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19. Den selben Tag, 22.33

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Die Zeit in der seltsamen Autowerkstatt, die sich zweifellos an der Not der Flüchtlinge mästete, was auch die Großzügigkeit des geheimnisvollen Grenzers erklärte, hatte für Dora den Anstrich des Irrealen. Sie ließ sich einst von Milans Kollegen zu einem Scherz überreden, als er den jungen König Karl IV. spielte: Man legte ihr ein Kostüm an und führte sie in eine riesige Außendekoration hinter den Studios von Barrandov. Der Herrscher sollte sich allein in ein Dorf verirren und dort der Versuchung schöner Dörflerinnen widerstehen. Sie befand sich unter ihnen, und er, nachdem er sie erkannt hatte, verdarb husarenartig die Aufnahme, hob sie geschickt zu sich in den Sattel und ritt mit ihr vom Drehort. Begleitet von Ovationen, die sie zum erstenmal zusammen mit ihm erlebte, lernte sie das Opiat kennen, dem er verfallen war. Es blieb ihr dabei im Gedächtnis haften, daß der Dorfplatz, der so echt ausgesehen hatte, auf der Rückseite nur ein Gewirr von Brettern, Latten und Stützen war.

Seit dem Augenblick, als sie ihre Zustimmung gab, kam es ihr ab und zu vor, als hätte Milan sie in einem anderen Stück in eine ähnlich glaubhafte Dekoration versetzt. Bald aber geriet sie wiederholt in den Zustand von Angst, der um so stärker anwuchs, je näher die Stunde des Aufbruchs rückte. Von dem Tunnel trennte sie zum Glück kein Kilometer, sie haben deutlich bei einigen Zügen das Rattern der Achsen über die Gleisnähte gehört.

Die Koffer und Taschen trugen sie in die Werkstatt und stellten sie unter der schwachen Glühbirne ab, dabei half der Jugoslawe. Dann ging er, und sie konnten ungestört umpacken. Dora wollte Petřík noch einmal in den Škoda setzen, zum Ausschlafen, doch er wehrte sich verzweifelt dagegen, und sie verstand, daß er nicht allein bleiben mochte. Sie versuchte das Unmögliche: aus den bereits sorgfältig ausgesuchten Sachen die nötigsten und wertvollsten herauszuholen. Milan traute sich zu, zwei große Koffer und eine Tasche um den Hals zu tragen, sie übernahm das Köfferchen mit Toiletten- und Wertsachen, den Sack mit Schuhen und beide Bademäntel, ohne die sie sich das Leben in einer Gemeinschaftsschlafstätte nicht vorstellen konnte. Für Petřík blieb der kleine Rucksack, wo sie in Prag heimlich sein Spielzeug unterbrachte und viel wichtigere Sachen dafür zurückließ.

Zu ihrer Erleichterung schien Milan sich wieder zu fangen. Er warf sogar einige seiner Lieblingspullis und -blazer raus, die er sich in Prager Devisenshops gekauft hatte. Er achtete darauf, daß sie nicht zu kurz kam, und ahnte nicht, wie dankbar sie ihm war. Sie griff wie nach einem Strohhalm nach allem, was diesem Risiko Sinn gab. Zum Schluß zogen sie zwei Sweater an und darüber ihre Trenchs. Übrig blieben zwei Taschen und ein Koffer voller aussortierter Textilien, flüchtig aufeinandergehäuft. Oben lag das Kleid, das sie beim «Hamlet» getragen hatte, seit langem hat sie es nicht mehr angehabt, doch es wegzuschmeißen, dazu fand sie den Mut erst jetzt. Er erkannte es.

«Das könnte man doch sicher noch...»

«Komm», sagte sie nachdrücklich, «lassen wir das hier und gehen wir! Wir kaufen uns alles wieder und schöner, wenn wir dort sind, heil und miteinander!»

«Dora», plötzlich sprach er ganz nachgiebig, «wenn du willst, lassen wir es noch.»

Ach, nein! stöhnte sie im stillen, nicht schon wieder! Er kannte sie zu gut, um das nicht zu ahnen, und er gab sich die größte Mühe, sie zu überzeugen.

«Bitte, glaube mir, es ist mein Ernst! Wir packen zusammen und fahren direkt nach Hause, morgen früh sind wir an der Grenze, und dann kann kommen, was will, ich rede die Unseren in Grund und Boden, sie werden doch glauben, daß einer, der soviel spielt und dreht wie ich, kein Ochse ist, um zu wagen, was bislang kein tschechischer Schauspieler je geschafft hat. Los, fahren wir!»

