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11. Den selben Tag, 14.00

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Ab und zu beschlich sie das selige Gefühl, als lebte sie bereits in der Zukunft, die sie sich vor einem halben Jahr noch zu Hause erträumte, damit sie alle Risiken wagen konnte. Jetzt saß sie wieder in einem Garten, von einer undurchsichtigen grünen Palisade umgeben, ähnlich dem, den sie schweren Herzens im geliebten Südböhmen zurückgelassen hatte, sie trank einen Tee, schwarz und stark, aus einem altertümlich bauchigen Frühstückstopf, hörte den Vogelflöten und -klarinetten zu, die aus der wohlbekannten Partitur spielten, und schaute, wie ihr Geliebter die Rosen beschnitt.

Aus ihren Träumen riß sie ständig der Jüngling in der schwarzen Soutane, der neben ihr scheu seinen Tee schlürfte, mit reichlich Wasser verdünnt. Er muß doch, fiel ihr lästerlicherweise ein, teuflisch begabt sein, hier als Stellvertreter die fromme Herde weiden zu dürfen, oder hat er einen Bischof zum Onkel? Er stammte eher aus bescheidenen Verhältnissen, da er nicht wußte, daß der vom Tassenhenkel vornehm abgespreizte kleine Finger kein Beweis von Kinderstube bedeutet. Am meisten bedrückte sie jedoch der Eindruck, sie spreche mit einem Menschen von einem anderen Planeten.

Obwohl sie sich neben Václav an den Katholizismus als Lebenshaltung gewöhnt hatte und sich immer öfter dabei ertappte, wie ihre eingefleischte Gottlosigkeit in der Wärme seiner schlichten, aber echten Frömmigkeit dahinschmilzt, bewahrte sie sich dennoch zur Kirche eine ähnlich kritische Distanz wie zu der Staatspartei. Der antikatholische Vorbehalt war uralten Datums: Das Unrecht von Konstanz an Johannes Hus traf sie in der Kindheit tief. Ihre Beziehung zu den Kommunisten, zunächst neutral mißtrauisch, hat sich für kurze Zeit gebessert, was aber kein Verdienst von Marx und Lenin war; sie mußte eine solche Unmenge Noten lesen und erfahren, daß sie auch zur schönen Literatur nur selten kam. Der erfolgreiche Agitator hieß Ilja.

Er stand kurz vor dem Abschluß des letzten Jahrgangs im Fach Komposition und Dirigieren, als sie am Konservatorium erschien, und so schwebte er für sie in den Wolken. Bei dem Absolventenkonzert, als er seine eigene «Partita für neun Holzinstrumente» dirigierte, verkrachte sie sich mit einer Freundin, die während der Pause giftete, das zehnte und führende Holzstück sei er selbst. Das Mädchen ging mit seinem Kommilitonen und somit Konkurrenten, und Lydia brachte dem Geschmähten ähnliche Sympathie entgegen wie einst dem verbrannten Magister Hus.

Es störte sie nicht, daß diese ablehnende Meinung offensichtlich von vielen geteilt wurde. Ilja kriegte das schlechteste Angebot des ganzen Jahrgangs, nur das «Haus der jungen Pioniere» in Tábor, der Provinzstadt, hat sich für ihn erwärmt. Er nahm das Engagement nicht an, versteht sich, und schlug schnell und erfolgreich als Musikrezensent Wurzeln beim Prager Abendblatt. Und eben er war es, der fünf Jahre später über ihr Absolventenkonzert schrieb, der Janáček möge ruhig unter seinem «verwachsenen Pfad» weiterschlafen, er habe die Interpretin gefunden, für die er komponiert habe.

Sie erhielt Angebote in Hülle und Fülle und konnte von Anfang an wählen, was, wo und auf welchem Flügel sie spielen will. Nach weiteren fünf Jahren konnte sie im führenden Musikblatt über ihre «Apassionata» lesen: «Die Gutenberg beherrscht das Pedal so meisterhaft wie einst ihr berühmter Namensvetter die Druckpresse.» Diese Kritik brachte ihr neben Hohn und Neid der weniger glücklichen Kollegen auch die erste Einladung ins Ausland. Das Konzert in Salzburg hat die mollige und geschwätzige, dabei aber unglaublich nette und vor allem tüchtige Margrit Prohaska zustande gebracht, die auch den tschechischen Kritikerpapst eingeladen hatte.

