Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 25
13. Den selben Tag, 16.00
ОглавлениеDas vergitterte Zimmer im ersten Stock des jugoslawischen Dienstgebäudes, in das man sie wortlos eingesperrt hatte, war mit Diplomen behängt, die die Grenzschutzeinheit für die beste floristische Ausstattung des Geländes, den ersten Platz in der Fußball-Divisionsliga und andere Friedensleistungen lobten. Für die drei war es ein Gefängnis, und Dora kamen alle vorangegangenen Erlebnisse des Tages wie eine Idylle vor, verglichen mit den zwei Stunden hier.
Milan spielte im Leben allzu oft Komödien, denen Dora zunehmend weniger Gewicht beimaß, ähnlich wie seinen Anfällen von Jähzorn. Er schaffte es leicht, scheinbar völlig zusammengebrochen, das Telephon zu übernehmen und mit einem Regisseur zu schwadronieren, der ihm eine gute Rolle anbot. In lichten Augenblicken nannte er das selbst «professionelle Deviation» und schämte sich dafür: Solange sich der Clown keine rote Nase aufgesetzt hat, soll er sich zivilisiert benehmen!
Jetzt, könnte sie schwören, täuschte er nichts vor. Er saß auf seinem Stuhl, sinnlos in die Mitte des Zimmers gestellt, so wie er sich darauf niedergelassen hatte, kaum daß das Türschloß eingeschnappt war, schaute vor sich hin und wiederholte nur dasselbe.
«Verzeiht mir... bitte, verzeiht mir...»
Sie litt gemeinsam mit ihm und noch stärker mit dem Kind, dem heute nichts erspart bleiben sollte. Sie selbst schöpfte Mut dadurch, daß sie ihn ermutigte. Zuerst versuchte sie, ihm auszureden, er habe sie alle für immer zugrunde gerichtet. Noch ist nichts passiert! Man kann sie nicht ausliefern, solange man sie nicht verhört hat, und man wird ihnen schwer beweisen können, daß sie sich nicht auch das zweite Mal verirrt hatten, sie beide sollten sich jetzt lieber klug verabreden, als daß sie sich abquälten! Er schien sie nicht zu hören.
Zum erstenmal fiel Dora ein, daß sie ihr Zusammenleben durch einen Irrtum verdarb, der ihr schon zu Beginn widerfuhr. Daß der Rädelsführer, den er vor der Welt so überzeugend darstellte, bis auch sie daran glaubte, nicht er war und auch niemals gewesen ist. Es war ihr plötzlich unbegreiflich, daß sie sich ihm so auslieferte, obwohl er, sobald er zu Hause mit ihr allein blieb, oft sich selbst nicht helfen konnte. Ein Herrschaftssöhnchen, hörte sie die Mutter sagen, verwöhnt und egoistisch, halt ihn dir vom Leib... Sie tat es nicht, und jetzt mußte auch Petřík dafür büßen...
Sie zerriß den Gedanken und warf ihn weg wie eine unheilbringende Nachricht, die eine ohnehin schlechte Lage nur noch verschlimmert. Mit den Augen bat sie den Sohn, der schon wieder den Tränen nahe war, daß er jetzt zu all dem nicht auch noch loslegt, und zu Milan wiederholte sie, sie wußte nicht mehr, zum wievielten Mal, damit es zu seinem blockierten Gehirn endlich durchdrang.
«Wir haben dir nichts zu verzeihen. Wir sind doch deine Familie!»
«Nein!» sträubte er sich in einer Aufwallung von Selbstpeinigung dagegen, «ich dachte nur an mich selbst! Nur und nur an mich!»
«Aber nicht doch! Wir wollten auch mit... wollen doch nach wie vor!» verbesserte sie sich schleunigst, «Petřík freut sich schrecklich auf die Indianer, nicht wahr, Petřík?»
Der Sohn nickte, unkindlich ernsthaft. Ihr kam es vor, als hätte sie zwei Kinder, das größere schüttelte verzweifelt den Kopf und tat sich selbst leid.
«Ihr werdet bis zum Tode in Böhmen gefangen sein... und ich kehre die Straßen!»
«Milan! Wahrscheinlich verhört man uns hier bloß und läßt uns dann laufen! Und wenn nicht, wir sind noch jung genug, es kann sich noch so viel ändern. Laß uns froh sein, daß wir zusammen und gesund sind...»
Ihr Kredo hat ihn anfangs bezaubert und später abgestoßen, durch das, wie er es am zahmsten nannte, ihrer unwürdigen Primitivität. Jetzt hoffte Dora sogar, er würde in Wut geraten, auch das könnte ihm aus diesem psychischen Tief heraushelfen. Doch selbst das blieb aus, Milan schien tatsächlich am Ende zu sein.