Sie litt um so mehr, weil da immer der arme Petřík herumstand. So sagte sie fast aggressiv.

«Und dann?»

«Was dann...»

«Dann wird was? Schon morgen abend wird es mit dir nicht auszuhalten sein! Bitte...» sie kam seiner Antwort zuvor, «erbarme dich unser und fang nicht wieder an!»

«Gott!» sagte er wieder dreimal, «Gott, Gott, glaubst du mir wenigstens, daß ich dich liebe?»

«Ja! Aber jetzt sollst du vor allem Petřík lieben, damit er es schnell hinter sich hat!»

Als hätte er sie nicht gehört, wiederholte er gequält.

«Ich liebe dich! Ich liebe dich, Dora!»

Sie nickte, mehr schaffte sie nicht.

«Was auch immer geschehen ist, ich hab’ dich geliebt, nur dich!»

Sie nickte wieder.

«Was ich auf dieser Welt am meisten möchte, ist, dich glücklich zu sehen!»

«Dann komm...!»

«Willst du es tatsächlich?»

«Ich will es...»

«Und nicht nur meinetwegen? Bitte, sag es mir!»

«Nicht nur deinetwegen!» sagte sie mit allerletzter Kraft, «auch wegen Petřík und meinetwegen! Wegen uns allen! Komm schon...!»

Sofort beruhigte er sich.

«Nun gut. Also, los!»

Der Mann zeigte ihnen die Richtung und schob in Milans Manteltasche einen Gegenstand, an den sie selbst nicht gedacht hatten: eine große abgewetzte Stablampe.

«Sie ist kräftig und hat eine frische Batterie, sie hält durch, laßt sie gleich hinter dem Tunnel rechts im Gras. Zum Bahnhof sind es dann nur ein paar Schritte. Und nun, guten Übergang!»

Der Pfad führte nach unten, der zunehmende Mond beleuchtete ihn, und so war er mühelos zu gehen. In den Hügeln herrschte Kälte, gut, daß sie tüchtig eingemummt waren. Sie gelangten zum Tunnelportal, weit früher als gedacht, und warteten hinter den Büschen. Die Pause vor dem letzten Akt ihrer Flucht war die erste seit heute früh, in der sie bewußt Luft holen konnten und die Natur vernehmen. Erst jetzt hörte Dora das metallische Brausen der Zikaden und den rohen Schrei eines unbekannten Raubvogels. Verdorrte Gräser schnitten ihr ins Fußgelenk, alles hier war ihr fremd. Sie preßte einen Augenblick den Kopf des Sohnes an ihre Seite.

«Erinnerst du dich an die Kitzlein...?»

«Ja, Mami...»

Es waren nicht einmal vierundzwanzig Stunden vergangen, doch sie kam sich um Jahre älter vor. Sie verspürte die Sehnsucht, die dahinjagende Zeit zum Stehen zu bringen.

«Sobald wir dort sind, Petřík, legen wir uns alle drei zusammen ins Bett, knubbeln uns im Knäulchen zusammen und werden schlafen, schlafen und schlafen. Und wenn wir aufwachen, kauft uns der Vati soo einen großen Berg Eis mit Sahne!»

«Ja, Mami...»

«Komm schon», flüsterte Milan voller Spannung. Seine Omega zeigte eine Minute vor halb elf, in seinem Gehirn schellte es Alarm. Was, wenn sich der Zug verspätet? Jede Sekunde Verspätung zwang sie, die Strecke um einen Schritt schneller zurückzulegen, doch irgendwo lag die natürliche Leistungsgrenze. Gleich danach beruhigte er sich, als in der Tunnelmündung ein unbekannter, geradezu außerirdischer Klang zu vibrieren anfing, der sich plötzlich in das gewöhnliche Rattern von Rädern einer Lokomotive verwandelte, die auch bald erschien.

Sie warteten ab, bis der letzte Waggon mit den roten Schlußlichtern an ihnen vorbeigedonnert war, und der Tunnel verschlang sie.

Bei den ersten Schritten erkannten sie, daß ihnen ein Arm fehlte, der die Lampe halten könnte. Milan wußte sich Rat: Er steckte die Lampe in die Achselhöhle, so daß der Lichtkegel vor seine Füße fiel.

«Haltet euch an mich! Wenn möglich, auf die Schwellen treten! In achteinhalb Kilometern gibt es höchstens zehntausend davon! Okay: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben...»

