Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 29
17. Den selben Tag, 20.30
ОглавлениеEine neue Hoffnung stellte Milan immer blitzartig auf die Beine. Dora erlebte während der anstrengenden Theaterproben seine Stimmungstiefs, in denen er fast im Sterben lag, um mit einem neuen Einfall wie der sagenhafte Phoenix aus der eigenen Asche wieder aufzusteigen. Es funktionierte auch jetzt. Er schüttete den Inhalt der beiden Literflaschen in den leeren Tank des Škoda, den jemand vor das Bistro geschoben hatte, legte die Skizze auf die Knie und brach auf, ohne daß jemand das zur Kenntnis nahm.
Bald fuhr er ab auf den Lehmweg, der entlang der grünen Grenze verlief. Sie verführte sie fast dazu, das Auto Auto sein zu lassen, die Koffer zu schnappen und direkt rüberzugehen, schlimmstenfalls auf zweimal. Doch ihr Retter, sicherlich eine höhere Charge, hatte sie nachdrücklich davor gewarnt. Der Schein trügt, hatte er vor dem Abschied hinzugefügt, sie würden riskieren, auf eine Patrouille zu stoßen, die auf Drogenschmuggler lauert und leicht schießen könnte vor Angst, selbst ins Feuer zu geraten. Das durfte kein normaler Mensch riskieren. Außerdem, meinte Dora, muß jede Kette Rücksicht nehmen auf das schwächste Glied, und das ist in diesem steilen Terrain Petřík!
Die Zeichnung war klar und genau, nach einer Viertelstunde langsamen Geratters erreichten sie in der Dämmerung eine Ansammlung von Gebäuden, gewiß ein ehemaliger Gutshof. Ringsumher ragten Mauern von jahrelang nicht mehr beschnittenen Büschen oder verwilderten Bäumen, umschanzt von wucherndem Unkraut wie von Stacheldraht. Das Anwesen war heruntergekommen, aber hie und da konnte man frische Ausbesserungen vermerken.
Die Zufahrt säumten Autokarosserien in allen Stadien des Zerfalls. Ein kleiner Kran verriet, was ihnen auch bald bestätigt wurde: Es war ein Lager und die Reparaturwerkstatt ausgedienter Vehikel. Milan kam aus einem Land, in dem Wracks, wieder fahrbar gemacht, das Gros des Autoparks darstellten, deshalb war er von diesem Blechfriedhof nicht geschockt. Die Werkstätte deutete auf die Nähe geschickter Menschen hin, mit denen ein intelligenter Zeitgenosse sich schnell verständigt.
Niemand hieß sie willkommen, doch sie hörten einen satten Bariton; er sprach mit Pausen und allein. Der Stimme folgend, betraten sie einen dunklen Raum, der einmal als Stall gedient haben mochte; die Fenster waren blind von Staub, und in der einzigen Lampe brannte eine ganz schwache Birne. Darunter stand ein Mann im verölten Sweater und telephonierte. Als er sie sah, legte er den Hörer des vorsintflutlichen Apparats gleich auf, ging auf sie zu und putzte sich die Hände an einem Lappen ab, von dem sie nur noch schmutziger werden konnten. Die Rechte reichte er dem Schauspieler, Frau und Kind nahm er nach balkanesischer Sitte nicht zur Kenntnis.
«Weiß ich», sagte er ohne Umschweife auf gut deutsch, «Sie sind die, die um jeden Preis nach Österreich wollen!»
«Ja», sagte Dora noch vor Milan, «können Sie uns dabei helfen?»
Unterwegs war sie zu dem Entschluß gekommen, möglichst viel Verantwortung auf sich zu nehmen, um es ihm leichter zu machen. Dadurch konnte sie ihn allerdings wiederum anders reizen. Oft warf er ihr Unbeholfenheit beim Verhandeln vor, und im übrigen wollte er nie die zweite Geige spielen; heute war das jedoch das kleinere Übel, und er ließ sie bis jetzt gewähren.
Auch der Mann nahm sie zur Kenntnis. Aus der Schublade des ungehobelten Tisches, auf dem Schlüssel, Schrauben und Muttern herumlagen, zog er eine neue Terrainskizze hervor und winkte, sie sollten nähertreten. Den beiden kam der gleiche Gedanke: daß sie sich auf einer Trasse bewegten, die manche vor ihnen schon passiert hatten. Das beruhigte sie.
«Wir sind hier», er legte den Finger auf die Karte und schob ihn weiter, «hier verläuft die Grenze, und hier liegt der Tunnel.»
«Was für ein Tunnel?» fragte Dora.
«Ein Eisenbahntunnel. Einfahrt Jugoslawien, Ausfahrt Österreich.»
«Und die Grenze...»
«In der Mitte. Nur eine Tafel.»
«Und die Wachen?»
«Keine.»
«Wie das?»
«Nun darum. Hier wird wenig geflüchtet.»
«Aber...» sie verstand überhaupt nichts, «warum, wenn es hier keine Bewachung gibt...?»
«Weil man fast nichts mitnehmen kann. Der Tunnel ist lang.»
«Wie lang...?»
«Achteinhalb Kilometer.»
Es wurde ihr dunkel vor den Augen, als wäre sie schon drinnen.
«Das geht doch nicht», sagte sie erschreckt.
«Moment», mischte sich ihr Mann ein, «warum nicht?»
«Milan!»
Er jedoch hat bereits das Gespräch an sich gerissen.
«Acht Kilometer sind nichts, die bist du täglich mit dem Kinderwagen gefahren, als Petřík noch klein war!»
