Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 24

12. Den selben Tag, 15.33

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Doktor Čierniak war ein gewissenhafter Mann. Ähnlich wie er es in der Poliklinik stets verstand, die Patienten so zu bestellen, daß sie nicht stundenlang warten mußten, plante er sorgfältig die Flucht. Die Entscheidung traf er gemeinsam mit seiner Frau zu Weihnachten, als sie den Amerikaner trafen. Sie nahmen sich seiner an, als er in den Gäßchen unter dem Bratislaver Schloß herumirrte, und begleiteten ihn zum «Carlton», wo er abgestiegen war. Seit er pensioniert war, reiste er durch exotische Länder und war, so ein Zufall! selber Zahnarzt gewesen. Er lud sie zu einem Abendessen ein, das ihr Leben völlig veränderte.

Als er auf ihren Wunsch vorrechnete, wieviel ihm seine bescheidene Privatpraxis eingebracht hatte, und ihnen erzählte, in seinem heimatlichen Kalifornien mangelte es dennoch an Zahnärzten, riß der Damm, den das Paar seit Jahren zwischen ihre reale Sicherheit und einen riskanten Traum hartnäckig aufzuschütten versuchte. Warum probierten sie es denn nicht? fragte der Mann, nachdem er sich ihr Lamento angehört hatte. Sie müßten flüchten, erklärte ihm Doktor Čierniak, und zur Emigration seien sie nicht mehr jung genug. Ein junges Alter, versicherte ihnen der Kalifornier, wäre in ihrem Fall eher von Nachteil, ein Zahnarzt muß Vertrauen in sein Können erwecken, und vierzig Jahre seien so gesehen ideal. Würde man denn dort sein Diplom anerkennen, wollte Doktor Čierniak noch wissen. In Amerika zähle die Leistung, nicht das Papier, hieß es. Auf dem Heimweg haben sich die Eheleute zum zweitenmal das Jawort gegeben.

Der Erfolg des Unternehmens hing von der Geheimhaltung ab. Deswegen vermieden sie jede Andeutung vor den Kindern. Sie waren Mieter eines halben Doppelhäuschens, sparten auf eine eigene Villa, und dieses Geld wollten sie natürlich nicht hier liegenlassen. Wie aber eine Währung, die drüben beinahe Nullwert besaß, in konvertibles Kapital zu verwandeln, zum heimlichen Transport über eine Grenze geeignet, an der sie schon zweimal eine Kontrolle erlebten, bei aller Zufälligkeit sehr gründlich? Ein Einfall seiner Frau begeisterte den Doktor; in den darauffolgenden Monaten hat er ihn mit findiger Sorgfalt verwirklicht.

Am Tag der «Sizilien»-Abreise setzte jedoch eine gefährliche Pechsträhne ein. Zunächst hat der kleine Miro den Schlüssel zum Keller verlegt, in dem das Surfbrett lag, der wertvollste Gegenstand, den sie mitführten. Nach einer Stunde vergeblichen Suchens mußte der Doktor die Tür aufbrechen, zum Mißfallen des Hausbesitzers, der nicht zulassen wollte, daß der Raum unverschlossen blieb; es hat gedauert, bis er erweichte und versprach, die Reparatur für sie in Auftrag zu geben. Zum erstenmal, seit sie den Simca fuhren, hatten sie dann einen Platten, und das auf der Donaubrücke, so daß die Mutter den Verkehr dirigieren und der Vater in der Hupenflut erboster Fahrer sich als Monteur betätigen mußte. Eine Weiterreise ohne Reservereifen konnten sie nicht riskieren, so haben sie über eine Stunde auf einen neuen Schlauch gewartet. Und obwohl sie noch vor Schulende losfuhren, gerieten sie an der Grenze in einen Stau. Es waren die Polen, offensichtlich aufs Exil zusteuernd, denen die tschechoslowakischen Zöllner zum letztenmal Lust und Wonne des Sozialismus vorführten: Man durchsuchte jede Hosentasche.

Als nach zwei Stunden die Čierniaks dran waren, erhofften sie sich vergebens eine slowakische Gunst, Grenzer waren bereits gegen jedermann allergisch geworden. Auch diesmal hatte der knochige Oberleutnant keine Mühe, einen Vorwand zu finden. Nachdem er die Zoll- und Devisenerklärung des Familienoberhaupts studiert hatte, stach er mit dem Finger in das pralle Ding auf dem Dach; mit dem Brett waren auch Mast und Segel zusammengeschnürt.

«Und das hier, ist was?»

Das Ehepaar zuckte zusammen, nur mit Mühe unterdrückte es seine Verwirrung.

«Das ist ein Brett», erklärte der Doktor, folgsam wie ein Abc-Schütze, «ein sogenanntes Surfbrett!»

