Читать книгу Perry Rhodan-Paket 62: Mythos (Teil2) - Perry Rhodan - Страница 104
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Die Runde machen
von Ulf Fildebrandt
»Du kannst mit mir kommen, oder ich hetze dir sämtliche Polizeieinheiten dieses Raumsektors auf den Hals!«
Sujete Berhane sah sich um, weil sie nicht gleich erkannte, woher das Geschrei kam. An den Tischen saßen andere Gäste, manche humanoid, eine Handvoll Blues und Angehörige anderer Völker, die sie nicht kannte. Hinter einem großen Fenster aus Glassit strahlten die Sterne des Milchstraßenzentrums. Die STELLARIS befand sich nicht weit davon entfernt, mitten im Neuen Tamanium.
Gespannt drehte Sujete den Kopf, bis ihr Blick auf einen Tisch fiel, ein wenig entfernt von ihr. Eine Gestalt in einem weiten, grauen Mantel saß daran, nur der Kopf blieb frei. Das Gesicht wirkte terranisch, aber es schien von Schuppen bedeckt zu sein. Die schwarzen Haare fielen glatt bis auf die Schultern.
Ein Mann mit roter Hautfarbe und violetten Haaren beugte sich über den Tisch und schrie auf den Fremden ein.
Sujete atmete tief durch. Sie durfte sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen. Terraner waren nicht gern gesehen in der heutigen Zeit, erst recht nicht im Machtbereich der Tefroder, und wenn sie jetzt auch noch Partei ergriff, konnte es nur schlecht für sie ausgehen.
»Du musst ...« Das Gebrüll des Mannes war bis zu ihrem Tisch zu hören.
Ihr Herz schlug schneller. Sie wollte dem Unbekannten helfen, der offenbar völlig eingeschüchtert war. Auf der anderen Seite ging es sie nichts an. Auch ohne Streitigkeiten hatte ihre Neugierde sie schon oft in Schwierigkeiten gebracht. Wenn sie sich einmischte, war das manchmal nicht gut für ihre Geschäfte gewesen. Im schlimmsten Fall durfte sie ihre Antiquitäten nicht mehr auf der STELLARIS transportieren lassen.
Wieder schwoll das Gebrüll am Nebentisch an.
Dann muss ich wohl doch was machen, dachte Sujete. Sie ließ die Gabel neben ihren Teller fallen und ging zu den beiden Streitenden.
»Ich möchte mich nicht aufdrängen, aber darf ich euch bei eurem Streit helfen?«, fragte Sujete übertrieben freundlich.
Der Mann mit der rötlichen Haut blickte auf, sah sie verwirrt, dann wütend an. »Das geht dich überhaupt nichts an. Geh am besten wieder zu deinem Tisch!«
»Ich glaube nicht, dass er es verdient hat, dass du so herumbrüllst.« Sujete deutete auf den Fremden. »Vielleicht solltest du einfach gehen!«
Ungläubig starrte der Mann Sujete an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Vielleicht sollte ich wirklich gehen!«
Sein Blick ging zu dem Fremden und verlor jede Erheiterung. »Ich komme bald wieder. Das Tamanium bereitet gerade einen Haftbefehl für dich vor. Wegen Vertragsbruch. Wenn ich den in der Hand habe, greift dich jede Polizei auf, auch auf dem hintersten Mond, und liefert dich aus!«
Er drehte sich um und ging weg. Sujete sah ihm nach, bevor sie sich dem Unbekannten zuwandte, der sich wohl unter seinem Umhang verbergen wollte. Sujete erkannte, dass ihr erster Eindruck sie getäuscht hatte. Der Unbekannte war kein Terraner. Das Gesicht des Fremden wirkte nur entfernt menschlich, wie aus kleinen Bausteinen zusammengesetzt. Die Farbe der fingernagelgroßen Hautschuppen war hell, und die Haare schimmerten schwarz, aber auch sie schienen aus einzelnen Teilen zu bestehen.
