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14. Den selben Tag, 16.30

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Der Korporal erkannte sich nicht wieder. Er wußte, daß er seine Ansicht ändern kann, falls ein Irrtum vorläge, doch er ahnte nicht, daß es so schnell vonstatten gehen könnte. Seit dem Augenblick, da der Gedanke in ihm wie eine Automatenmünze klickte und ihn mit seinen alten Zweifeln verband, änderte sich seine Einstellung zu dem aufmüpfigen Schnitter gründlich. Als er beim Gulasch in seine spöttischen Augen schaute und neue Boshaftigkeiten zu hören bekam, begann der Mann ihn gleichermaßen anzuziehen, wie er ihn noch heute früh gefuchst hatte.

Er war sich gewiß, daß der Tscheche abhauen wird, sobald er die erste Gelegenheit wittert, und als die Sonne auf das österreichische Ufer wechselte, das jetzt wie auf einem Reiseprospekt erstrahlte, fragte er sich, warum das gleiche bislang nicht ihm eingefallen war. Seit langem glaubte er nicht mehr an das Gewäsch aus der politischen Schulung, das man höchstens noch Schwachköpfen auftischen konnte, nur Agenten und Kriminelle würden die Republik verlassen. Er selbst hatte doch entfernte Verwandte, die nach dem Krieg, dem Februar 48 und August 68 geflohen waren und jetzt als hochwillkommene Landsleute auf Besuch kamen, denen man hier gern von ihren Devisen abhalf.

Außerdem war der Korporal längst der Meinung, die Menschen sollten das Land selbst wählen können, in dem sie leben und sterben möchten. Nun verhalf ihm dieser trotzige Sensenmensch zu der Entdeckung, daß es eigentlich eine Art Verbrechen ist, die eigenen Bürger in der Heimat wie im Knast zu halten. Bei der Vorstellung, daß er jetzt auf jemanden schießen sollte, der sich hier den Weg zur Freiheit freimähte, war er dem Ersticken nahe, und Empörung kam in ihm hoch auf die Bonzen Marke Scherg, die ihre Soldaten vor die Wahl stellten, zu Mördern oder zu Häftlingen zu werden. Er verspürte Lust, es ihnen zu zeigen.

Wie er jedem, der es wissen wollte, versicherte, er habe genug Zeit für Mädchen wie auch für die Hochschule, wurde ihm jetzt obendrein klar, daß er auch Zeit fürs Wandern habe! Sein Großvater und dessen Brüder haben vor dem Krieg in Pest und Wien geschuftet, wohin sie von zu Haus mit der Straßenbahn fahren konnten, und alle sind danach ans größere Geld und zu höheren Ehren gekommen als die Faulpelze, die nirgendwohin wollten. Sollte nicht auch er, solange sich hierzulande ohnehin nur Füchse und Hasen Gute Nacht sagten und die Schergs mit den senilen Jugendverbändlern herumkommandieren, einen Ausflug in die Welt machen, von der ihn kaum zwei Dutzend Schwimmzüge trennen? Auch Schülerchampion im Kraulen war er gewesen!

Und sollte man ihn in Abwesenheit wegen Fahnenflucht verurteilen, so ließen ihn alle die immer wiederkehrenden Verhaue tschechoslowakischer Geschichte hoffen, er könnte noch vor seinem Dreißigsten wieder zurück sein, rechtzeitig genug für eine Heirat in der Heimat. Als ein fertiger Mann, wohl bemerkt, der es in einer fremden Welt und Sprache gemeistert hatte. Er kannte ein paar Brocken Ungarisch, war durch das Wiener Fernsehen geschliffen, hatte einen bulligen Willen und vor allem Zeit, Zeit, Zeit! Seine dreiundzwanzig Jahre erschienen ihm wie ein Rammbock, mit dem er jedes Tor aufreißen wird.

Er hat einmal einen Kulturfilm gesehen: Korn in der Nährlösung, einmal pro Stunde aufgenommen, wuchs vor den Augen der Zuschauer in einigen Sekunden zur reifen Ähre. Ähnlich schien ihm die Entscheidung, die in ihm erst heute aufging. Zuletzt tauchten in seinem Gedächtnis auch Verse wieder auf, die einzigen, die er je auswendig gelernt hatte, weil ihm der langnasige Held so imponierte, der sie auf der Bühne sprach.

