Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 28
16. Den selben Tag, 20.00
ОглавлениеDas Pech, das seit dem frühen Morgen an ihnen klebte, blieb in der Tschechoslowakei zurück, wohin es nach Meinung des Ehepaares Čierniak auch gehörte, wie die Kommunisten. Von der Grenze an war ihre Laune nicht minder strahlend als das Wetter. In Carnumtum leisteten sie sich wie bei allen vorherigen Reisen den teuren Genuß der Einkehr in ein Gartenrestaurant. Da sie nach all ihren Verspätungen schon regelrecht ausgehungert waren, durfte es sogar was Warmes sein.
Nachdem es Miro glückte, auf Anhieb den Bananensplit mit Schlagsahne und heißer Schokolade herauszubetteln, bat Magda um ein bißchen Taschengeld in Devisen und bekam es auch. Abseits schrieb sie die erste versprochene Postkarte an Gabriel. Sie war froh, daß es ihr genauso unverbindlich verbindlich gelang, wie sie sich das vorgestellt hatte.
Ahoj, Gabo. Bereits eine ganze halbe Stunde von Dir entfernt, bin ich bislang niemandem begegnet, der einer Sünde wert wäre. Es grüßt Dich Deine Kameradin M.
Terezie Čierniak, ihre Mutter, lehnte sich sonnenhungrig in ihren Stuhl zurück, um ihr mehliges Gesicht endlich zu bräunen, beobachtete dabei aber mit halb geschlossenen Augen verstohlen den Gesichtsausdruck der Tochter; er verriet ihr alles. Kinder pflegten sich heute den Eltern nicht mehr anzuvertrauen, wie sie es noch selbst getan hatte, im Gegenteil, sie brachten fast überbetont zum Ausdruck, daß sie ihre Erfahrung wenig schätzten. Von Welt und Geschichte hatten sie zwar nur eine nebulöse Vorstellung, und Politik ekelte sie wie eine ansteckende Krankheit, dennoch erkannten sie instinktiv, daß sie in einer stinkenden Sackgasse leben mußten, in die sie von den großmauligen Vorgängern gebracht worden sind.
Diese Jungen, wußte die Mutter, waren nicht auf den Kopf gefallen, ohne mit der Wimper zu zucken, papageiten sie die ideologischen Phrasen und nahmen an den Staatsritualen teil, ihren Spott erntete jedoch jeder, der sie davon überzeugen wollte, daß man damit irgendwelchen Idealen diene. Die Lüge war ihnen ein Mittel zum Zweck: eine private Wahrheit zu entdecken, die jeder in etwas anderem suchte. Und wenn sie meinten, sie entdeckt zu haben, logen sie weiter, um sie für sich zu erhalten.
Magdas Mutter hatte noch Ideale gehabt, doch bald wurde sie darum gerade von jenen Menschen gebracht, die von ihr verlangten, dafür zu kämpfen. Nach dem Abitur bekam sie als ziemlich aktives Mitglied des Jugendverbands, sie tanzte gern und organisierte deshalb eine Volkstanzgruppe an der Schule, ein Angebot: als bezahlte Instruktorin des Zentralsekretariats weiterzumachen. Bald durchschaute sie, daß sie von Zynikern umgeben war, die ihrer Karriere wegen auf alles pfiffen, was sie vor den Massen inbrünstig für heilig erklärten.
Sie beschloß, auf Jura umzusteigen, in der Erwartung, dabei ihren alten Glauben wiederzuentdecken. Noch vorher hatte sie an der zahnärztlichen Fakultät Bohdan kennengelernt, nicht als künftigen Zahnarzt, ihr Gebiß war noch heute ohne jede Plombe, sondern als Leiter und Primas einer Cimbalkapelle, die sie zur Maidemonstration einladen wollte. Er war ein anständiger, strebsamer und im ganzen nicht häßlicher Slowake vom Land, der ihr noch in derselben heiligen Nacht des Proletariats an der Mauer des Ehrenfriedhofs ihr Kränzchen raubte. Während ihres Falls vernahm sie wonniges Lustgestöhn von rechts und links und war etwas irritiert, daß das Fest des Lebens in Hörweite der gefallenen sowjetischen Helden stattfand.
Einen Monat später wußte sie bereits, daß sie sich in anderen Umständen befand, geschwängert von einem Burschen, meilenweit vom Bild eines Mannes entfernt, den sie lieben möchte. Die Möglichkeit einer nicht genehmigten Abtreibung gab es damals nicht, und noch dazu liebte er sie über alles; sie traute sich nicht, vor der Kommission als Grund anzugeben, daß er sie langweile. So endete, mit einer kurzen Wiederkehr, die Jugend von Terka Raňajková, die sich allmählich an ihre Ehe gewöhnte, um so leichter, je weniger glückliche Frauen sie um sich sah. Sie wünschte sich sehnlich, ihre Tochter möge ein besseres Schicksal erwarten; das war es auch, was sie von dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten erwartete.