»Ein Freund?«, fragte sie.
»Was?« Es war nur ein Flüstern. Ein sonderbares Knistern lag in der Stimme.
»Ihr seid befreundet?«
Ein Geräusch kam von Sujetes Gegenüber, das an ein Lachen erinnerte. »Nein, das wirklich nicht.«
Sujete fiel in das Lachen mit ein, obwohl sie nicht verstand, was an ihrer Frage so lustig gewesen sein sollte.
»Mein Name ist Sujete Berhane.« Sie streckte die Hand aus.
»Ataad Xi.« Der Fremde drückte kräftig zu. Er kannte die Geste demnach.
Für einen Moment gaben sie sich die Hände. Auch die Finger waren von Schuppen bedeckt, und Sujete fragte sich, zu welchem Volk Ataad gehörte.
»Was will er von dir?«
»Verhindern, dass ich nach Hause zurückkehre.«
Verwundert sah Sujete ihn an. »Warum interessiert ihn das?«
Ataad hob den Kopf vollständig. Seine Augen glitzerten in einem durchdringenden Blau, wie sie es bei kleineren Tieren von deren Flügeln und Schuppen kannte. »Er soll mich zurückbringen.«
»Und er kommt wieder?«, fragte Sujete.
»Du hast ihn gehört. Spätestens, wenn die Tefroder den Haftbefehl ausgestellt haben. Und hier im Gebiet des Tamaniums wird das wohl schnell geschehen.«
»Und nun?« Als Ataad nur die Schultern hob, fragte sie weiter: »Kann ich dir helfen?«
Sein Gesicht war unbewegt, dann huschten Wellen darüber hinweg, als bewege sich etwas darunter. Seine Stimme war nur ein Flüstern. »Nein.«
»Welchem Volk gehörst du an?«
Wieder erklang das Geräusch, das ein Lachen sein sollte. »Ich bin ein Mosaik.«
Sujete sagte nichts, blickte nur fragend. Geraume Zeit saßen sie sich gegenüber.
»Mein Volk ist ein wenig anders als ihr Lemurerabkömmlinge«, ergänzte Ataad.
Das sehe ich, dachte Sujete, schwieg jedoch, um ihrem Gegenüber die Gelegenheit zu geben, die Stille mit Antworten zu füllen.
»Wir bestehen aus vielen kleinen Gliedern«, fuhr Ataad fort, »die alle für sich allein überlebensfähig sind. Diese Einzelwesen schließen sich zu einem Gemeinschaftswesen zusammen, um intelligenter als die Glieder zu sein.« Er blickte auf.
Voller Faszination musterte Sujete die unzähligen Schuppen, aus denen Ataad bestand. Tausende von einzelnen Lebewesen. Sie glaubte zu sehen, wie sich ein paar von ihnen lösten, aber gleich wieder mit der Oberfläche verschmolzen, als wären sie die ganze Zeit eine Einheit gewesen.
»Deshalb Mosaik«, stellte Sujete staunend fest. »Ihr besteht wie ein Mosaik aus vielen kleinen Teilen.«
»Es ist der Begriff im Interkosmo, der dem Namen unseres Volkes am nächsten kommt.« Um seine Aussage zu bekräftigen, streckte Ataad eine Hand aus, die von groben Schuppen überzogen war. Als die Finger für einen Moment ruhig lagen, löste sich eine Schuppe von der Spitze eines Fingers und kroch über die Oberfläche des Tisches.
Fasziniert starrte Sujete auf den kleinen Klumpen und wie er sich zu den anderen gleichartigen bewegte, aus denen sich anscheinend Ataads ganzer Körper zusammensetzte. Er besaß die helle Farbe seiner Haut, winzige Härchen wuchsen heraus, und allmählich veränderte sich die Gestalt.
»Dann bestehst du aus diesen Wesen?«, fragte Sujete fasziniert.