«Zu was?»

«Na, zum Surfen. Damit gleitet man am Meer auf den Wogen...»

«Ich bin kein Tartar!» erklärte der Zolloffizier mit überraschender Respektlosigkeit vor einem sowjetischen Brudervolk, «mich interessiert, zu was Sie das haben?»

«Nun, zum... zum Surfen doch...»

«Nicht zufällig zum Verkaufen?»

Der Doktor stand vor dem Zusammenbruch. Überzeugt, daß jemand sie angezeigt hatte, schickte er sich schon an, zu seiner Entlastung lieber gleich alles zu beichten. Noch bevor ihm das Harakiri gelang, ließ der Uniformierte durchblicken, um was es ihm ging.

«Es fehlt in Ihrer Zollerklärung, wissen Sie das nicht?»

Im Doktor ging die Hoffnung wieder auf, vor Erleichterung brach er in unsinniges Lachen aus.

«Verzeihung, wir haben es total vergessen. Ich habe gänzlich verbummelt, daß es auch eine Wertsache ist... Sie glauben doch sicher nicht, wir wollten ein Ding wie ein Kamel unauffällig durchschmuggeln!»

Das Knochengesicht maß ihn wie einen besonders pfiffigen Filou.

«Was ich denke, ist meine Sache. Sie haben das Gerät nicht aufgeführt, so kann ich es auch konfiszieren.«

Die Aussicht hat den Doktor beinahe niedergeschmettert. Seine Frau wußte ihm nicht zu helfen, es ging ihr ähnlich. Übereinstimmend glaubten sie beide, daß ihre Reise hier endet. Sie wollte gerade vorschlagen, sie würden lieber umkehren, um daheim abzuwarten, bis das Vergehen geklärt ist, als sich zur Überraschung aller die Tochter meldete.

«Vati, ich habe es in Muttis Papier eingetragen...»

«Ich bitte dich, misch du dich nicht... was?»

«Verzeihung, aber ich habe das Surfbrett bei der Mutti aufgeführt», Magda sprach bereits zu dem Offizier, «ich wußte nicht, daß man es in beiden Formularen angeben muß.»

Er faltete das zweite Formular auseinander, nickte, drückte den Stempel drauf, sprach das Mädchen beinahe freundlich an, als hielte er nur sie hier für kompetent.

«Mach’s gut!»

Als sie einstiegen, zitterten des Doktors Knie, und er fühlte sich so geschwächt, daß er vorerst die Kupplung nicht durchzutreten vermochte. Sie waren um Haaresbreite einem Desaster entronnen! Er sammelte alle Kräfte, brachte endlich das Pedal nach unten, und in einer Minute waren sie am österreichischen Zoll. Im Exil! Er lehnte sich nach hinten und umarmte dankbar die Tochter.

«Magduška, dafür erfülle ich dir jeden Wunsch...»

Zur selben Zeit keuchte zur Grenze der ČSSR ein Bus, der ursprünglich mit fünfzig Südtschechen bis Samstag den Spuren der Arbeiterbewegung nachgehen sollte. Statt dessen bezeugten sie jetzt ihre Schmähung. Drei leere Sitze klagten darüber, und in der Karosse herrschte auch bei dem äußerst warmen Juniwetter, das über ganz Europa lag, eine Allerseelenstimmung.

Nur drei Männer haben daran geglaubt, daß ihnen die Buße, vorzeitig zur Schau gestellt, Ablässe in Form weiterer Ausreisen einbringen würde. Der Rest machte sich keine Illusionen, daß man je den Teil Europas wird erblicken dürfen, der nach der Meinung des «Lektors» im Kapitalismus hoffnungslos verfault, nunmehr die tschechoslowakischen Errungenschaften nicht einmal abwarten kann. Nur ein einziges Gehirn ratterte, dem Motor des Busses ähnlich, der den letzten Hügel Österreichs hinaufkletterte.

Josef Strniště wußte, er kann seine gesamte Zauberei vergessen, falls ihm jetzt kein befreiender Trick einfällt. Erwischt er seinen versteckten Umschlag nicht rechtzeitig, entdeckt man ihn bei der Durchsuchung, die sie zweifellos alle erwartete. Und die hatten genügend Mittel, um schnell festzustellen, wem die Bescherung anzukreiden wäre. Obwohl die Macht selbst schamlos stahl und schob, strafte sie das Vergehen gegen das Devisengesetz fast wie Meuchelmord. Sollte der Magier auffliegen, hätte er seine letzte Westreise erlebt.

Das Malheur bestand andauernd darin, daß die Lederjacke des Busfahrers über die mit einem Reißverschluß versehene Rückenlehne seines Sitzes hing, mit irdischen Mitteln konnte man zum Umschlagversteck nicht gelangen. Im übrigen war es genial gewählt. Auf der Hinreise hat auch keiner nach Schmuggelware in den heiligen Hainen des Stasi-Fahrers gesucht.