Auch plötzliche Schritte auf dem Gang und der Schlüssel im Schloß brachten nichts, obwohl Milan es haßte, die eigene Schwäche Fremden vorzuzeigen. Er hat sich nicht einmal dann bewegt, als Breschnew in das Zimmer trat. Der Neuankömmling, wenn auch viel jünger, ähnelte dem Kremlherrscher fatal bis zu den wild zusammengewachsenen Augenbrauen, den Eindruck schwächten nur absurde Requisiten ab: In der Hand hielt er einen Motorradhelm, und beide Lederjackentaschen quollen über von zwei Flaschen gelblichen Schnapses. Er sprach sie langsam und deutlich an, ob das nun kroatisch, serbisch oder slowenisch war, sie konnten ihn verstehen.
«Wohin ging die Reise?»
Der Ton und das Auftreten verrieten einen Soldaten. Der Schauspieler raffte sich endlich auf. War es ein Verhör, so lag nun alles an ihm.
«Nach Prag...»
«Über Österreich? Mit den grauen Pässen?»
«Nein, über Ungarn!»
«Dort», nickte Breschnews Doppelgänger zum Fenster, hinter dessen Gitter sich wie eine Fata Morgana die grünen Hügel der freien Welt abzeichneten, die sie aus dem Auto kurz gesehen hatten, «liegt aber Österreich.»
«Wir haben uns verfranzt.»
«Heute zum zweitenmal!»
Der Schauspieler stand wieder auf der Bühne, glaubwürdig wie eh und je.
«Es tut mir wirklich leid. Wir waren die ganze Nacht unterwegs, und ich mußte allein am Steuer sitzen, es waren beidesmal Fehler aus Müdigkeit. Dürfen wir endlich nach Hause?»
«Sie müssen sogar. Ihre Behörden bestehen darauf, daß wir den tschechoslowakischen Bürgern, die sich auf diese Art verfranzen, ihre Reisepapiere abnehmen und in die Botschaft schicken, wo sie sie persönlich abzuholen haben.»
«Aha...» Milan ließ es unkommentiert, er wartete, was kommt.
«Ihre Behörden werfen uns vor, wir machen ihren Staatsangehörigen gesetzwidrige Heimatflucht möglich. Unsere Republik hat genug eigene Probleme und kann sich keine neuen leisten.»
«Jawohl...»
«Sodann.»
Breschnews Linke fuhr in die Jackentasche und wühlte darin unter der Flasche. Dabei verlautete er teilnahmslos.
«Sie nehmen den kürzesten Weg nach Beograd. Da werden Ihre Behörden schon dafür sorgen, daß Sie sich nicht weiter verfranzen.»
«Das ist doch schrecklich weit. Ich habe morgen in Prag eine Fernsehprobe!»
«Bei Ihnen gehen die Ferien zu Ende? Bei uns fangen sie erst an.»
Inzwischen stellte er eine der Flaschen auf den Tisch und fischte aus der Tasche eine Apfelsine. Er reichte sie dem Kind.
«Nimm...!»
Petřík regte sich nicht.
«Probier doch mal!» sagte der Mann freundlich.
«Hörst du, du sollst mal probieren...!» redete ihm Dora zu.
Er griff nach der Frucht, stand aber da wie ein Häufchen Unglück.
«Und sag auch danke schön!» ermahnte sie ihn.
«Danke schön...» piepste er, und nichts weiter.
«Iß doch», sagte Dora, «du hast Hunger!»
Sie schälte ihm die Orange und teilte sie in Scheibchen, die sie dem Kind in den Mund schob. Die drei Erwachsenen schauten schweigend zu, wie er aß. Seltsam, dachte sich Dora, ich verspüre kaum den Duft. Ähnlich wie Milan mußte auch sie so aufgeregt sein, daß ihre Sinne gefährlich abstumpften.
«Falls Sie sich aber nicht wieder verfranzen wollen», sagte der Jugoslawe unerwartet, «gebe ich Ihnen eine Adresse hier in der Nähe, da werden Sie gut beraten.»
Sie schauten ihn verständnislos an.
«Man hat dort bereits viele Ihrer Landsleute gut beraten. Niemand hat sich bislang beschwert. Sind Sie interessiert?»
Der Schauspieler, durch seinen Mißerfolg benommen, verstand immer noch nicht, dafür aber Dora.
«Ja, natürlich sind wir das!»
Der Unbekannte mit dem bekannten Gesicht zog jetzt ein Papier aus der Brusttasche. Übersichtlich war darin eine Route eingezeichnet. Er legte noch ihre beiden Pässe dazu, ohne die grünen Hüllen; aus dem oberen schaute wieder der Hundert-DM-Schein heraus. Er stellte zu der ersten Flasche auch die zweite und lächelte zum erstenmal.
«Das ist kein Sliwowitz. Das ist Benzin. Ihr Wagen steht vorn beim Bistro, und die neue Schicht im Dienst kennt Sie nicht. Gute Reise!»
Sie nahm die Banknote aus dem Paß und reichte sie ihm wortlos; vor Rührung konnte sie nicht sprechen. Er lehnte ab und machte ihnen die Tür auf.
«Bei der Rückkehr.»