Er kehrte nach Prag gemeinsam mit Lydia zurück und erzählte im Speisewagen von seiner mißlungenen Ehe mit einer Kunstmalerin, die soeben vor dem Scheidungsrichter endete. Er räumte ein, er habe vorerst keine Kinder gewollt, und Lydia hat es als Grund verstanden. Sie befand sich auf dem Höhenflug, und bis auf das Klavier sollte alles andere warten. Als sie in der Nacht in Prag ankamen, wunderte sie sich, wieso er ihr früher unattraktiv erschienen war. Gern gab sie ihm ihr Telephon.

Sie hat bis dahin nur ein paar flüchtige Bekanntschaften gehabt, «damit die Saiten nicht morsch werden», wie man zynisch auf dem Konservatorium sagte, mit einem Mitschüler, einem Gynäkologen, einem italienischen Jurymitglied bei einem Wettbewerb, den sie auch ohne ihn gewonnen hätte, und schließlich mit einem berühmten Opernregisseur; der wollte sie sogar heiraten, leider war er bereits ein unrettbarer Alkoholiker. Ilja war nur fünf Jahre älter als sie, imponierte ihr jedoch mit seiner Selbstsicherheit, seinem Ehrgeiz und natürlich auch mit der Position, die er sich erkämpft hatte, von vielen gehaßt, von allen respektiert. Noch dazu hat sie erst mit ihm den Gipfel der Liebe entdeckt und fühlte sich nun endlich als Frau.

Als er sie fragte, ob sie mit ihm das Leben teilen möchte, zögerte sie nicht mit ihrem Ja. Auch gefiel ihr sein Vorschlag, jeder solle in der eigenen Wohnung bleiben, sie müsse üben, er schreiben, und ihre beiden Instrumente könne man kaum aufeinander abstimmen. Außerdem wäre es gar nicht gut für sie, wenn sie sich so demonstrativ unter seine Obhut begäbe. Damit war vielleicht jener Fehler begangen.

Vorher kam noch das legendäre Achtundsechzig. Ilja war schon auf der Schule Kommunist, was ihm zu allem übrigen noch die Nachrede eintrug, er müsse jede Taktangabe bei der Partei erfragen. Zweifellos verhalf ihm die Mitgliedschaft in das vom Stadtausschuß der Partei herausgegebene Blatt; danach jedoch konnte ihm niemand mehr streitig machen, er unterstützte Qualität gegen Nichtskönnen, selbst wenn es wer weiß was für ein Genosse zelebrierte. Wie die Zeit für die Reform reifte, so schrieb er mehr und mehr über Politik und behauptete, die dahinsiechende politische Konstellation sei auch für eine so unpolitische Kunst wie die Musik schädlich gewesen. Er überzeugte die Musiker, sie sollten sich nicht mehr «in ihren Futteralen verstecken», sondern der Partei beitreten, die sich damit «aus einer Tambourkapelle schneller in ein Symphonieorchester verwandeln wird». Lydia hat er im Mai 68 überzeugt. Hundert Tage später kamen die Panzer.

Noch ein halbes Jahr glaubte sie, es sei da noch etwas zu retten, besuchte Versammlungen und Unterzeichnete Solidaritätserklärungen. Hinter dem Sarg von Palach, dem Studenten, der sich in der knabenhaften Hoffnung, seine Tat würde die abgestumpften Herzen wachrütteln, verbrannt hatte, sah sie viele ihrer Kollegen zum letztenmal. Als der neue Generalsekretär Husák den besiegten Vorgänger Dubček als Botschafter in die Türkei schickte, nannte man bald das Idol von gestern «Schwanda der Dudelsackpfeifer», und es klang schadenfroh.

