wütend auf die ganze Vornehmheit, hier will mir jemand mit aller Macht zeigen, daß ich total blöd bin!
Es gelang ihr, den Hebel nach links und rechts zu schwenken, ohne einen Tropfen herauszumelken. Kaputt! beschloß sie endlich und versuchte beim nächsten ihr Glück. Kein Wasser! fiel ihr eine weitere tschechische Erklärung ein, und es freute sie; geschieht ihnen recht, den Angebern! Dabei zog sie den Hebel nach oben und schrie auf. In die Schüssel prallte heißes Wasser, im Nu verschwand der Spiegel im Dampf. In Panik drückte sie den Hebel in die richtige Stellung. Oh du liebe Omi, schon gefährlich dieser Westen!
Ein Handtuch suchte sie gar nicht erst. Zu Hause hingen überall höchstens fleckige Fetzen, schon der bloße Anblick ekelte sie. Aber in diesem Luxus muß sich der Mensch doch abtrocknen können! Drei Kästchen an der Seitenwand zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich; Lufttrockner, fiel ihr ein, doch sie fand keinen Schalter. Dann hat man sie wieder reingelegt: Als sie bereits nur der Ordnung halber unten herumtastete, blies es plötzlich heiß heraus. Das Vieh reagiert allein! Sie trocknete sich, stolz, alle hiesigen Tricks durchschaut zu haben, aber zugleich in Sorge, wieviel schlimmere sie in dieser Welt noch erwarteten.
Die Empfangsherren schenkten ihr keinen Blick mehr, und den Kontrolleur entwaffnete sie mit tschechischem Gruß.
Ihr Busen schien der beste Passierschein zu sein.
«Ahoj! Das bin nur ich wieder!»
Die Pianistin staunte, wie ein Streifen bedruckten Stoffs den Charakter eines Menschen verändern kann: Der Gärtner sah mit der breiten Leihkrawatte geradezu weltmännisch aus. Als sie es ihm verriet, während der Zauberer Geld für Jetons wechselte, nickte er bedrückt.
«Jawohl... ich würde lieber Weggehen.»
«Was ist mit dir?» wunderte sie sich; darauf war sie nicht gefaßt.
«Ich fühle mich hier nicht wohl.»
«Und warum?»
Soll ich mich auf Müdigkeit rausreden? überlegte er, doch wie immer gewann seine Wahrheitsliebe.
«Ich gehöre nicht hierher.»
Kann er meine Gedanken lesen? erschrak sie. Ahnt er, daß ich an einen anderen denke, sieht man es mir an? Damals hatte sie mit dem Jungen nichts, sie war so dumm, an einen Ilja in Prag zu glauben, dessen glatte und flache Sprüche sie von Anfang an hätten warnen müssen, und eben der Schiffbruch hat sie zu diesem Mann vom Lande hingezogen, ihr gegenüber fast dreimal so jung wie Christopher damals. Doch was heute ihre Beziehung bedrohte, war ganz anderer Natur.
«Václav!» sagte sie leise, aber eindringlich zu ihm, «bitte fang nicht wieder damit an! Wenn du meinst, es wäre eine Lasterhöhle, so reimt es sich nicht mit deiner Toleranz allem Menschlichen gegenüber; das hier ist eine der wenigen Chancen, die das Leben wirklich jedem bietet. Und wenn du damit sagen willst, daß du nicht hierher gehörst, denkst du nicht wie ein Christ!»
«Wie kommst du darauf?» staunte er.
«Die Kommunisten haben sich, damit alle Menschen gleich werden, ausgedacht, daß einige von ihnen eine Avantgarde bilden müssen, die führende Kraft und wie sich das nennt. So haben sie sich an ihre Vorgänger mit Kasten und Titeln angepaßt. Auch ihr Katholiken habt was Ähnliches in der Kirche eingeführt, doch als Christen bekennt ihr bis heute, daß die Menschen wenigstens vor Gott gleich sind. Das solltest du auch hier gelten lassen.»
«Ich habe nicht geahnt», er mußte lächeln, «daß du mir mal das Christentum predigen wirst, dazu noch in einer Spielbank!»
