Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 27
15. Den selben Tag, 17.00
ОглавлениеAls Karel Markalous aufwachte, kannte er sich weder in der Zeit noch im Raum aus. Obwohl er vor sich hinstierte, nahm er nur Dunkelheit wahr. Er dachte, er sitze noch in jenem feuchten Keller, und er fürchtete sich ungemein, daß er am Morgen sterben muß.
Am vorigen Tag sind durch das Glasstädtchen an der Sávaza deutsche Einheiten durchgezogen, die amerikanischer Gefangenschaft zueilten. Es war nicht mehr die schreckenerregende Kraft, die letzten Pimpfe legten eilends die Schußwaffen vor den hiesigen Feuerwehruniformen nieder. Sie berichteten, die Rote Armee rolle dicht hinter ihnen her, und die Stadt steckte gleich Fahnen heraus, die morschen, dreifarbigen Flaggen der Tschechoslowakischen Republik. Die Radionachricht über den Prager Aufstand hat mehrere Mannen samt Karels Vater veranlaßt, vor und hinter der Brücke Barrikaden zu errichten.
Auch der kleine Karel bewaffnete sich: mit einem wackeligen deutschen Stahlhelm und verrostetem Bajonett, Besseres hatten ältere Jungs gegriffen. Am Nachmittag jedoch kamen statt russischer Panzer die mit dem Hakenkreuz: SS-Eliteeinheiten aus Benešov, auf der Suche nach der letzten Lücke. Die Barrikadenkämpfer ergaben sich ohne einen einzigen Schuß der Übermacht, wurden gezwungen, die Durchfahrt freizumachen, und danach in den Keller der Feuerwache hineingepfercht, mit dem Versprechen, daß man sie morgen früh, sobald die Division drüben ist, zusammen mit der Brücke in die Luft jagen würde. Die verwilderten Deutschen sperrten den Zehnjährigen zu ihnen. Trotz der Todesangst schlief er bald vor Müdigkeit ein.
Auch damals wachte er im Dunkeln auf, und er vergaß später nie, wie ihm Tränen über die Wangen rannen bei der Vorstellung, daß er nach einem Weilchen in Stücke gerissen werden sollte und nie mehr ins Kino, zum Angeln oder sonstigen Freuden der Kindheit könnte, ja, damals erschien ihm selbst die Schule ein Paradies...
In der Morgendämmerung hat die Gefangenen zum Glück ein SS-Offizier übernommen, der sein Leben nicht mehr dadurch komplizieren wollte, daß er sich noch in den letzten Stunden des Krieges auf die Verbrecherliste setzte. Zuerst hat er Karelchen mit den Worten entlassen, mit denen Augenzeugen ihn ewig geneckt haben.
«Ein kleines Kind spielt nicht im Hochwasser!»
Langsam kam er nun zu sich und begriff, wo er sich tatsächlich befand und was er da suche. Der Schlaf kam ihm bestens zugute. Keine Spur von Alkohol, und was nicht weniger wichtig war, keine Gewissensbisse. Bald wird er doch Zdena überzeugen, daß sie ihm unrecht tat, und die kleine Zuzi, daß sie einen braven, jawohl! Opa hat, denn es kommt doch nicht auf den Titel an. Eine leichte Ermattung der Glieder erinnerte ihn an den Liebeskampf, bei dem er besser bestanden hatte, als viele Jüngere es schaffen würden. Und sein ausgeruhtes Gehirn war begierig, wieder auf vollen Touren in Sachen Glas und Zukunft zu laufen.
Die Dunkelheit wurde von den schweren Vorhängen künstlich erzeugt, und Gerda war pünktlich, es konnte also noch nicht Viertel nach drei sein... fünfzehn siebzehn! lächelte er, als ihm das kindische Lizitationsspiel in den Sinn kam. Genüßlich streckte und reckte er sich, bereitete sich geistig darauf vor, was ihn erwartete.