Die Säuberung, die auch die Künstlerverbände dezimierte, hat bei den Musikern den harmlosesten Verlauf genommen. Die Obrigkeit sah ein, daß in Zukunft nur Musik einiges an Devisen einbringen würde, so begnügte sie sich zur Buße mit einem Häufchen Asche auf den Häuptern. Iljas Artikel wurden nicht als direkte Attacken gegen die gesunden Kräfte in der Partei angesehen; der Vorsitzende der Überprüfungskommission, der ihm offensichtlich helfen wollte, tat sie milde als «intellektuelles Blabla» ab. Ilja erhielt einen Verweis, zugleich aber auch das Angebot, sich des Aufbaus des erneuerten Musikverbandes anzunehmen.

Nachdem das laut wurde, traf ihn nicht, wie sie gefürchtet hatte, Verachtung. Es haben ihn sogar Leute dazu ermutigt, die ihn früher als Karrieristen verpönten. Nähme er an, könne er unzählige Werte retten, bevor sie für ein Jahrhundert von irgendeinem Parteiochsen niedergetrampelt werden, der anno dazumal eine schlechte Polka komponiert hatte. Als Ilja es sich bei ihr bestätigen lassen wollte, war er bereits entschieden, und sie redete ihm auch nichts aus. Die anderen konnten doch recht haben. Sie gestand ihm nur, im nachhinein, daß sie ihre kurze Parteimitgliedschaft bereits beendet hat, der Dubček habe ihr genauso leid getan wie einst Hus und nach ihm er.

Er sagte, sie sei verrückt geworden! Kann sie vielleicht etwas anderes außer Klavierspielen? Und sie war dann die erste, die er in seiner neuen Funktion rettete, als er unter vier Augen, wie du mir, so ich dir! den Sekretär der Überprüfungskommission erweicht hatte, Lydias gewagte Tat für einen Akt zu halten, der im Gegenteil ihre politische Unschuld wieder hergestellt hat: War es denn nicht Dubčeks Partei, der beizutreten Rechtsopportunisten und Verräter sie gezwungen hatten? Ihre Anmeldung hatte zum Glück ein soeben Geflüchteter unterschrieben.

Margrit Prohaska, die zwar wie andere normale Europäer das diluviale Problem, so nannte sie es, nicht verstehen konnte, doch inzwischen Lydia wie eine Schwester mochte, hat schleunigst eine halbjährige Konzerttournee durch mittelgroße österreichische Städte zusammengebastelt; durch einen vordatierten Vertrag hat es der immer noch anständige Direktor der Prager Konzertagentur abgesegnet, kurz ehe man ihn feuerte. Sein Nachfolger, der aus dem Parteiapparat kam, hätte das Papier am liebsten makuliert, überlegte sich aber diesen Schritt in der Furcht, eine Konventionalstrafe in Devisen könnte seine auf schwachen Füßen stehende Karriere gefährden.

Das halbe Jahr verbrachte sie wie in Trance, sie verstand nichts und glaubte an nichts mehr, sie wartete auf ein Wunder. Sie rief Ilja in Prag nur an, wenn ihr hundsmiserabel zumute war, und er sie nur «dienstlich», beide nahmen sie an, sie seien in der Leitung nicht allein und jedes offene Wort könnte sie bedrohen. Die mitleidige Margrit wurde zur Kupplerin: Sie machte Lydia mit dem Redakteur des österreichischen Rundfunks bekannt, der sich bis über die Ohren in sie verliebte.

Johann Christopher war jedoch der erste Mann in ihrem Leben, der jünger war als sie, um fünf Jahre sogar! und das machte ihr mehr zu schaffen, als das dahinvegetierende Verhältnis mit Ilja. Vergeblich versuchte Margrit sie zu überzeugen, wie sichtbar gut ihr die neue Beziehung bekam, und daß der junge Mann, den sicherlich eine steile Karriere erwartet, sie ewig lieben wird, weil er sie auch als Künstlerin vergöttert: Sie werde es gut haben im Beruf wie im Bett! Lydia ließ es nie zum Siedepunkt kommen.

Er flehte sie an, mit ihm nach dem letzten Konzert für zwei Wochen in die Toscana zu reisen, sie sollte selbst erfahren, daß sie mit ihm problemlos leben kann. Doch sie schrieb ihm einen Brief, dankbar, zärtlich und traurig, über den Unterschied «von fünf Sternenjahren», und den Protesten ihrer Freundin zum Trotz flüchtete sie in die Heimat zurück, die sich über ihr wie Wasser schloß.