Bald meldete er nur noch jede zehnte, später jede hundertste. Die Schwellen lagen ziemlich weit auseinander, er mußte die Schritte lang nehmen, hatte mehr von dem Sauerstoff nötig, der mit aufgewirbeltem, stechendem Staub übersättigt war. Dora und Petřík, das wußte er, konnten nicht in seinem Rhythmus gehen, immer wieder traten sie auf den buckligen Schotter. Doch es war ihre letzte teuer erkaufte Chance, sie waren jung und gesund, wie sie immer behauptete, deshalb hat er sie beide jetzt erbarmungslos vorwärtsgehetzt.

Es war mühseliger, als sie es sich vorgestellt hatte, aber wiederum nicht so schrecklich, wie sie befürchtete. Erleichtert stellte sie fest, daß man es zu den Nischen vorn oder hinten höchstens hundert Meter weit hat. Die Röhre war ganz still, gab nur ihre Schritte wieder. Auch Petřík, den der Vater geschickt dadurch munter machte, indem er ihn anfeuerte wie ein Trainer seinen Athleten, konnte den zweiten Atem schöpfen und marschierte munter voran. In Bodennähe war die Luft für ihn reiner. Erstaunt hörte sie, wie Milan bald fünftausend meldete; weil sie selbst vierundzwanzig Nischen gezählt hatte, hatten sie wohl ziemlich die Hälfte geschafft.

«Wie spät ist es?» rief sie keuchend.

Das hat er ausgenutzt, um die Koffer wieder einmal abzusetzen und den Rücken zu strecken.

«Viertel. Viertel zwölf.»

Das «Bald» dauerte also eine dreiviertel Stunde.

«Die Hälfte?» fragte sie vorsichtig.

«Klar! Es läuft prächtig, nur müssen wir ein bißchen zulegen, aber das ist noch drin, nicht wahr, Petřík. Wie bei der Olympiade. So läuft man Marathon, weißt du? Am Anfang schnell, wie es geht, dann dreht man etwas auf, ab der Wende wird richtig gelaufen, und vor dem Stadion setzt man zum Finish an. Also, leg zu!»

«Ja, Papi.»

Milan hat mit seiner ganzen Last tatsächlich beschleunigt, und Dora hatte viel zu tun, um mit ihm Schritt zu halten. Sie bewunderte Petřík, daß er so gut nachkommen konnte, obwohl seine Beinchen sich viel mehr bewegen mußten. Daß sich bei ihnen alles auf nur zwei Funktionen, Laufen und Tragen, konzentrierte, ermöglichte es ihnen allen offensichtlich, tief in die Reserven zu greifen. Das Lampenlicht tanzte vor ihnen wie ein Riesenfalter, der sie anzuführen schien. So legten sie das dritte Viertel zurück, als Petřík zum erstenmal stolperte. Zweimal fing er sich wieder, beim drittenmal fiel er hin.

«Ist dir was passiert?» erschrak sie.

«Nein...»

Der Falter flog davon.

«Milan! Halt!»

Das Licht, auf sie gerichtet, blendete die ans Dunkel gewöhnten Augen.

«Schnell, schnell«, hörte sie ihn, «nicht stehen, laufen.»

«Petřík kann nicht mehr...!»

«Quatsch! Klar kann er. Wir sind fast da! Petřík, jetzt geht’s um die Goldene, hörst du?»

Das Kind brachte nichts heraus. Dora hatte den rettenden Einfall.

«Falls du jetzt die Mäntel und Schuhe... ich nehme ihn an die Hand...»

«Her damit!»

Doch er konnte die Sachen nicht fassen; dabei stellte er fest, daß sein Hemd total durchnäßt war, das viele Zeug, das er übergezogen hatte, war zu einer Schwitzpackung geworden, in die er einst von seiner Mutter bei jeder Erkrankung gesteckt wurde. Das Gehirn half ihm wieder.

«Kommt nach vorn! Vor mich hin! Du trägst ihn und er die Lampe, ich kann euch besser voranbringen!»

Beim Wechsel reichte er die Stablampe dem Sohn.

«Du darfst sie nicht fallen lassen! Nicht, daß du sie fallen läßt, verstehst du? Oder wir sind im Arsch!»

«Nein, Papi...»

«Also, wir machen weiter! Na, Dora!»

«Ja...»

«Leg zu! Du hältst es aus, der Mensch kann alles, wenn er muß!»