Ataad nickte. »Ich bin die Summe ihrer Körper und ihrer Bewusstseine.«
Von den Mosaik hatte Sujete noch niemals gehört. »Was hast du für Probleme?«
Ataad wandte sich dem Display auf dem Tisch zu, ohne dort etwas zu tun. Danach lehnte er sich zurück, während Sujete keine Anstalten machte, aufzustehen. »Wieso willst du mir helfen?«
Sujete zuckte mit den Achseln. »Der Kerl hatte kein Recht, dich so anzufahren.«
»Woher weißt du das?«, fragte Ataad. »Vielleicht habe ich es ja verdient.« In seiner Stimme lag eine Herausforderung, aber gleichzeitig schien es auch eine ehrlich gemeinte Frage zu sein.
»Was hast du denn getan?«
Ataad lachte freudlos auf. »Nichts, rein gar nichts.« Nach einer kurzen Pause wechselte er das Thema. »Was machst du hier an Bord?«
Sujete spürte, dass sie mehr über sich verraten musste. Vertrauen gegen Vertrauen. Wenn sie nichts von sich erzählte, würde Ataad auch nichts sagen.
»Ich handle mit alten Artefakten. Alles, was mehrere Hundert Jahre alt ist, hat für manche Menschen einen besonderen Wert.«
»Wie die Shenpadri?«
Sujete nickte. »Ich versuche aber mein Geld eher mit Artefakten zu verdienen, nicht mit Legenden. Meine Vorfahren haben schon mit Antiquitäten gehandelt. Die Shenpadri sind auf der Suche nach alten Geschichten, mich interessiert das Materielle.«
Ataad lachte. »Zumindest bist du ehrlich.«
Schweigend fixierte Sujete den Mosaik am Tisch. Erst einige Augenblicke später fragte sie noch einmal: »Was hast du getan?«
»Ich will nur nach Hause«, flüsterte Ataad.
»Und warum darfst du nicht?«
Ataad schloss die Augen. »Ich habe einen Vertrag unterschrieben, den ich erfüllen muss.«
»Was für einen Vertrag?«
»Ach, ich war zuständig für die Organisation bei Handelsgeschäften.« Er starrte Sujete an. »Es war dumm. Mein Vertrag hat zehn Jahre Laufzeit, und ich darf ihn nicht kündigen.«
»Das ist Sklaverei!«
»Auf manchen Welten ja«, antwortete Ataad. »Bei einem Barniter-Konsortium gehören solche Verträge zum Standard.«
Überrascht stieß Sujete die Luft aus. »Du hast bei einem Barniter unterschrieben?«
»Bei Marlh-D4, kein sehr bedeutender Händler, aber wichtig genug, um Telkoltar hinter mir herzuschicken.«
»Der Kerl, der dich gerade so angeschnauzt hat?«
»Genau der.«
»Und warum wollen sie dich unbedingt zurückhaben?« Sujete runzelte die Stirn.
»Ich bin ein Mosaik«, erwiderte Ataad, verstummte jedoch, als wäre das schon Antwort genug.
»Und?«
»Ich kann manche meiner Glieder durch Positroniken ersetzen«, gestand Ataad. »Stell es dir wie einen Posbi vor, nur dass ich mich viel besser aufteilen kann. Und Posbis lassen sich selten von Händlern engagieren. Vor Jahrtausenden haben meine Vorfahren angefangen, Glieder ihres Körpers durch künstliche Bestandteile zu ersetzen.«
»Durch die Positroniken bist du ein besserer Organisator als alle anderen Angestellten des Barniters?«
Ataad nickte.
Er hat die menschlichen Gesten sehr gut gemeistert, wenn man bedenkt, dass dafür unzählige Teile zusammenarbeiten müssen, dachte Sujete. Der Mosaik war faszinierend. So menschlich auf den ersten Blick. Und doch so völlig anders.
»Warum hast du eine humanoide Gestalt?«, fragte Sujete.