«Ich predige dir gar nichts, ich bitte dich nur, deine Welt nicht nur auf die Kirche einzuengen, wohin ich bald mit dir gemeinsam zu gehen beginne, jawohl!» sie reagierte auf seine Verwunderung, «doch komm auch du mit, wo es mich freut. Das Leben hat eine Unmenge Gesichter, stammen sie für dich nicht alle von Gott? Schau dir die Leute an, bis auf ein paar leidenschaftliche Spieler alles nur einfache Touristen und Kurgäste, für einen Augenblick steigen sie aus dem Alltagstrott aus, um ihr Schicksal zu prüfen, ob sie nun an Gott oder den Zufall glauben...» bevor sie zu Ende war, erschrak sie: Gott gebe, daß er nicht fragt, woher sie das alles weiß!
«Woher weißt du das alles?» fragte er logisch.
Die fromme Lüge diente ihr bis in das vorige Jahr, immer wenn die nichtigen Wahrheiten ihre Arbeit und Beziehungen unnötig bedrohten; seitdem sie Václav kennengelernt hatte, redete sie sich ein, die erste Lüge würde seinen Gott bewegen, ihr ihn wieder zu nehmen.
«Ich war hier schon mal», gab sie zu.
Möge er jetzt wenigstens nicht fragen, mit wem! In der Nacht, in der sie die gemeinsame Flucht vereinbart hatten, zählte sie ihm ihre Lieben auf, damit er wußte, daß sie vor ihm alle ihre Geheimnisse preisgibt; Johann Christopher hat sie dabei ehrlich vergessen. Daß sie mit ihm nicht schlief, war kein Maßstab, es war geistige Überlegenheit, die Václav deprimierte, und Lydia wollte nicht, daß er fürchtete, hier würde neben all dem Unbekannten noch ein Rivale lauern. So entschloß sie sich, es zu verheimlichen.
«Entschuldige», sagte er, «das letzte, was ich heute und irgendwann will, ist, dir die Freude zu verderben. Mach dir meinetwegen keine Gedanken, ich werde mich an alles gewöhnen, was du gern hast!»
«Ahooj, Leute«, lärmte Bobina, »war einer von euch hier schon auf dem Häuschen? Das ist ein Jux, da braucht man Hochschule, wenn man auf den Topf will!»
«Herrschaften!» rief der Zauberer und klickerte mit den Jetons, als schüttle er Würfel, «hereinspaziert, mir nach, Fortuna entgegen!»
Bislang haben sie keinen der von Menschentrauben umlagerten Roulettetische frei erblickt. Der Zauberer schritt aber nun mit nachtwandlerischer Sicherheit auf den drittgelegenen zu und beschlagnahmte als erster drei soeben frei gewordene Stühle.
«Hierher, meine Damen!» er plazierte höflich Lydia links und Bobina rechts neben sich, «der Herr Václav stellt sich dahinter auf als Schmiere, daß uns niemand den Haufen Geld klaut, den wir jetzt gewinnen!»
Der Gärtner und die Verkäuferin sahen zum erstenmal ein echtes Roulette.
«Zunächst beobachten», ermahnte sie der Anführer, die Jetons behielt er weiter in der Hand, «und dann erst mich fragen, wie wir diese Bank zur Ader lassen werden!»
Er gönnte es ihnen drei Runden lang, sich an das Milieu und das Spiel zu gewöhnen. Der Gärtner bemühte sich, wie er versprochen hatte, ein Verhältnis zu alldem zu finden, doch die Zeit reichte nicht einmal aus, die Spielregeln zu begreifen. Bobina dagegen hatte gleich blitzartig erkannt, daß man hier hauptsächlich auf Nummern und ihre Gruppen setzt. Sie staunte, wie genau zwei andere Jungs im Schwarzen mit langstieligen Harken Türme von verschiedenfarbigen Ringeln zusammenfegten und den Spielern zuschoben, viel öfter jedoch zu sich, wo sie sie blitzschnell zu den selben Farben in der Bank ordneten. Dann entdeckte sie einen dritten, der auf einem erhöhten Sessel, das Gesicht über der ovalen Lampe im Halbschatten, offensichtlich zu beobachten hatte, daß nicht geschwindelt wird. Bobina kam es vor, als hätte er ihr zugezwinkert. Aha! diese Art Aufsicht kennen wir von daheim.