Wir fliehen vor weichlichen Betten

Und sammeln kein Geld in der Truh’

Wir pflegen das Haar nicht zu glätten

Wir lieben und zürnen im Nu

Wir halten zusammen wie Kletten

Und gilt es zu kämpfen, zu retten

Dann kommen wir gerne dazu

Wir sind die Gascogner Kadetten...

Nachdem er durch das Pförtchen zurückgekehrt war und der Schnitter sich an den Rest der Wiese gemacht hatte, beschäftigte den Korporal nur eine einzige Überlegung: Wie?! Dieser Mensch hatte ohne ihn keine Chance, doch auch er wird genug Probleme haben: Als den zweiten Mann nahm er natürlich einen, der am tüchtigsten aussah. Das könnte sich jetzt an ihm rächen. Der Neuling war schon einen Schuß Pulver wert, seit dem frühen Morgen hat er dem Korporal vorgeführt, was für ein toller Bursche er sei, nicht einmal in der Mittagshitze bat er um Erlaubnis, die Bluse ablegen zu dürfen, die MP trug er ununterbrochen vorschriftsmäßig, so konnte er im Nu schießen. Er glühte spürbar vor Verlangen, sich eine Woche Urlaub zu erschießen. Würde er vierzehn Tage bekommen, wenn er sie alle beide erlegt?

Bald hat er zwei Köpfe gehabt. Im einen lief die Gegenwart, im anderen die Zukunft ab: Lebhaft stellte er sich vor, wie der Riese plötzlich die Sense fallen läßt, nach drei Zickzacksätzen kopfüber in den Fluß springt, währenddessen er das Magazin ins Wasser wirft, da er weder mit seiner Waffe flüchten noch aus ihr abgeknallt werden möchte, und dann allein im munteren Strom zu den Fischerbuden hinüberkrault, wegen des häufigen Hochwassers auf mannshohe Pfähle gestellt; wie er mit dem Tschechen in das Jungholz hineinwatet, den österreichischen Zöllnern entgegen, die hier gegen fünf promenieren; auf der ausgetrockneten Zunge verspürte er sogar den bitteren Geschmack des Weins, mit dem sie beide am Abend auf Brüderschaft anstoßen werden.

Gleich morgen früh wird er sich zu einem Deutschkurs melden und ab Herbst auf die Hochschule. Für die Eltern der Flüchtlinge galt ein Gewohnheitsrecht, sofort zu einem «Überredungstrip» anzutreten; er traute sich zu, die Tat vor der Familie erfolgreich zu verteidigen, um so mehr, als ihr daraus kaum Unannehmlichkeiten erwachsen würden. In der Slowakei nahm man auch das sportlicher als in Böhmen.

Den ersten Kopf zerbrach er sich über dem Problem, wie er sich von seinem Milchbart loseisen könnte, um ein schlimmes Malheur zu vermeiden. Ihn unter irgendeinem Vorwand wegschicken? Ihn sofort zu entwaffnen? Blödsinn! In beiden Fällen könnte der Streber, falls sich ein Schräubchen in seinem Gehirn lockerte, eine Garbe rausjagen, er läuft ja entsichert herum! Ihm in die Eier zu treten? Das kam für ihn nicht in Betracht, er wäre unfähig, einen Jungen gemein anzufallen, der ihn für einen Kameraden hielt. Jesusmariajosef! haderte er schon wieder mit dem Himmel, wie mach’ ich’s nur?

Dann gewann der Selbsterhaltungstrieb die Oberhand: Ein paarmal hat er heftig mit dem Kopf von links nach rechts und zurück gezuckt, ähnlich wie auf Nachtposten, wenn er gegen das Einschlafen ankämpfen mußte. Der Fahnenfluchtfilm riß sofort ab. Der Korporal stand auf der Wiese unter dem Felsen, wie so oft vorher, hundert Meter entfernt schob Masopust Wache, und zwischen den beiden rückte Schritt für Schritt der emsige Arbeiter gegen das letzte Geviert des hohen Grases vor. Alles in Butter wie sonst auch! mit der üppigen Phantasie würde er sich bald Rat wissen: Abends einen Ausritt nach Břeclav und einen Meter Bier im Nationalhaus; vielleicht hat Hanka, die flotte Kellnerin, Dienst, die ihm so anständig vorkam, dann geht er mit ihr danach in den Stadtpark, und morgen hat er wieder nur einen einzigen Kopf, einen ganz normalen.

«Genosse Korporal...!»

Es war sein Masopust.

«Ja...?»

«Ich muß mal!»

Er traute seinen Ohren nicht.

«Wie?»

Über die ganze Wiese hin rief der Soldat schuldbewußt.