Von seinem Vertrag hatte er eine präzise Vorstellung, und er leitete sie über Gerda beim letzten Wiener Besuch nach Hongkong weiter; Gerdas Postkarte, mit abgesprochenem Grußtext, hat ihm nach Prag das Ja der Firmenleitung bestätigt. Er setzte keine Komplikationen voraus, der Inhalt des Umschlags müßte die Leute selbst in seiner unvollständigen Fassung überzeugt haben, daß sein Angebot dem Verlangten entsprach. Unerfreulich war nur die neue Trennung von ihr, doch er hat schon Schlimmeres überlebt als vierzehn Tage luxuriöse Einsamkeit in der Metropole der Sünde. Übrigens konnte er sich aus diesem Grund am Anfang ganz und gar seinem Job widmen, und um so mehr würde er dann Zeit für sie haben. Spätestens im August möchte er sich seinen Traum erfüllen: einen Urlaub auf Tahiti.
Er machte das Licht über dem Bett an, um das Zifferblatt seiner Uhr abzulesen, und war schockiert: zehn Minuten vor fünf! Gleichzeitig ertönten die Kirchenglocken von Wien. Na klar, sie war schon hier und ließ mich weiter süß schlafen! Er sprang aus dem Bett und zog die Gardinen auseinander. Die großen Fensterscheiben führten auf das Herz der Stadt, hinter dem blühenden Stadtpark zogen sich die stolzen Portale der Paläste am Ring dahin, und über all dem zeigte der schlanke Finger des Doms in den Himmel. Die Sonne stand noch hoch, der längste Tag des Jahres doch!
Er drehte sich um und suchte nach einer Nachricht. Als er nichts fand, zog er sich schnell an, damit er gleich aufbrechen könnte, sobald sie erschien. Widerwillig schlüpfte er in das alte Oberhemd, über frische verfügte er nicht, weil sich der Koffer bei den verflossenen Landsleuten befand; er mußte gleich noch zumindest zwei neue kaufen und Wäsche für die Reise, bevor er sich in Seide kleidet, die in Hongkong für ein Spottgeld zu haben sei. Sofort wollte er auch etwas Tolles für Tochter und Enkelin aussuchen, Gerda wird gern ihm mit Rat und Tat beistehen, auch den Versand besorgen. Schmeißt Zdena alles trotzig weg, ist es ihre Sache!
Als er fertig war, schlug es fünf, und er verspürte Unruhe. Ist ihr was passiert? Er zog sein dünnes Telephonbuch, fand ihre hiesige Nummer, unter einem fiktiven tschechischen Namen chiffriert, tippte sie in den Tastenapparat ein und wartete. Ein Piepston meldete sich, als hätte ein Papagei abgenommen, und eine metallene Stimme wiederholte den automatischen Text.
«Kein Anschluß unter dieser Nummer... Kein Anschluß...»
Anscheinend hat Gerda das Telephon schon abgemeldet. Und was sollte sie zu dieser Stunde im fernen Grinzing suchen? Ihre Chefs müssen sie aufgehalten haben. Irgendeine Komplikation? Die Firmennummer hatte er sich vorsichtshalber nie notiert; im Fach des Telephontischchens lag das vierteilige Fernsprechbuch. Da erinnerte er sich, daß die hiesige Vertretung des Chinaglass ihren Sitz bei einer anderen Firma hat, um die er sich bislang nicht gekümmert hatte, da die Kontakte allein Sache der auffällig unauffälligen Gerda bleiben sollten.
Er entschloß sich, für alle Fälle ein paar Tausender abzuheben, und lobte Gerda für die Idee, das Geld auf ein Postsparbuch einzuzahlen, eine Post findet man überall. Auf das Hotelbriefpapier kritzelte er die Nachricht, er komme sofort zurück, sie solle hier warten; er legte es auf den Teppich an der Tür. Als er sie hinter sich zuschlug, durchfuhr es ihn: Er hatte keinen Schlüssel. Und wunderte sich gleich: Sie hat ihn doch eingesperrt, wie kam er also raus? Ach! beruhigte er sich, es ist ein Hotelschloß, hier kann man immer öffnen.
Für einen Ersatzschlüssel mußte er jetzt in die Halle hinunterfahren und dort einfach melden, er sei der Gast im Appartement 1213, von Frau Gerda Vargasz bestellt und zu bezahlen. Dabei blitzte es ihm durch den Kopf, sie könnte bei der Bestellung die Telephonnummer der Firma angegeben haben, und er fragte, ob er den Auftrag sehen könne. Die Empfangschefin blätterte zuvorkommend im Ordner nach, doch dann stockte sie.
«Wer soll zahlen?»
«Frau Gerda Vargasz», wiederholte er.