»Viele von uns haben Gefallen an eurer Gestalt gefunden. Sie ist schön. Es ist wie mit eurer Kleidung: Ihr zieht auch das an, was euch gefällt. Wir suchen uns unsere Form aus.«
Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, aber sie wusste nicht, ob sie das fragen durfte. Viele Völker belegten ihre Geschlechter mit Tabus. Doch Sujete war einfach zu neugierig. »Bist du männlich?«
Ataad schwieg, und Sujete fürchtete, eine Grenze überschritten zu haben.
»Die ganze Gestalt, die du siehst, ist nur ein Verbund vieler Glieder«, entgegnete Ataad mit ruhiger Stimme. »Kein Geschlecht.«
Nachdenklich brummte Sujete: »Du wirkst männlich auf mich. Ich bleibe am besten dabei.«
»Wie es dir gefällt. Es spielt keine Rolle.«
Stimmt, es ist nicht wichtig, dachte Sujete und erinnerte sich an den Vertrag, den Ataad abgeschlossen hatte. Barnitern steht man besser bei ihren Geschäften nicht im Weg. Sie beseitigen Widerstände und manchmal ihre Konkurrenten gleich mit.
»Und was hast du nun vor?«
Ataad lachte. »Nach Hause, ich habe eine Passage nach Hause gebucht. Die STELLARIS wird mich direkt dorthin bringen.« Sehnsucht lag in seinen Worten.
Wie bei einem Menschen, dachte Sujete und war fasziniert von den Unterschieden, gepaart mit den Gemeinsamkeiten. Ein Mosaik.
»Was ist so besonders an deiner Heimat?«
Die Begeisterung in Ataads Stimme wurde deutlich. »Alles!«
Es war an der Zeit, dass Sujete lachte. »Das sagt jeder über seine Heimat.«
Mit einer Hand tippte er auf das Display des Tisches.
Vor Sujete baute sich ein Hologramm auf. Es zeigte eine weite Ebene. Ein endloses Gebiet voller Gras erstreckte sich vor ihr, aber die Perspektive schien nicht zu stimmen, denn je weiter der Horizont entfernt war, umso höher stieg der Boden an. Am Ende war es eine steile Bergwand, doch das Grün von Wäldern und Seeoberflächen bedeckte sie.
»Was ist das?«
»Meine Heimat«, flüsterte Ataad.
»Aber ...«, begann Sujete. »Das kann so nicht richtig sein!«
»Wofür hältst du es?« Neugierde und Stolz schwangen in Ataads Stimme mit.
Fieberhaft dachte Sujete nach. Die Welt, die sich vor ihr ausbreitete, schien falsch zu sein. Niemals konnte es eine solche Oberfläche auf einem Planeten geben.
Im Weltraum?, dachte sie. Dann kam ihr ein Gedanke.
»Das ist das Innere einer Raumstation«, erkannte sie zufrieden. »Und das ist die Innenwand!«
»Richtig.« Ataad lächelte schief. »Nuova Roma ist ein gewaltiger Zylinder, dreißig Kilometer lang und acht Kilometer im Durchmesser.«
»Und darin lebst du?«
»Ich bin dort geboren und aufgewachsen«, gab Ataad zurück. »Irgendwann wollte ich etwas Neues sehen. Aber jede Welt, die ich besucht habe, sieht falsch aus. Diese endlosen Horizonte sind beunruhigend. Viel zu weit!«
Sujete musste lächeln. Genau denselben Eindruck von Fremdartigkeit, den sie bei der Raumstation gehabt hatte, hatte Ataad offenbar bei einer normalen Planetenoberfläche. Sujete bekam einen Eindruck davon, wie unwohl sich Ataad in seiner Haut fühlen musste. Wenn man überhaupt von Haut sprechen konnte. Der Mosaik war es gewohnt, die Oberfläche seiner Heimat als Ganzes zu sehen. Jeden Wald und jeden See.