Bis gestern abend zitterte sie, daß Magda auf den Leim gehen könnte, auf dem die Träume der Mutter klebengeblieben waren. In dem selben Maß, in dem sie ihr erstes Erglühen für ihren Gabriel beobachtete, war sie in der Tiefe ihrer Seele glücklich über das Fluchtunternehmen, das dieser Beziehung ein Ende setzte. Es verschreckte sie, daß die Tochter die Geschichte der Mutter wiederholen sollte; hübsch, leidenschaftlich und naiv genug, war sie nach ihr geraten. Das Malheur bestand darin, daß Magda es anders als sie gelernt hatte, kämpferisch und stur zu sein.
Als sie die Tochter so unbeobachtet beobachtete, wie sie mit ihrem ganzen Wesen der sich leiblich entfernenden Liebe seelisch immer näher kam, befiel die Mutter Angst, ob sie imstande sein würden, Magda glaubhaft zu machen, daß sie nur ihr Bestes im Sinn haben. Sie hatte mit ihrem Mann ausgemacht, daß sie, ehe das Flüchtlingslager sie schluckt, den letzten Abend und die Nacht in angenehmer Umgebung verbringen und mit den Kindern offen reden werden. Sie stand auf, wollte schon dort sein, um sich nicht länger wie eine Betrügerin vorzukommen.
Magda warf die Postkarte in den Briefkasten, Miro hat ein Comic-Heft ergattert, und weiter ging’s gen Sizilien. Um sich von ihrer Nervosität zu befreien, fing die Mutter Volkslieder zu singen an, und die anderen fielen mit ein. Die Kinder begrüßten mit Indianergeheul, daß der Vater plötzlich von der bekannten Route abbog und ihnen ankündigte, man werde zur Feier der beginnenden Ferien, die sie so geschickt verlängert hatten, in einem sagenhaften Hotel übernachten, wo er dank einer Einladung vor zwei Jahren an einem Zahnärztekongreß teilgenommen hatte!
Von dem Städtchen Rust waren sie hell begeistert. Auf jedem Schornstein staksten in flachen Nestern Störche. Das Hotel am See hat sie geradezu hingerissen, es bot mehr Komfort als das beste in Bratislava. Sie badeten dann im herrlichen Wasser, und alle drei verwunderte Vaters Eröffnung, daß selbst an der tiefsten Stelle der riesigen Wasserfläche, auf der schon die Rundung der Erde sichtbar war, man immer noch stehen konnte. Mit dem Quartier gab es irgendwelche Probleme, doch die Kinder nahmen sie nicht wahr, sie erlebten diesen Luxus zum erstenmal.
Im Speisesaal empfing sie eine Zigeunerkapelle, vor allem jedoch ein kaltes und warmes Büfett unglaublicher Leckerbissen, von denen sie nach Belieben nehmen durften, ohne Aufpreis! Miro protzte am Anfang, er werde radikal alles wegputzen, doch nach einer Viertelstunde war er geschafft. Er wollte sich einige der Köstlichkeiten für die weitere Reise einpacken und wunderte sich zum zweitenmal, daß das nicht erlaubt war. So saß er aufgebläht da und kämpfte gegen die Lust, laut zu rülpsen, wie man sich damit in der Schule zu übertrumpfen suchte, doch die Eltern hätten ihn gewiß ins Zimmer geschickt. Magda schrieb eine Ansichtskarte mit eingekreister Nr. 2.
Servus, Gabo! Jetzt liegen mehr als fünfzig Kilometer zwischen uns, doch ich bin immer noch, wie ich war. Und du? Bis dann. M.
Sicherheitshalber zog sie damit gleich zu dem Briefkasten am Hoteleingang. Die Mutter verscheuchte inzwischen die schwarzen Gedankenwolken. Magda reist doch so schrecklich gern! Schon die Vision von Hollywood müßte sich schließlich als stärkerer Magnet erweisen als eine zum Glück nur platonische Verwirrung.
«Jetzt sagen wir es ihnen», erklärte sie ihrem Mann entschieden.
«Was?» interessierte sich der vollgestopfte Miro.
«Etwas. Sei nicht neugierig, warte, bis Magda zurück ist.»
Da war sie wieder.
«Sie wollen uns was sagen«, rief Miro wichtigtuerisch.
«Aha, und zwar was?»
«Was würdet ihr beide dazu meinen», fing Doktor Čierniak von weither an, «wenn wir heuer viel weiter fahren würden als nach Sizilien?»