Sie ließen das Straßenschild Staatsgrenze 1 KM hinter sich, und dem Magier schwante es, er würde für den Rest seiner Tage wieder zum Koch werden, am ehesten zum Gefängniskoch. Bald hielten sie vor dem österreichischen Zollhaus an, in Sichtweite wehte die rot-blau-weiße Fahne der stiefmütterlichen Heimat. Der Reiseleiter trug das Pfand namens Pässe in das Gebäude, während der Lehrer zum letztenmal nach dem Mikrophon griff, und das Gedicht «Verläßt du mich, wirst du sterben» las, das, laut ihm, der Klassiker Dyk ahnungsvoll den künftigen verräterischen Emigranten gewidmet habe.

Der Zauberer, neben dem drohend des Gärtners Sitzplatz klaffte, betrachtete mit den Augen eines Ertrinkenden den Ort seiner letzten Chance. Neben der alten Baracke hat man eine neue Abfertigungsveranda mit riesigen Glasfenstern angelegt, nebenan befand sich ein Büfett im Aufbau. In Paletten warteten Ziegel, bis man sie vermauert. Josef Strniště wußte plötzlich genau, was zu tun sei, und verspürte jene fruchtbare Spannung wie vor den Spitzennummern seines Repertoires. Nur in diesem Zustand entsteht Kunst! flößte ihm der alte Toscani ein, als er sich auf seine alten Tage herbeiließ, ihm seine Tricks zu verkaufen gegen tägliche Abendmahlzeiten, die der Koch für ihn aus der Kantinenküche ins Henkeltöpfchen verschwinden ließ.

Das übrige war Routine, die ihm im Blut lag. Er mußte nur die Aufmerksamkeit des Publikums von der technischen Durchführung des Wunders so ablenken, daß niemand sie wahrnehmen konnte. So also hat er abgewartet, bis vor dem Zollhaus der Reiseführer erschien, von zwei Österreichern begleitet, mehr aus Höflichkeit als in der Absicht, die armen Schlucker einer ernsthaften Amtshandlung zu unterziehen. Da erhob er sich, und mit schallender Stimme, die das ganze Fahrzeug erfüllte und selbst zu den Männern draußen durchdrang, verkündete er.

«Schaut euch mal die Fratzen an!» er zeigte unmißverständlich auf die beiden Österreicher, «schaut sie euch mal an, diese aufgedunsenen Kapitalistenärsche und -mäuler!»

Sechsundvierzig Tschechen verspürten das gleiche Gefühl: Er ist verrückt geworden! Schon weil die Zöllner ausgesprochen schlanke Burschen waren.

«Die denken, sie würden uns ein paar faule Bananen oder Strümpfe andrehen, und wir machen uns vor Rührung gleich die Hose voll!»

Er hat seinen Sitzplatz verlassen und drang durch die Reihen versteinerter Reisender nach vorn, an dem nicht weniger schockierten Lehrer und dem Fahrer vorbei, stieß draußen den Reiseleiter zur Seite, schoß aus allernächster Nähe mit dem Finger auf die beiden Uniformen und brüllte sich die Lunge aus dem Hals.

«Die glauben doch tatsächlich daran, daß wir ohne ihre beschissenen Bananen und Behas nicht leben können! Sie hätten gern, daß wir wegen dem bißchen beschissener Modeslips unsere Heimat verleugnen!»

Die Österreicher standen wie Salzsäulen da. Aus dem Gebäude eilten Kollegen herbei, und die Mienen verrieten, daß sie ein solches Spektakel zum erstenmal erleben. Inzwischen hat der erschrockene Reiseleiter die Sprache wiedergefunden.

«Genosse, die da, die wollen es bestimmt nicht...»

«Einen Dreck werde ich leugnen!» tobte der Magier weiter, «ich schätze meine sozialistische Heimat, ich liebe sie, ich bin auf meine sozialistische Heimat stolz, der ganze Kapitalismus kann mich nun mal! Für den hab’ ich nur das hier übrig!»

Ehe noch jemand seine Absicht erraten konnte, rückte er zu dem nächstliegenden Ziegelhaufen vor, faßte beidhändig ein oben links liegendes Stück und warf es mit voller Wucht gegen die gläserne Auslage des Zollhauses. Die große Scheibe brach mit einem Knall in Scherben zusammen. Die Zöllner standen mit halbgeöffnetem Mund da.

«Hah!» johlte Josef Strniště siegesbewußt, «und genauso wird eines schönen Tages auch euer Scheißkapitalismus zusammenkrachen!»