Vor den Neidern, die ihr nach ihrer Rückkehr das Leben sauer machen wollten, rettete sie ein unverhoffter Eisregen. Sie fiel auf einem nicht gestreuten Bürgersteig hin und brach sich arg den kleinen Finger der linken Hand. Als sie auf der Unfallstation davon erfuhr, weinte sie heftig, bis Ilja sie beruhigt hatte: Von allem Unglück, das ihr in dieser bösen Zeit begegnen konnte, sei dies, versicherte er, das angenehmste. Sie komme in das Alter, in dem eine Pianistin reif wird, und wenn sie sich mit aller Energie ehrlich kurierte und übte, schaffte sie es noch, ihre wirklich großen Konzerte zu spielen. Jetzt entschwinde sie für einige Zeit den Augen jener, die sich an ihr feige für seine schlechten Kritiken von einst rächen möchten, sie werde ein auskömmliches Krankenkassengeld beziehen, mindestens zwei Jahre! währenddessen müsse sich doch die aus allen Fugen geratene Zeit wieder einrenken.

Er irrte in allem. Die Rehabilitierung der Linken dauerte viel länger, und auch danach hielten Lydias Zweifel an, sie würde nie wieder spielen können wie früher; und obwohl das allen Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung widersprach, wurde die politische Lage immer schlimmer. Am schlimmsten im Januar 1977.

Damals konzertierte sie bereits fleißig im Lande, denn, ungeachtet der Lockrufe und Vorwürfe ihrer Margrit, traute sie sich noch immer nicht ins Ausland. Da brach die hysterische Kampagne gegen die «Charta» aus. Ende Januar zitierte man nacheinander alle registrierten Mitglieder in den Musikerverband und stellte sie ohne Umschweife vor die Wahl: Falls sie weiter auftreten wollten, müßten sie, angefangen mit den Jungs, die irgendwo im Keller Jazztrommeln schlugen, bis zu den gefeierten Staatspreisträgern, durch ihre Unterschrift eine Petition verurteilen, die sie nicht einmal lesen durften.

Ilja hat den verdammten Aufruf Lydia heimlich nach Hause gebracht, er kannte sie und hatte Angst vor ihrer «heiligen Einfalt», wie er ihren krankhaften Glauben an irgendeine überirdische Gerechtigkeit nannte. Dieser Text, beschwor er sie, beinhalte nichts als ähnlich einfältige Enthüllungen über Dinge, die hier jeder kennt, doch einstweilen keiner ändern kann, er sei doch nicht so viel wert, als daß man deswegen den Rest der nationalen Kultur den Repressionen ausliefern dürfte. Fünf Jahre habe sie der Sturz auf dem gefrorenen Regen gekostet, wolle sie sich da jetzt noch freiwillig das Genick brechen?

Die schlichten Sätze aber, die die Regierung zur Einhaltung der elementaren, verfassungsmäßig garantierten Rechte aufforderten, seit Jahren wieder mit Füßen getreten, sprachen ihr aus der Seele, und sie stieß bei den Unterzeichnern auf Namen vieler Leute, die sie sehr schätzte, ehe man sie alle barbarisch zum Schweigen brachte. Sie selbst hätte sich ihnen nie angeschlossen, dazu hatte sie nicht den Schneid, doch sie fühlte sich außerstande, sie schamlos zu verleugnen und mit eigener Unterschrift wie mit einem Stein auf Unschuldige zu werfen. Auf wiederholte Vorladungen reagierte sie nicht, und mit Hilfe eines anständigen Postboten gelang es ihr, das Einschreiben zurückzuschicken, Adressat verreist! Ein kindisches Versteckspiel von kurzer Dauer: Man hat sie zu Hause überfallen.

Das negative Ergebnis unterbreitete man eilends Ilja, und der kam angerannt, ohnmächtig vor Wut. Wer sich aus Dummheit zum Selbstmord entschlossen hat, schrie er, kann von keinem normalen Menschen verlangen, daß er sich ihm anschließt. Sie versuchte, ihm ihre Gründe zu erklären, ohne Aussicht auf Erfolg. Er schlug die Tür zu, und was das bedeutete, hat sie am nächsten Morgen begriffen: Es war auch die Tür zu ihrer beider Beziehung.