Er hatte recht. Obwohl sie keine besondere Sportlerin war und diesen Wahnsinnslauf nun schon mehr als eine Stunde mitmachte, war sie schweißübergossen noch imstande, das Kind zu tragen und sogar ihre Schritte zu beschleunigen. Nur das Zählen der Nischen gab sie auf, die Zeit blieb für sie stehen und dann vielleicht auch die Bewegung, ihr war, als wäre sie an einem Punkt steckengeblieben, und unter ihr lief der zweifache Stahlstreifen samt Schwellen nach hinten. Dann stolperte auch sie. Ihm gelang es, dicht hinter ihr anzuhalten.

«Vorwärts! Weiter! Der letzte Tausender.»

Das waren nicht mehr die Muskeln, nur der Wille allein, der ihren Körper wieder zum Gehen zwang. Petřík, obwohl längst nur getragen, umklammerte krampfhaft mit der linken Hand ihren Hals, als wollte er es ihr leichtermachen, er konnte den Lampenstiel mit der Rechten nicht mehr festhalten, dieser sank nach unten, und der Lichtkegel zielte auf Doras Füße. Milan hat das bemerkt.

«Halt sie ordentlich... leuchte vor uns, daß wir nicht stolpern!»

Sie ließen eine weitere Nische hinter sich, als wiederum der seltsame Klang ertönte. Sie dachte zuerst, es dröhnte in ihrem Kopf, doch einige Sekunden später hatte sie keine Zweifel mehr. Vor Schreck blieb sie stehen. Er hat sie von hinten beinahe umgerissen.

«Weiter! Weiter!»

«Der Zug...»

«Lauf, zum Teufel, lauf!»

«Der Zug kommt...!»

Er konnte sich noch orientieren.

«Von hinten. Wir schaffen es! Nur noch einige hundert Meter!»

Er schoß los. Da er aber das Denken und Sich-Bewegen nicht mehr in eins bringen konnte, nahm er nicht wahr, daß sie noch dastand. Er rammte sie, und Petřík ließ die Lampe fallen. Glas klirrte, und die totale Dunkelheit hat sie umgeben.

«Du Idiot!» brüllte Milan wütend, «was hast du da getan?»

»Laß ihn!» schrie sie jetzt auch und preßte das Kind an sich, «laß ihn in Frieden!!»

Ihre Stimmen verhallten fast in der donnernden Vibration, die mit der Gleichmäßigkeit eines langsamen Paukencrescendos anschwoll. Da hörte Dora ihn wieder brüllen.

«Schau nach vorn, dort!»

Jetzt sah sie selber den schwachen Lichtbogen des zweiten Portals. Milan war noch einmal fähig, das Kommando zu übernehmen.

«Gib her!»

Er nahm ihr auch das Köfferchen weg, es war ihr, als müßte sie gleich vor Leichtigkeit schweben. Sie hörte ihn über das Geröll stolpern und begriff seine Absicht. Er legte das Gepäck an der linken Tunnelwand ab und würde es dort später abholen. Er übernahm den Sohn und fing schwerfällig an zu traben.

«Mir nach!»

Er schöpfte aus dem Letzten, aber lief wirklich wie im Finish, und sie blieb nicht zurück. Der Bogen vorne schien langsam aufzuleuchten, nicht jedoch zu wachsen. Dafür wurde das Dröhnen der riesigen Kesselpauken, das die stehende Luft bereits erbeben ließ, immer stärker. Dora übermannte der Zwang, sich umzudrehen. Deutlich nahm sie ein Dreieck leuchtender Augen wahr.

«Milan, er ist schon...!»

Er hörte sie offenbar nicht mehr. Er sprang vor ihr über die Schwellen und hechelte wie ein großes Tier, über seinen Rücken flog ihr Schatten hin und her.

Die Scheinwerfer der Elektrolok begannen den Raum ringsherum zu durchleuchten. Sie schnitten die Silhouette einer Nische aus, auf die sie hinsteuerten.

«Milan! Da hin! Da hin!»

Er verpaßte die Nische, taumelte mehr, als er lief, als wäre er selbst eine Maschine, die diese Gleise nicht verlassen kann.

Als Dora begriff, daß ihn nur ein automatischer Reflex nach vorn treibt und er jeden Sinn für die Wirklichkeit verloren hatte, tat sie das einzige, wozu sie noch fähig war. Sie wandte sich gegen die Zyklopenaugen und breitete weit die Arme aus. Das letzte, was sie noch hörte, waren der betäubende Pfiff und das nervenzerreißende Gekreische blockierender Eisenräder, die die mächtige Kraft der Trägheit Hunderte Tonnen weiter nach vorn schob.

Ende der großen Ferien

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