Er griff nach dem zweiten Ziegelstein, an dessen Abwurf ihn jedoch der Busfahrer Dadák hindern konnte, der dabei ein Spezialtraining preisgab, so blitzschnell konnte er seinen dicken Wanst zu dem Irren hinbefördern und ihn mit einem Würgegriff unschädlich machen.

«Laß mich los, Genosse!» röchelte der Gewürgte, «ich bin stolz darauf, ein Tscheche zu sein, dir wird man es zu Hause noch beibringen!»

Der King Kong aus Budweis verfrachtete den machtlos Fuchtelnden im Schraubstock seiner Arme in den Wanderkäfig. Von dem Fahrersitz war der jedoch nicht mehr loszureißen. Er verspreizte sich mit Händen und Füßen, man hätte ihn zum Krüppel machen müssen, und das konnte sich Dadák hier doch nicht leisten, die Amtspersonen wären imstande, sie alle hierzulassen! Er lockerte den Griff und überließ das Agieren dem Reiseleiter, der draußen gegen die Herzschwäche und sein schwaches Deutsch ankämpfte.

«Er krank... wir ihn... bald heim...!»

«Moment mal!» besann sich die höchste der österreichischen Chargen mit Blick auf die Scherbenwüste, «zuerst ist der Schaden zu begleichen! Sie müssen einen ausreichenden Reparaturvorschuß hinterlegen!»

Damit die Tschechen verstehen konnten, zeigte er im internationalen Code mit Zeigefinger und Daumen, daß der Spaß sie teuer zu stehen käme.

«Aber wir...» jammerte das verdiente Parteimitglied, «nix Geld... alles futschi...!»

Dem Zollamtsvorsteher hat es gereicht.

«Dann muß eben der Täter so lange hierbleiben, bis die zuständigen Stellen die Schadenshöhe eruieren und die Geldstrafe bemessen. Jawohl: der Mann da drinnen!»

Jetzt peilte er auf die Entfernung den Hintern des noch immer zwischen den ersten Sitzen verspreizten und sich da mit Fingern, Ellbogen, Knien und Sohlen festklemmenden Magiers an. Seine Leute umzingelten inzwischen den Bus von allen Seiten. Den Reiseleiter ließ die Aussicht erzittern, er könnte noch eine vierte Seele verlieren.

«Der aber... muß doch mit...!»

«Sein Name!»

«Genosse Strniště... also Strniště Josef...»

Der Österreicher war Herr der Lage, hat den Namen sogar richtig nachgesprochen.

«Den Sternischtje-Paß hierbehalten! Und heraus mit dem Mann!»

«Genosse Dadák...», befahl der Reiseführer schlaff, «laß ihn los...»

Dieser gehorchte, Strniště jedoch wechselte nur den Griff und umarmte den Fahrersessel.

«Zu Hilfe!» randalierte er, «Genossen, schützt mich, ich will heim!»

Jetzt konnte er bequem die Linke unter die Lederjacke schieben, den Reißverschluß öffnen, das Kuvert herausnehmen und in seine Zaubertasche verlagern. Dann ließ er sich heraustragen. Und weil die Gunst des Augenblicks fortwährte, donnerte er weiter herum, zur Abwechslung auf deutsch, damit die Richtigen ihn verstanden.

«Meinen Koffer her! Ich möchte meinen Koffer haben. Gebt mir meinen Koffer heraus! Er liegt unten im Laderaum!»

Dadák mußte öffnen, und der Magier hatte wieder alles, was ihm gehörte. Zwei Grenzer hielten ihn zwischen sich fest, damit er keine Heimflucht versuchen konnte. Als ihre Kollegen den kleinlauten Rückkehrern ihre Pässe zurückreichten und Dadák den Motor anließ, hat sich der Zauberer mit einem wendigen Dreh von seinen Bewachern befreit, nahm Habachtstellung an und salutierte, wie der brave Soldat.

«Lebt wohl, Genossen, lebt wohl! Grüßt von mir die Genossen in Budweis! Richtet ihnen aus, daß ich auch hier ewig treu bleibe!»

Er wartete ab, bis die Budweisriege vom Vaterland verschlungen wurde, und dann, noch ehe man es vermeiden konnte, warf er sich auf den Boden. Zu ihrem Staunen küßte er den warmen Asphalt, wie der Heilige Vater unterwegs. Beim Aufstehen zauberte er den fetten Umschlag heraus, riß ihn auseinander und führte ein prächiges Banknotenbündel hervor, das er professionell durch die Finger fahren ließ, als mischte er Karten. Schillinge, Mark, Dollar und Franken flimmerten auf. Er drehte sich zu der erblindeten Wand des Zollamts und fragte, als hätte er im Restaurant zu zahlen.

«Meine Herren, was bin ich schuldig?»

Ende der großen Ferien

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