Bald bestätigte sich, daß er noch dazu recht behielt. Es schien, als wären alle Konzertveranstalter in Bezirks- und Kreisstädten, alle Rundfunk- und Schallplattenredakteure, die sich noch gestern um sie geprügelt haben, plötzlich spurlos verschwunden. Eine Hinrichtung in Etappen. Lydia erfüllte, wenn nicht einer von ihnen eine schlaue Ausrede fand, noch zwei Jahre ihre Vertragsverpflichtungen, wußte aber, daß man sie längst hinterrücks umbrachte, und konnte sich nicht wehren.

Noch einmal hat es Margrit Prohaska versucht, man ließ sie jedoch, um ihr nichts Geschriebenes auszuhändigen, auf Umwegen wissen, die Gutenberg sei nach ihrem Unfall leistungsmäßig nicht mehr auf der Höhe und somit liege Auslandsrepräsentation momentan nicht im Interesse der Staatskultur. Als Margrit in Prag Krach schlagen wollte, hat sie kein Visum bekommen, man wartete ab, bis sie abkühlte; erst dann erschienen bei ihr die neuen Herren aus dem Pragokonzert mit einem schönen Erpressungsangebot: Falls sie auch regimetreue Solisten in Kauf nimmt, bekommt sie als Zulage ihre Lieblingspianistin, vorausgesetzt, sie ist in Form, versteht sich.

Lydia bemühte sich hartnäckig, wieder Fuß zu fassen, doch als fiele sie von einem Fels herab, stieß sie auf Kanten und Zacken. Ihre letzte Chopin-Aufnahme wurde «versehentlich» gelöscht, und das Studio war leider für ein Jahr ausgebucht; das Konservatorium mußte Sparmaßnahmen treffen, also wurde von der Liste der Pädagogen gerade sie gestrichen. In ihrer Zerstreutheit vergaß sie, im Bad das Wasser abzustellen, und überflutete die Parteien darunter, auf dem Rückweg von der Sparkasse ließ sie die Handtasche mit dreitausend Kronen in der Straßenbahn liegen; das alles war bislang nie passiert. Ilja zog inzwischen zu einer jungen Harfenistin, von der er lobend schon zu Lydias Zeiten schrieb; sie hat es ihr damals gewünscht, doch es war seltsam zu lesen: «Evelyna Freud versteht die Harfenseele so vollkommen wie einst ihr berühmer Namensvetter die menschliche Psyche...»

Sie hat sich an die einzige Freude geheftet, die ihr blieb, das kleine Bauernhaus in Südböhmen, zum Glück hat sie es noch in den Tagen ihres Ruhms und Wohlstands gekauft. Lange hat sie es vernachlässigt, obwohl sie dort einen zweiten Flügel aufstellte, das Hin- und Herfahren kostete Zeit. Erst im Vorjahr, nach einer depressiven Nacht, als sie beinahe den Gashahn aufgedreht hatte, verließ sie Prag und blieb in Klíčov auf Dauer. Damals faßte sie den Entschluß, sich entgegen ihrer finanziellen Situation einen Gärtner zu leisten, der den verwahrlosten Garten zum Leben erwecken sollte...

Jetzt beobachtete sie gerührt, wie er gerade einen oberösterreichischen Pfarrgarten in Ordnung brachte, und war seinem Gott dankbar, daß er ihn geschickt hat. So wurden die bitteren Niederlagen zur Hoffnung, daß sie gerade dank ihnen schließlich gewann, wovon sie seit der Jugend träumte: Raum für Arbeit und Glück in der Liebe.

«Denken Sie nicht schlecht von mir, Hochwürden», sagte sie nach einer Pause zu dem Buben in der Soutane, «Sie sind zwar Priester, dabei aber, Verzeihung, noch ein sehr, sehr junger Mensch.»

Er wurde rot, als hätte sie ihm eine Sünde vorgeworfen.

«Ich bin hier nur als Aushilfe...» entschuldigte er sich, «solange der alte Herr Pfarrer in der Kur bleibt...»