Beeindruckt betrachtete Sujete die Darstellung vor ihr. Mit ein paar Gesten änderte sie die Perspektive, um einen besseren Eindruck zu erhalten. Sie flog über die Landschaft hinweg, bis sie zum Ausgangsort zurückkehrte. Es war eine eigene Welt, eingeschlossen in einem Zylinder. Überall standen mehrstöckige Häuser mit weißen Wänden und großen Fenstern, die einen grandiosen Blick auf die Seen und Wälder zuließen. In regelmäßigen Abständen wuchsen kegelförmige Türme fast bis zur Rotationsachse.
»Das ist deine Heimat?«
»Es ist eine von unzähligen Stationen in meinem Heimatsystem. Wir haben nicht nur ein Habitat gebaut. Aber Nuova Roma ist mein Zuhause.«
Minutenlang veränderte Sujete die Sichtweise, bis sie sich zurücklehnte. »Dorthin willst du zurück?«
»Ich muss«, sagte Ataad mit leiser werdender Stimme. »Alle anderen Welten sind falsch. Mir wird schlecht, wenn ich auf einem Planeten bin, genau wie in diesen Raumschiffen.«
»Wieso?«
»Wenn ich zu Hause bin, spüre ich, dass sich meine Welt dreht«, gab Ataad zurück. »Jedes Teilchen meiner selbst spürt die Drehung, und die gibt es nicht auf einem Planeten. Ganz besonders liebe ich es, die Runde zu machen.«
»Die Runde?«
»Lass mir ein paar Geheimnisse.« Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln, und sie konnte ihm nicht böse sein. Jeder hatte seine Geheimnisse, und vor allen Dingen war sie schon neugierig genug gewesen.
Nachdenklich starrte Sujete den Mosaik an. Obwohl er sich das Aussehen eines Humanoiden gegeben hatte, blieb Ataad fremd.
Sie erhob sich langsam. Ihr Blick ruhte auf ihm, unschlüssig, was sie tun konnte. »Wenn ...«, setzte sie an. »Wenn du Hilfe brauchst, melde dich bei mir!«
Mit einer Geste ließ Ataad das Hologramm seiner Heimat erlöschen. »Ich will nur nach Hause.«
*
Sujete lag auf dem Sofa in ihrer Kabine und dachte über die Geschäfte nach, die vor ihr lagen. In den Lagerräumen der STELLARIS waren einige Artefakte untergebracht. Es war nur die Frage, wie sie diese am besten an potenzielle Käufer brachte.
Ein tiefes Summen riss sie aus ihren Gedanken. Sie warf einen Blick auf ihr Armband, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der Anruf kam von Ataad. Der Mosaik hatte sich in den vergangenen Tagen häufig gemeldet. Anscheinend gefiel ihm, wenn sie von ihren Antiquitäten erzählte.
Tausend Jahre alte Roboter der Whistler-Company lagen abgeschaltet in den Behältern. Mehrere Hundert Jahre altes Porzellan von Plophos hatte sie aus den schützenden Prallfeldern geholt, um es ihm zu zeigen. Ein besonders wertvolles Musikinstrument befand sich auch in ihrem Besitz. Das Kitharon von Rynol Cog-Laar, eines Báalols, war ein siebensaitiges Instrument, ähnlich einer terranischen Gitarre.
Sie strich über das Display an ihrem Handgelenk. In einem faustgroßen Holo erschien das Abbild Ataads.
»Kannst du kommen?«, flüsterte der Mosaik.
Verwundert nickte Sujete. »Natürlich, wo bist du?«
»Im Restaurant.« Sein Abbild verschwand.
Sujete sprang auf und lief zum Ausgang. Das Schott öffnete sich automatisch. Durch die Gänge der STELLARIS eilte sie zum Restaurant.
Sie blickte sich um, bis sie Ataad an einem Tisch nahe der Wand fand. Zusammengesunken saß er dort, die Hände auf den Knien verschränkt.