Lydia war aufgeregt wie schon damals. Als sie Christopher dazu zwang, sein Wahnsinnsspiel aufzugeben, tat sie es auch zu ihrem eigenen Wohl. Obwohl sie lebenslang eine Gefangene ihrer Disziplin war, von der sie mehr als von Notenlinien zusammengeschnürt war, verspürte sie beim Roulette, wie leicht sie selbst der Leidenschaft verfallen würde, die der holpernde Lauf der kleinen Kugel erweckte. Gerade jetzt hatte sie es durch ihre Tat bestätigt: Sie hatte das Sichere für das Unsichere verworfen, gab sich einer unbekannten Zukunft an der Seite eines unbekannten Menschen preis.
Ich bin eine Spielerin, gestand sie sich, eine Hazardeuse, und am Ende werde ich alles verspielen. Erschreckt suchte sie hinter sich nach seiner Hand, drückte sie fest zu und ließ nicht locker, als wäre diese Hand jener feste Punkt, an dem ihr Leben hängt.
Der Zauberer gab jedem fünf Jetons zu zwanzig. Václav überließ sie ihr, und Lydia, ohne zu zögern, setzte alles auf die Zwei.
«Auf uns beide», flüsterte sie ihm nach hinten zu, «alles oder nichts!»
«Wieviel kann man da rauskriegen?» fragte Bobina, als die Kugel wieder losrollte.
«Mal fünfunddreißig», rechnete der Zauberer, «macht siebentausend.»
«Nee, wohin soll ich es pflastern?»
«Der Spielgott liebt keine Kiebitze, beim Roulette und im Tod steht jeder allein. Im Unterschied zur Liebe, wo es ab zwei losgeht.»
Sie schaute sich den schwarzen Aufseher an. Er fixierte sie weiter. Sie setzte für zwanzig auf Nummern, die sie jahrelang vergeblich im Lotto versucht hatte, sieben, elf, dreizehn, zweiundzwanzig, dreiunddreißig. Sie schaute schnell zu dem Kerl auf. Zweimal gezwinkert! freute sie sich, also in Butter! Es geht hier wie zu Hause zu, man muß nur den Richtigen picken. Wieviel wird er dafür wollen, der Schlaumeier, oder vielleicht, was? Das geb’ ich lieber, er sieht ganz passabel aus...
Es fiel die Drei.
Was soll das? Sauer schaute sie auf den Ratgeber. Er zwinkerte dreimal, und sie erkannte zu spät, er hat nur so einen Tick.
«Siehst du», sagte Lydia zu Václav, «wir haben Glück in der Liebe.»
«Oder es montiert sich ein Dritter dazwischen», lachte der Zauberer.
Das erinnerte beide daran, daß Věra in Budweis inzwischen alles weiß und gemeinsam mit dem Polizeipapa fieberhaft überlegt, wie ihnen hier einzuheizen wäre. Sie hörten auf, daran zu denken, als der Zauberer zehn Ringel mit der Ziffer 100 auf dem schwarzen Viereck absetzte.
«Ach, du meine Güte», sagte die Verkäuferin verblüfft, «wohin schieben Sie das alles?»
«Auf die Farbe, auf Schwarz.»
«Und soviel? Was, wenn Rot fällt?»
«Wie könnte es», wunderte er sich flunkernd, «wenn ich auf Schwarz stehe!»
Die Kugel lief in der Schale immer langsamer, bis sie in das schwarze Fach fiel.
«Nee!» rief das Mädchen begeistert, «wieviel hat das gebracht?»
«Das Zweifache.»
Die Harken wischten die meisten Jetons anderer Spieler für die Bank zusammen. Zu seinem Säulchen schoben sie aber ein weiteres, genau so hoch. Das Roulette drehte sich schon wieder.
«Packen Sie es doch weg», sorgte sich Bobina, «warum nehmen Sie es nicht?»
«Weil ich weiter das Doppelte will.»
Bald darauf hatte er es und ließ bereits vier Säulchen da stehen.
«Na, so was!» Bobina kaute an den Nägeln, «wieviel wäre das bei uns?»
«Rechne zwei Kronen für einen Schilling und multiplizier das gleich mit zwei.»
Er irrte nicht. Als die Kugel richtig einfiel, hat er in Jetons achttausend gehabt, was also sechzehntausend Kronen ausmachte. Das bleibt mir zu Hause nach allen Abzügen für ein Jahr! Es fuchste sie, als wäre sie immer noch dort; laut ängstigte sie sich.