«Hier steht aber ein ganz anderer Name.»
«Der Firma vielleicht!»
Noch immer hat sie ihm das Papier nicht überreicht und studierte es weiter.
«Heißen Sie Marka-luss?» fragte sie; den Doppellaut «ou» kannte die deutsche Sprache nicht.
«Markalo-us!» verbesserte er sie, wie er es hier gewöhnt war, »Ingenieur Karel Markalous.»
«Das stimmt, aber das ist auch schon alles. Die Bestellung kommt aus Prag, und hier steht, Sie zahlen selbst.»
«Ausgeschlossen!» erwiderte er heftig, daß er hier wohnen würde, wußte er selbst heute früh noch nicht.
Da dämmerte ihm, daß das Ministerium, das Prager Unterhändler stets im Hotel «König von Böhmen» einquartierte, zur Vertragsunterzeichnung ausnahmsweise diesen Luxus bestellt haben könnte. Als lauerten hinter ihm bereits Štrasmajer und Co., drehte er sich rasch um. Da standen sie nicht, zum Glück, aber es konnte ihn noch nicht beruhigen. Sie reichte ihm den Papierbogen, und er starrte auf eine Reservierung der Monopolgesellschaft GmbH Glasimpex, die für den 21. 6. 1983 eine Suite für Ing. Karel Markalous bestätigt, von dem Gast persönlich bar zu bezahlen, unterzeichnet Ing. K. Markalous.
Wüßte er nicht genau, daß er das nie unterschrieben haben konnte, müßte er sich jetzt für einen hoffnungslosen Sklerotiker halten. So aber wurde er von Panik ergriffen: Was soll das alles? Der erfahrenen Rezeptionistin war seine Verwirrung nicht entgangen. Sie wurde aufmerksam.
«Irgendein Problem?»
«Nein, nein! Ein Fehler meines Sekretariats, nichts weiter...!»
Im Handumdrehen hatte er eine neue Erklärung. Natürlich! Gerda entschloß sich zu dieser Fälschung, um seine neue Verbindung nicht vorzeitig zu verraten. Daß sie nicht dazu kam, es ihm zu sagen, war schließlich seine Schuld. Erleichtert lächelte er der Frau zu und verließ das Thema mit der Frage nach dem nächsten Postamt. Sie zeigte ihm gleich zwei auf dem Hotelstadtplan und fragte nicht weiter. Als er sich jedoch in der Drehtür umwandte, sah er, wie sie, die Ordre in der Hand, mit jemandem telephoniert.
Schnell schlug er sich das Bild aus dem Kopf; jedenfalls besaß er das Sparbuch! Und er muß sich ohnehin daran gewöhnen, nicht mehr der alte Klinkenputzer zu sein, sondern internationaler Spitzenfachmann, der nur in den teuren Hotels absteigt und natürlich auch selbst zahlen kann. In Gedanken vertieft, verirrte er sich und nahm dann mit einer kleinen Post in der Nähe der Oper vorlieb, wo er am Schalter ziemlich lange warten mußte, die Betriebsboten brachten die Tageskasse und Massensendungen. Vor Nervosität und Hitze wurde seine Kehle trokken, die Stimme versagte beinahe, als er endlich die Beamtin fragen konnte, ob er von seinem Sparbuch einen höheren Betrag abheben könne. Er mußte es wiederholen.
«Je nachdem», meinte sie dann, «wie hoch?»
«Zehntausend...»
«Die haben wir bestimmt da.»
Falls es Ironie war, klang sie höflich. Sie schob ihm ein Blatt zu.
«Schreiben Sie das Kennwort drauf!»
Mit einem Kugelschreiber, an der Kette diebstahlgesichert, setzte er in Blockschrift Sex. Sie strich es quer durch und gab ihm das Papier zurück.
«Sie müssen sich bessern.»
«Wie...?» er verstand sie nicht.
«Das Kennwort lautet anders!» erklärte sie schon ein wenig ungeduldig, eine neue Schlange bildete sich hinter ihm.
Er rief sich die Worte vom Mittag in Erinnerung, noch glaubte er, etwas verwechselt zu haben.
«Liebe!»
«Nein.»
«Ich weiß schon: Glas...»
«Nein.»
«Gerda?»
«Es tut mir leid.»