Verzweiflung stieg in ihr hoch.
«Doch nicht über die Gleise...» sie wandte sich an den Mann, «da fahren doch Züge!»
«Jawohl», nickte er ihr zu, «aber nicht immer, er hat recht», stimmte er mit Milan überein, «es ist nicht gefährlich, wenn man weiß, wann die Züge gehen. Und ich weiß es. Da kommt nichts zwischen halb elf und Mitternacht.»
«Aber das sind nur...» protestierte sie weiter.
«Neunzig Minuten!» unterbrach sie Milan, «reichlich genug!»
«Petřík kann nicht so schnell...»
«Petřík ist doch ein Sportsmann», sagte er zu seinem Sohn beschwörend, «nicht wahr, Petřík?»
Der Junge nickte geschmeichelt. Dora kämpfte weiter.
«Weißt du noch, wie du dich im Schacht gefürchtet hast?»
«Ein Schacht ist ein Schacht, ein Tunnel ist ein Tunnel!»
«Und wenn doch ein Zug kommt?»
«Man kann ihn von weitem hören», mischte sich der Jugoslawe wieder ein, «und alle zweihundert Meter ist eine geräumige Nische in der Wand. Keine Angst.»
Aber in ihr bebte bereits ein animalischer Instinkt, nicht zugänglich logischen Argumenten. Fieberhaft suchte sie, wie sie dieses Wahnsinnsunternehmen verhindern könnte.
«Da müßten wir ja das Auto hierlassen und so gut wie alle Sachen...?»
Der Mann zuckte bedauernd mit den Schultern. Dora hoffte, daß es Milan überzeugen könnte. Sie hat doch seine liebsten Hemden, Pullover und maßgeschneiderten Sakkos eingepackt. Und er zögerte tatsächlich.
«Können Sie uns auch da helfen?» wandte er sich an den Mann.
«Ich tu’ es doch bereits.»
«Ich meine mit den Koffern, das Auto soll der Teufel holen.»
Der Mann schloß es entschieden aus.
«Das mach’ ich nicht. Aus Sympathie berate ich Sie, doch das Risiko, und damit auch die Koffer, das müssen Sie schon alles selber tragen.»
«Ich lasse Ihnen dafür den Wagen», versuchte es der Schauspieler noch einmal.
Der Bariton lächelte nachsichtig.
«Ich will ihn nicht.»
«Er muß doch hierbleiben...!»
«Dann stellen Sie ihn anderswo ab.»
«Wo denn?»
«Weiß ich nicht. Falls Sie ihn hierlassen, schlachte ich ihn aus und zahle damit den Abtransport zum Schrott. Spuren dürfen hier keine bleiben!»
«Milan», bat ihn Dora drängend auf tschechisch, «ist dir das schon klar? Wir verlieren hier alles! Probieren wir es doch noch anderswo. Wie sollen wir da drüben mit nackten Händen...»
«Gott!» schrie er auf, «Gott, Gott! Wovon redest du? Was helfen uns die Klamotten, wenn wir hier versauern! Sollen wir uns hier weiter so verfranzen, bis man uns wirklich per Schubs zurückschickt? Mir hat immer eine Flasche Wein und ein Stück Brot gereicht...» das Bett ließ er lieber weg, «was mußt du denn haben? Möchtest du im Lager eine Modenschau abgeben?»
«Milan...»
Er vergegenwärtigte sich, daß der Mann die Szene beobachtet, und begriff vor allem, auf diese Art würden sie nirgendwohin kommen. So wechselte er den Ton.
«Sobald ich mit euch beiden dort bin, wird mir kein Schatz der Welt fehlen, aber natürlich», sagte er, breitete die Arme aus und tat, was bei ihr immer wirkte, «du bist seine Mutter, du mußt entscheiden! Ich...» fügte er bitter hinzu, «ich hatte heute bereits zweimal Pech, habe also kein Recht dazu...»
Sie wußte, daß er jetzt nicht spielt, Buße war bei ihm aufrichtig, doch gleichzeitig erpreßte er sie immer. Auch jetzt hatte sie keine Wahl, weil sie für sie drei keinen besseren Ausweg vorschlagen konnte. Alles in ihr sträubte sich, zwang sie, sich entschieden zu wehren, doch die Aussicht, zum drittenmal und wahrscheinlich zum letztenmal im Netz der Macht hängenzubleiben, war nicht weniger furchtbar.
«Also, entscheide es», er sah sie durchdringend an, «wie du willst, aber irgendwie, damit wir endlich weiterkommen...» und er machte es ihr noch schwerer, «ich bitte dich, richte dich nach deinem besten Wissen und Gewissen!»
In dieser Ausweglosigkeit wandte sie sich wieder dem Jugoslawen zu, der teilnahmslos zuschaute und sich nicht anmerken ließ, wieviel er verstand. Mit dem Schraubenschlüssel, den er vom Tisch nahm, klopfte er sich auf die Handflächen. Da fragte sie, sicherlich vergeblich, aber es gab ihr den Mut zu dem Sprung ins Unbekannte.
«Sind da viele gegangen?»
«Aber ja», sagte der Bariton.
«Auch mit so kleinen...» sie zeigte auf den Sohn.
«Auch mit Säuglingen.»
«Und es ist niemals... was passiert...?»
«Niemals.»
Gehupft wie gesprungen! dachte sie sich niedergeschlagen, und mit dem Wissen des schlechten Gewissens entschied sie sich für das Übel, das ihr um nichts kleiner erschien als das andere.