«Groß...»

Was nun? überlegte der Korporal. Der Junge hielt das Schweigen für eine Ablehnung und entschuldigte sich unglücklich.

«Wahrscheinlich Dünnschiß...»

Der Himmel hat sich inzwischen weiter ganz tüchtig bemüht: Unter der ersten Bude jenseits des Flusses tauchten zwei österreichische Zöllner auf. Der Tscheche starrte ihn gespannt an. Den Korporal quälten jetzt keine Zweifel mehr. Er befehligte wie ein General.

«Wegtreten, zu dem Dingsbums da... zum Weidengebüsch... daß nicht gleich die halbe Welt sieht, wie Sie scheißen! Und sichern Sie die Schußwaffe, sonst treffen Sie noch den eigenen Arsch!»

«Zu Befehl!» rief der Junge ganz nach Vorschrift und sauste los, wohin ihm befohlen wurde.

In voller Kühle schätzte der Korporal ab, wann der Mann da die Hose runterläßt. Man hatte jetzt mindestens eine Minute Zeit. Wie vorher in Gedanken, riß er das Magazin der MP heraus und schlug die Patrone aus dem Lauf. Der Halbkreis der Felsen verstärkte den metallenen Klang. Der Schnitter erstarrte mitten im Schwung, doch nichts weiter. Der Korporal zeigte zum Fluß.

«Na, mach doch!» zischte er dem anderen zu.

Der Kerl blieb stehen, als wären ihm vor Schreck die Beine gefesselt. Mein Gott, erschrak auch der Korporal zu spät, ein Provokateur...? Er warf die MP weg und brach allein zum Fluß auf.

«Renn!» schrie er dem Mann zu, «lauf doch!»

Am Ufer stieß er mächtig ab und holte aus, vereinte Sprung und Wurf. Das Magazin hörte er noch vor dem anderen Ufer ins Wasser plumpsen. Nach einigen Zügen drehte er sich um und war baff: Der Tscheche schmiß zwar die Sense hin und spurtete zum Fluß, doch gleichzeitig johlte er zum Weidengebüsch.

«Alarm! Er türmt!»

Er hatte die liegende Waffe erreicht, und der Korporal konnte im Fluß noch die Sperrklappe hören, o Gott! hat er wieder mal unwillkürlich gebetet, gib, daß er die scharfe nicht findet... damit er richtig reagieren konnte, wechselte er in die Rückenlage und sah seinen Rekruten, wie er unglaublich schnell auf das Ufer zurannte, die Hose mit einer Hand hochhaltend, darum konnte er noch nicht schießen, obwohl der Saukerl von Schnitter, gewiß ein getarnter Offizier auf Grenzkontrolle, jetzt wie Scherg brüllte.

«Feuer, verdammte Scheiße, pump ihn voll mit Blei!»

Masopust, der endlich kapierte, daß er die zweite Hand braucht, blieb stehen und ließ seine Hose fallen, die zwar bis zu den Knobelbechern herunterrutschte, ihn aber nicht mehr am Schießen hinderte. Vor dem Korporal lag das unterhöhlte Ufer, das er nun hinaufklettern mußte, er spürte es jedoch in den Knochen, daß der Schuft, Österreich hin oder her! gleich loslegen wird, komisch, erfaßte er noch, daß ich jetzt, statt vor denen Angst zu haben, auf mich selbst wütend bin... Da erschien der Schatten.

Einer der dickleibigen ältlichen Zöllner, von den tschechoslowakischen Cowboys spöttisch «Grufties» genannt, sprang nun flink vom Ufer ins Wasser zum Korporal hinunter, riß ihn beinahe um und machte die molligen Arme vor ihm breit.

«Hooolt!» fast jodelte er aus voller Kehle zur tschechischen Seite, «Se zül’n auf österreichiches Gebiet! Se begeh’n a strafbare Grenzverletzung!»

Die drüben wurden zum lebenden Bild. Und der Korporal konnte über den Fluß hin den schluchzenden Masopust hören.

«Mist... so ein Mist...»

Er kroch das Ufer hinauf, der andere Österreicher half ihm dabei, der Korporal glaubte, man habe ihm von oben eine komplette Schutzengelpatrouille geschickt. Auf dem Weg zum Jungholz deckten ihm die Zöllner den Rücken, und er hatte endlich Zeit, sich darüber klarzuwerden: Anton Vágner, heute morgen noch im Jugendverband und in der Armee, war jetzt Deserteur und Emigrant.

Ende der großen Ferien

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