«Wohin?» Miro platzte vor Neugier und rülpste nun endlich doch.
Ein vernichtender Blick der Familie strafte ihn, doch seltsamerweise kein Rausschmiß. Nicht einmal eine Rüge bekam er. Lächelnd spannte der Vater die Kinder auf die Folter.
«Sehr weit. Ratet mal!»
«Nach Australien», schwadronierte der Sohn ermuntert.
«Das nicht. Dort gibt’s doch nichts außer Kaninchen!»
»Nach Afrika», tippte die Tochter mit mehr Logik, weil es in der geplanten Richtung lag.
«Nach Amerika», gab der Vater stolz bekannt, «und zwar in dessen schönsten Teil, nach Kalifornien.»
Damit hat er wie erwartet die beiden begeistert.
«Mordsding!»
«Nein! Wieso?»
Und so schenkte er ihnen reinen Wein ein. In einer kurzen, nicht gerade schlechten Rede versuchte er, ihnen zu erklären, warum Menschen ihre Heimat verlassen und warum er mit der Mutter auch für sie, ihre Kinder, eine solche Entscheidung getroffen hat.
«Wir wollten und durften es euch nicht sagen, es wäre ein großes Risiko gewesen, es auszuplaudern.»
Er gab zu, sie haben ein halbes Jahr gebraucht, unauffällig die Brücken hinter sich zu verbrennen, damit sie für sie beide ein neues Zuhause im besten Land der Welt aufbauen konnten. Deshalb führen sie nicht nach Italien, sondern in ein Flüchtlingslager, dort wird man sie einige Wochen versorgen, ehe sie Asyl und Einreisevisa bekommen. Dort ist nicht gerade Komfort zu erwarten, doch vom Urlaubsgeld kann man immer etwas zuschießen. Sie werden Englisch lernen und im Wiener Prater ein- und ausgehen, der so viele phantastische Attraktionen bietet. Jenseits des Teichs verdient sich der Vater schnell einen kleinen Bungalow mit Swimmingpool, sie beide können studieren, was ihnen gefällt, werden durch die Welt reisen können und bald sogar nach Bratislava, weil Amerikaner, zu denen sie werden, einfach alles dürfen.
«Hurra!» rief Miro, hingerissen von der Vorstellung, daß er vielleicht monatelang nicht in die Schule muß.
Magda dagegen heftete sich mit verängstigten Augen an den Vater, als hoffte sie, er werde noch alles für einen Spaß erklären. Als er schließlich fragte, ob sie sich ähnlich freute wie die Eltern, platzte aus ihr heraus, was die Mutter erwartet hatte.
«Was würde er von mir denken?!»
«Wer?» fragte der Vater ahnungslos.
«Der Gabriel doch...!» erklärte seine Frau anstelle ihrer geschockten Tochter.
«Na und?» er tat, als hätte er den Jungen längst vergessen, «ist er es, dem du die zwei Postkarten geschickt hast? So schreib ihm doch ruhig weiter!»
«Vati...!» Tränen schossen ihr in die Augen, «du hast mir an der Grenze gesagt, falls ich einen Wunsch hätte, du würdest ihn mir erfüllen...»
«Jawohl. Ich halte immer mein Wort!»
«Vati, ich bitte dich, fahren wir nach Sizilien und kehren zurück. Ich möchte zu Hause bleiben... Ich bitte dich, Mama...» sie suchte bei ihr Hilfe, und Terezie wurde bang ums Herz.
«Magduška, du hast doch noch das Leben vor...»
«Ja! Und ich will es bei uns daheim verbringen!»
«Glaub mir», tröstete sie der Vater, «du gewöhnst dich bald...»
«Nein!» das klang so stark, daß sich nach ihnen, da die Musik eben Pause machte, die Gäste samt dem Oberkellner in der Tschamara umwandten; sie kümmerte sich darum nicht und setzte ebenso laut fort, «nein, ich gewöhne mich nicht! Ich will mich nicht gewöhnen! Ich mache nicht mit, auch wenn ich allein zurück muß!»
Dr. Čierniak zog das Portemonnaie heraus und vor Aufregung zählte er immer wieder seine Schillinge.
«Ich bitte dich, Terka, bring sie nach oben, warum hier so einen Aufstand machen! Wir kehren doch nicht wegen einer Rotznase in die Wüste zurück!»
Magda zitterte vor heiligem Zorn.
«Du bist gemein!»
Wiewohl sonst ein friedlicher Mensch, kochte er jetzt vor Wut.
«Und du noch nicht volljährig, und deswegen wirst du tun, was man dir sagt. Geh, Terka, geh mit ihr nach oben und sperr sie da ein, und zwar gut!»
Miro freute sich weiter. Die Ferien begannen einfach stark.