Sujete ging auf ihn zu und blieb einen Schritt neben ihm stehen. »Hallo, was ist denn?«
»Telkoltar hat die Unterlagen beisammen, und wir nähern uns Madar.«
Fragend schaute Sujete ihn an. »Und was heißt das?«
Ataad hob den Kopf. »Telkoltar hat einen Haftbefehl des Tamaniums. Jede planetare Polizei im Tamanium muss mich verhaften. Und Marlh-D4 hat Kontakte, dass sie mich überstellen.« Die Gesichtszüge erstarrten. »Ich kann keinen Planeten mehr betreten. Ein Schiff hat gerade an der STELLARIS angelegt.«
»Aber ...«, setzte Sujete an, verstummte jedoch. Ihre Empörung half Ataad nicht weiter. »Das kann er nicht machen. Du kannst selbst über dich entscheiden. Wenn du nicht mehr dort arbeiten willst, kann er dich nicht zwingen.«
Ataad wurde lauter. »Er kann es. Ich habe den Vertrag unterschrieben und muss ihn erfüllen.«
Sujete atmete tief durch. »Und was passiert als Nächstes?«
»Ein Polizeischiff ist bereits an die STELLARIS angedockt«, sagte Ataad. »Sie kommen, um mich zu holen.«
Seine Verzweiflung zu sehen, tat Sujete in der Seele weh. Es widerstrebte ihr, nichts tun zu können.
Lärm drang plötzlich vom Eingang des Restaurants bis zu ihr. Sie schaute hin und erkannte Telkoltar. Zwei Tefroder gingen entschlossen rechts und links neben dem Angestellten des Barniters. Ihnen folgte ein weiterer Mann, den sie nicht kannte. Er trug die Borduniform der STELLARIS.
»Du gehst mit uns!«, rief einer der Tefroder und griff nach dem Mosaik.
Sujete schob sich wie zufällig dazwischen. »Was habt ihr vor?«, fragte sie mühsam beherrscht.
Telkoltar trat vor Sujete. »Wieso interessiert dich das? Geh aus dem Weg!«
»Ataad ist mein Freund«, beharrte Sujete. »Ich unterstütze ihn.«
Überrascht ruckte Ataads Blick zu ihr. Bisher hatte Sujete ihn noch nie als Freund bezeichnet, und sie musste selbst zugeben, dass es vielleicht übertrieben war. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt, für eine echte Freundschaft fehlte die Zeit.
»Dann solltest du dich von deinem Freund verabschieden«, sagte Telkoltar. »Er geht mit uns!«
Voller Verzweiflung blickte Sujete erst zu Ataad, dann zu Telkoltar und am Ende zu dem Tefroder, der einen Strahler an der Hüfte trug. Im Moment hatte er ihn nicht gezogen, aber wenn sie weiter Widerstand leistete, würde er sicher seinen Worten Nachdruck verleihen.
»Das geht alles ein wenig schnell, oder?«, mischte sich der Mann in der Borduniform ein.
Sujete war verwirrt, was man ihr wohl ansah.
»Prep Ykraus«, stellte er sich vor. »Sicherheitschef der STELLARIS.« Er wandte sich an Telkoltar. »Ihr seid eben erst angekommen, mit einem gerade ausgestellten Haftbefehl. Und ihr wollt einfach einen meiner Passagiere mitnehmen?«
Telkoltar setzte eine übertrieben freundliche Miene auf. »Du hast gesehen, dass alles seine Richtigkeit hat. Bitte steh uns nicht weiter im Weg!«
Ykraus atmete tief ein, behielt jedoch seine Beherrschung.
Bevor der Sicherheitschef etwas sagen konnte, sprach Sujete Telkoltar an. »Ich will kurz mit ihm reden«, verlangte sie und zeigte auf den Mosaik.