Er wurde rot, dieses Ratespiel stempelte ihn zum Betrüger, doch er sah nicht danach aus, und die Beamtin schien bereits Mitleid mit ihm zu haben, vielleicht auch seines tschechischen Akzents wegen. Leise, daß die anderen es nicht hörten, versuchte sie, ihm vorzusagen.
«Offensichtlich ebenfalls ein Name... ein fremder...»
«Markalous! O-u...»
Sie schüttelte den Kopf. Mehr konnte sie ihm nicht helfen. Er hielt sich jedoch an seiner letzten Hoffnung fest.
«Ich habe das Sparbuch erst heute mittag bekommen, man hat sich vielleicht vertan. Was nun?»
«Den Einzahler kennen Sie?»
«Natürlich.»
«Fragen Sie also nach. Die Telephonzelle ist dort.»
Und streckte die Hand nach einem Stoß Einschreibebriefe aus, die ihr der hinter Markalous stehende Bote aufdrängte.
«Danke...» sagte er niedergeschmettert, «ich hole mir bloß die Nummer...»
Er entfernte sich langsam, sie rief ihm nach.
«Ihr Sparbuch.»
Er kehrte zum Schalter zurück, steckte es ein und ging wie betäubt auf die Straße hinaus. Nein... das alles... es muß doch ein Traum sein, eine Fortsetzung des Kellertraums... Das bestätigte sich, als er auf dem Rükken eines Zeitungsverkäufers, der soeben an der Ecke aufgetaucht war, sein eigenes Porträt erblickte! Er kam näher und sah die Titelseite der Abendausgabe, in eine Sichthülle gesteckt.
Flucht oder entführung? fragte die daumendicke Schlagzeile. Unter einem Agenturphoto, gewiß während eines der vorherigen Besuche geschossen, meldete ein fetter Untertitel: Tschechoslowakischer delegationschef vermisst.
Er blieb stehen. Wenige Meter von ihm entfernt fing ein Leierkastenmann mit Melone an, die Kurbel zu drehen. Der breite Boulevard, in eine Fußgängerzone verwandelt, quoll über von eilenden und flanierenden Menschen, über deren Köpfen wie ein bizarres Luftschiff eine Traube grellfarbener Luftballons in Häschenform schwebte... immer schon wollte er sowas Zuzi mitnehmen, jedesmal aber schämte er sich, wie er wohl damit an der Grenze dastehen würde, erst jetzt fiel ihm ein, daß er hier das Gas herauslassen und es zu Hause im Labor wieder einfüllen konnte... in der anbrechenden Dämmerung wurden langsam die Neonschriften sichtbar, begleitet von der suggestiven Filmmelodie aus dem «Dritten Mann». Hoch darüber schien der bis dahin blasse Mond an der Turmspitze anzulegen.
Als er hier zum erstenmal war, vor mehr als zwanzig Jahren, drängte sich zu Füßen des Turms eine schaulustige Menschenmenge und blickte gespannt zu den Wasserspeiern empor, an die sich in schwindelerregender Höhe eine menschliche Gestalt klammerte. Er hatte damals keine Zeit herumzulungern, im übrigen litt er seit frühester Jugend unter Schwindelanfällen, weshalb ihm das bloße Hinaufschauen weh tat. Tags darauf las er in der gleichen Boulevardzeitung, die jetzt sein Verschwinden brachte, der Turmmensch habe seine Arbeit verloren und drohte herunterzuspringen, falls er sie nicht wiederbekäme. Darauf war von innen, aber immerhin auch halsbrecherisch, sein Chef zu ihm hinaufgeklettert, hatte ihn dort oben wieder eingestellt und sogar sein Gehalt erhöht; die Reporter schrieben höhnisch, normalerweise hätte die Firma für eine vergleichbare Reklame eine Riesensumme zahlen müssen, wer weiß, ob es nicht ein abgekartetes Spiel war.
Nach einiger Zeit, als sich das Gehirn immer schwächer dagegen, wehrte, begriff Ingenieur Karel Markalous, daß er soeben alles verloren hatte, was ein Mensch im Leben besitzt: Heimat, Liebe, Geld und Ehre. Er konnte nur noch auf den Turm klettern, doch niemand würde ihn retten. Ein kleines Kind, dröhnte es in seinem Kopf, darf nicht im Hochwasser spielen...