«Ich sage es Ihnen ohne Umschweife», setzte sie leidenschaftlich fort, als ob er mit ihr einen Streit austrüge, «ich glaube nicht einmal an Gott! Nie habe ich einer Fliege etwas zuleide getan, und doch bin ich fortwährend gestraft worden. Der, den ich liebte, hat mich verlassen, selbst die Musik hat man mir eigentlich genommen, erst das Publikum verleiht meinem Spielen einen Sinn...» längst hat sie ihren Tee vergessen, die Hände lagen im Schoß, gefaltet wie zum Gebet, doch der Heilige, den sie anflehte, klapperte unweit von hier mit einer mächtigen Schere, «er ist meine letzte Hoffnung!»

Der Priester wußte sich mit diesem lästerlichen Bekenntnis keinen Rat. Zum Glück wandte sich soeben der Gärtner ihnen zu.

«Sag dem Herrn Pfarrer, daß ich nur Erste Hilfe leiste, hier gäbe es genug Arbeit für eine ganze Woche. Ich würde gern verschneiden, sobald die Vegetation zum Stehen kommt!»

Kein ganzes Jahr war es her, daß sie diese Worte zum erstenmal hörte, ihre Hoffnung war noch immer zerbrechlich und schwankend, sie zitterte um sie und war bereit, jeden zu beißen und zu kratzen, der sich daran vergreifen möchte, selbst einen Priester.

«Er mag mich», sagte sie geradezu herausfordernd, statt Václav zu übersetzen, «und ich ihn auch, dort ließ ich alles zurück, was ich je besaß. Als ich die Ausreise beantragte, ist mir ein Diamantring von der Mutter aus dem Handschuh herausgekugelt und blieb zwischen mir und dem Beamten liegen. Ich hob ihn dann nicht auf, und auch er sagte nicht etwa, ich hätte was verloren, da wußte ich, diesmal werde ich rauskommen!»

Sie zeigte ihm den blassen Streifen um ihren Ringfinger, und der Priester war gespannt, als erzählte sie ihm einen Krimi, und zugleich verlegen, daß er sich nicht hinter dem Beichtstuhlgitter verstecken durfte.

«Ich weiß», fuhr sie fort, «daß wir beide es anfangs nicht leicht haben werden, um so mehr muß mir mein Comeback gelingen! Ansonsten sind wir beide gewöhnt, bescheiden zu leben!»

«Er...» warf der Priester ein, um nicht unentwegt nur peinlich zu schweigen, «wird doch sein Auskommen gleich finden, eine Menge Leute haben hier ihre Gärten...»

«Das kommt gar nicht in Frage!» erwiderte sie so resolut, daß sie erschrak, «entschuldigen Sie, das gilt natürlich nicht für Sie, aber ich will nicht, daß ihn mir jemand abspenstig macht, wie ich ihn. Jawohl, es mag zwar schamlos klingen, doch eines weiß ich ganz sicher: Entweder er bleibt bei mir, oder ich habe keinen Grund zu leben mehr!»

Der Priester schüttelte ratlos den Kopf und wußte nicht, ob er sie wenigstens für diese Versündigung tadeln sollte. Der Auftritt der Köchin hat ihn gerettet. Wie eine Riesenente watschelte sie aus dem Haus, mit einem Bündel Formulare winkend.

«Sodann: Man wird Sie erst im Flüchtlingslager registrieren. Der Zug nach Wien geht um fünf, und vor der Abfahrt richte ich euch eine kleine Jause her.»

Der junge Herr Pfarrer schaute sich die Fahrkarten an und wunderte sich.

«Wieso sind Sie drei...?«

«Ach!» schlug sie sich vor die Stirn, «wir haben Zuwachs gekriegt, nur macht sie gerade Pipi.»

Aus dem Haus kam die Verkäuferin, schwenkte die Plastiktüte mit der rotschwarzen Reizgarnitur und kreischte ihren Landsleuten erleichtert entgegen.

«Ahoooj, Leutchen, da habt ihr mich wieder! Ich dachte schon, ich muß mich abknallen lassen, aber dann erschien das brave Omachen. Von den blöden Bullen kann kein einziger tschechisch quaken!»

Wohlgefällig musterte sie dabei den Gärtner, was höchstens dem jungen Schwarzrock entgehen konnte.

Ende der großen Ferien

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