«Nun nehmen Sie es schon weg, nee?»
Auch die beiden anderen fühlten sich wie auf Dornen, seltsam, dachte Lydia, fremdes Geld, und man zittert darum.
«Wollen Sie tatsächlich weiterspielen?» fragte sie ihn vorsichtig.
Er schaute auf sein Kapital, zu dem einige Spieler ihre Marken zulegten, um sich an seinem Glück zu erwärmen, und kratzte sich am Kopf.
«Ich passe, ich mach’ eine Pause», erklärte er und schob alles zu sich, doch er verfolgte das Spiel konzentriert weiter, als bliebe er dabei.
Rund um den Tisch rumorte es, als Rot fiel. Bobina staunte.
«Oh du liebe Omi, wer hat’s Ihnen gesagt?»
«Störe nicht, jetzt geht’s rund.»
«Gib Tausender», wies er den Mann an, der auf seiner Seite die Bank bediente.
Die Harke fuhr seinen Haufen weg, und die Finger schickten zu ihm gleitend acht große Ringel mit der Ziffer 1000 hin. Eine Höllenmaschine, fiel Lydia ein, als die Schale wieder losging, Václav hat recht! Der Zauberer wartete ab, bis alle gesetzt hatten, inzwischen ordnete er die Scheiben aufeinander und schob sie wieder auf das freie Schwarzfeld.
»Warum nicht lieber auf das rote?» konnte sich Bobina nicht verkneifen.
«Das rote ist für mich seit heute gestorben», verkündete er feierlich, «bis zum Todestag.»
Die Kugel ratterte außerordentlich lang, bis sie wieder auf Schwarz fiel.
«Ein Teufel sind Sie», stöhnte die Verkäuferin voll Bewunderung auf.
Die Menge rund um den Tisch wurde dichter, der Gärtner sah, wie sich hier mit einem Schlag Zuschauer von überall zusammenzogen. Riecht das Glück? Dann erinnerte er sich daran, daß einige Blumen im Klíčover Gewächshaus schneller verwelkten, wenn er bei ihnen wegen Věra litt. Warum sollte die Freude nicht noch stärker strahlen?
Sechzehn Tausenderjetons häufte der Zauberer zu einem dicken Turm und ließ ihn auf Schwarz stehen. Bobina blickte zu dem Vogel da oben, der sie so schön reingelegt hatte. Er hatte aufgehört zu zwinkern und verfolgte jetzt das Spiel wie ein echter Falke. Václav entzog Lydia seine Hand.
«Was ist?» stutzte sie.
«Verzeih... es tat weh...»
Sie sah in seiner Haut Einschnitte ihrer Nägel, kam jedoch nicht dazu, sich zu entschuldigen, weil sie nur die Kugel wahrnahm, als gehörte der Einsatz ihr selbst, Schwarz, befahl sie ihr, auf Schwarz!
Schwarz kam.
«Jetzt aber Schluß!» stieß es aus Bobina heraus.
«Schweig still!»
Sie sah ihn im Profil mit neuen Augen an, nein! er war keinesfalls ein Tattergreisschlawiner, wie es ihr noch am Morgen vorkam, sondern ein Mann wie ein Baum, der es auch sicher verstand, es einem Weib zu besorgen...
Er stellte sechzehn neue auf die sechzehn alten Scheiben und ordnete sie sorgfältig in der geometrischen Mitte des schwarzen Feldes. Ringsherum gab es nur Bagatelleinsätze, eigentlich spielte er allein gegen die drei schwarzen Bankiers. Doch obwohl sie die Kugel mit mehr Energie als vorher reingeworfen hatten, kreiselte sie in der Gegenrichtung nur zweimal, übersprang wild eine Reihe von Fächern, fiel in das rote, und aus ihm heraus schaukelte sie in das schwarze.
Anerkennender Beifall erklang. Der Zauberer wartete, bis man ihm den Gewinn zuschob, und nach langer Zeit sprach er wieder.
«Wo ist Limit?» fragte er den auf dem Hochsitz.
«Sie sind gerade drauf», erwiderte der Falke mit unbewegtem Gesicht.
«Was sagt er?» flüsterte der Gärtner, bereits gefesselt, Lydia zu.
«Es ist der höchste Betrag, den man hier setzen darf.»
«Da werden Sie... hundertachtundzwanzigtausend haben», quiekte Bobina; in Kronen eine Viertelmillion, für die sie mehr als zehn Jahre roboten müßte.
Als würde er aus einer Trance wach, wandte er sich an sie und seufzte.
«Keinesfalls.»
«Wieso?»
«Faites votre jeu», fing man schon wieder an, die Schale zu drehen.
«Weil jetzt Rot kommt.»
«Meine Güte, dann dalli weg damit!»
Er nahm drei Ringel weg.
«Warum nicht mehr?»
«Aus zwei Gründen», beobachtete er die kreisende Kugel fast melancholisch.
«Wirklich», sagte Lydia nervös, auch ihr schien es, als hätte er plötzlich nicht alle bei sich, «warum lassen Sie es nicht sein?»
«Erstens», erklärte er, als spräche er zu einem Kind, «beleidigte ich dadurch eben den Spielgott und zweitens... einen Moment!»
Er verstummte, weil die Kugel mit letzter Kraft umhersprang und dann auf Rot fiel. Für Bobina verschwammen Bild und Ton zugleich. In das enttäuschte Murmeln klimperten die weggeharkten Jetons, rund um den Tisch stand beinahe niemand mehr. Sie verspürte einen Schubs in den Rücken, und erstaunt stellte sie fest, daß der Zauberer, anstatt zu weinen, sie fröhlich angrinste.
«Und zweitens, meine Herrschaften, erster Gewinn macht nur arm. Das hier ist ein Kasino für Rentner, wenn ich mal eine Bank sprengen werde, so müssen darin schon ein paar Millionen liegen, gehn wir auf einen Drink.»
«Da bleiben Ihnen nicht einmal die drei übrig», fing sie an, doch sah sie bereits, wie er den drei schwarzen Ganoven je einen Jeton zuwarf.
«Merci, Messieurs!»
Ehrerbietig verneigten sie sich vor ihm.
Nachdem ihr Gönner ihnen an der Bar zu den belegten Brötchen einen Schlummertrunk, wie er es nannte, aufgezwungen hatte, bestellte sich der Gärtner Tee, die Pianistin ein Glas Rotwein, die Verkäuferin verlockte er zu einem Drink, von dem er behauptete, ihn in Afrika getrunken zu haben. Sie glaubte ihm wieder kein Wort, es schmeckte nach Anis und wurde matt durch das Wasser wie ein gewöhnlicher Bulgarenschnaps. Man schloß bereits, sie mußten zurück in die Nacht. Der Morgen war noch weit, und sie hatten genug. Der Fahrer studierte die Karte, und dann startete er mit ihnen los, bis der Minibus auseinanderzubrechen drohte.
Sie fuhren aus der Stadt hinaus, in wenigen Minuten mieden sie die Ausfahrt zu der Gemeinde, wo sich das ungastliche Lager befand, schon bald verließen sie die Bundesstraße und stiegen durch eine sich schlängelnde Allee in das Unbekannte hinauf. Nicht einmal vor einem weißen Schild Einfahrt verboten machten sie Halt, hinter dem ein Feldweg in einem Terrain anfing, wie sie es aus Südböhmen nicht kannten. Auch in der Nacht schien es im Schatten zu liegen, um so mehr blendete sie hinter der ersten Bodenwelle der fast volle Mond, ungewohnt groß und nah. Dann hörte auch dieser Weg vor einem Holzbau auf.
«Endstation!» rief Strniště und öffnete die Tür, «die Herren rechts, die Damen links, danach wird empfohlen, es sich im Coupé so bequem wie möglich zu machen. Bald ist sowieso Wecken.»
Sie stiegen aus und sahen, daß sie von Weinbergen umgeben waren, die über ihnen zu einem weiteren Horizont hinaufstiegen und unter ihnen zu den beleuchteten Inseln der Gemeinden herunterfielen, bis in das Unsichtbare zogen sich Reihen von Pfeilern, mit Drähten verbunden, auf denen die junge Rebe emporkletterte. Das hölzerne Monstrum, das unangenehm an einen mittelalterlichen Galgen erinnerte, war eine alte Weinpresse, hier als Denkmal aufgestellt, als Symbol oder nur zur Zierde.
Alle vier verteilten sich zuerst gehorsam. Die Pianistin dachte, sie sollte gemeinsam mit Václav eine Weile Spazierengehen, sich von ihm umarmen lassen und schweigend die warme Nacht wahrnehmen, damit in ihnen die Hitze und Hetze der vierundzwanzig Stunden abklingt, die seit dem großen Sprung dahingeflossen waren. Als sie sich jedoch vor dem Auto trafen, befiel ihre Glieder und Zungen eine solche Müdigkeit, daß sie kaum in den Wagen hineinklettern konnten. Die schmale Pianistin rollte sich hinten auf dem Sitz zusammen, die Knie des Gärtners waren ihr Kissen; die Verkäuferin vorn stützte den Kopf an der Schulter des Fahrers ab, und sie schliefen alle vier einträchtig in einigen Sekunden tief ein.
Der Zauberer erwachte um fünf Uhr dreißig, wie er das vom Militär und vom Gefängnis her gewöhnt war. Er spuckte zum Fenster hinaus, als er an das Pech dachte, das seine Prachtserie verdorben hatte. Aus der Nähe schaute er sich bei der Dämmerung das schlafende Mädchen an und war zufrieden. Ein schöner Knochen, sagte er, und sie weiß jetzt, daß ich kein Kasperl bin, für soviel Geld wenigstens etwas. Als er sie vorsichtig beiseite schob, machte er sich mit der Form ihrer Brüste vertraut und stellte sein Lieblingsmaß fest. Er war versucht, sie mit einer Vertraulichkeit zu wecken, die sie einander schnell näherbringen würde, doch er wollte nicht riskieren, daß sie, noch verschlafen, zu kreischen anfing.
Vorsichtig ließ er also den Wagen anfahren, dessen Insassen von seinen Stößen erwachten, sich die Augen rieben, gähnten und sich fragten, wo man sich eigentlich befand. Er formte aus den Händen einen Trichter und blies eine militärisch schrille Melodie.
«Bonjour, guten Morgen in der Freiheit!» meldete er wie ein Radiosprecher, «es ist Mittwoch, der zweiundzwanzigste Juni neunzehnhundertdreiundachtzig. Wir erwarten warmes, sonniges Wetter und nähern uns unserem vorübergehenden Heim. Es wurde mir von Leuten, die sich auskennen, nahegelegt, gleich vor den Toren ‹Asyl›! zu schreien und schußsichere Gründe anzugeben... Träume ich? Habt ihr so was je gesehen?»
Sie waren schon wach und staunten wie er verdutzt die Frauen und Mädchen an, die im Selbstangebot vor ihnen paradierten, hinter den dahinlaufenden Bäumen der Allee postiert.
«Nutten am Morgen? Noch nie gesehen. Und was wollen diese Schönlinge?»
Am Rand der Fahrbahn führten ihnen Männer jeden Alters ihre Muskeln vor.
«Reihen die sich zum Aufmarsch ein?» fragte aus Bobina die Erfahrung.
Dann stießen sie alle aneinander, so heftig mußte er bremsen.
«Wohl verrückt!» rief er aus dem Fenster einem jungen Mann von orientalischer Visage zu, der ihm ganz plötzlich in die Bahn trat.
Mit einem Schlag waren sie von vielen anderen umstellt.
«Ich machen alles», riefen die Männer durcheinander, «Haus, Hof, Feld, Weinberg, die Stunde finfzik Schilling.»
Und als er keine Antwort gab, riefen sie im Chor.
«Finfundvirzik!»
«Sie suchen Arbeit!» begriff er, «Arbeit?»
«Arbeit, Arbeit, virzik und Essn», unterboten sie sich gegenseitig.
«Na prima, boys, ich nehme euch, aber hier warten, bis ich Firma habe. Ich erst heute Kurve gekratzt, compris?»
Und er trat das Gaspedal im festen Vertrauen, daß man ihm den Weg freimacht, worin er zum Glück nicht irrte. Gleich darauf erblickten sie wieder die Pförtnerloge, in der ein neuer junger Kerl saß. Josef Strniště stützte die Hand auf die Hupe und donnerte in das Jaulen durchs Fenster:
«Asyyl!»