Nach einem Moment des Zögerns erlaubte der Gesandte des Barniters das Gespräch mit einer wegwerfenden Bewegung. Ohne sich noch einmal bitten zu lassen, ergriff Sujete Ataad am Arm und zog ihn mit sich.
In einer Ecke beugte sie sich zu ihm. »Also, was machen wir?«
»Ich will auf keinen Fall mitgehen!«
»Das weiß ich, aber die beiden sehen nicht so aus, als würden sie zurückstecken. Der Barniter wird nicht auf deine Fähigkeiten verzichten. Du wirst weiter für ihn alles Mögliche berechnen müssen.«
»Aber jeder Mosaik kann das«, sagte Ataad. »Ich bin ...«
»Was?«, unterbrach Sujete ihn. Ataad hatte davon gesprochen, dass die Mosaik schon vor Jahrtausenden künstliche Bauteile in ihren Körper aufgenommen hatten. Aber bisher hatte Sujete nicht so richtig verstanden, was das bedeutete.
»Jeder Mosaik hat einige positronische Bauteile in seinem Körper«, erläuterte Ataad. »Es ist nichts Besonderes.«
»Dann könnte jeder Mosaik deine Aufgaben erledigen?«
Ataad bestätigte.
»Und wenn es nur ein paar deiner Glieder wären? Könnten sie dann dieselbe Aufgabe erfüllen? Wie das Plasma in einem Posbi?«
Der Mosaik schüttelte den Kopf. »Je weniger Glieder verbunden sind, umso dümmer wird die Verbindung.« Er hob seine Hand. »Mein Arm wäre nur so klug wie ein Haustier. Das würde dem Barniter nicht helfen, egal wie leistungsfähig die Positronik auch wäre. Er braucht meine Kreativität mit seinen Geschäftszahlen.«
Fieberhaft dachte Sujete nach. Sie spürte, dass sie einer Lösung des Problems ganz nahe war. Sie konnte sie nur nicht greifen. »Und wenn ein paar Mosaik einfach eine gewisse Menge ihrer Glieder abgeben würden?«
Ataad schwieg. Erst einige Augenblicke später antwortete er. »Es ist nicht so einfach. Jedes Glied trägt einen Teil der Persönlichkeit, Erinnerungen an die alte Verbindung.«
»Können sich Glieder zu einer neuen Verbindung zusammenschließen und deine Aufgabe bei Marlh-D4 erfüllen?«
»Sicher, aber was hilft das?«
Ein breites Lächeln erschien auf Sujetes Lippen. »Was wäre, wenn es nicht die Glieder von zwei Mosaik wären, sondern die winzigen Mengen von Hunderten von Mosaik? So gering, dass es die gegebenen Verbindungen gar nicht bemerken?«
»Das könnte funktionieren«, flüsterte Ataad. »Es ist eine alte Tradition unter uns. Die Schuld. Wenn ein Mosaik einen Fehler begangen hat, kann er einen Teil seiner selbst als Wiedergutmachung abgeben. Heutzutage wenden wir diese Praxis nicht mehr sehr häufig an. In Legenden wird sie als ehrenvoll bezeichnet, weil ein Mosaik damit Erinnerungen und Erfahrungen mit einem anderen teilen kann. Man schenkt einem anderen einen Teil seiner selbst. Ein paar Habitate greifen noch darauf zurück.«
»Dann ist der Austausch von Gliedern eine Möglichkeit?«
Ataad blickte sie aus seinen strahlend blauen Augen an. »Es ist der Kern unserer größten Legende.«
Neugierde meldete sich in Sujete. »Erzähl!«
»Die Legende ist so alt, dass niemand weiß, ob sie noch auf unserer Heimatwelt geschah oder in einem der Habitate. Lamak und Tolherda waren zwei große Kämpfer. Sie bekämpften sich auf einer Insel und zerstörten so viele Glieder voneinander, dass sie ihre eigene Identität vergaßen. Die verbliebenen beiden Mosaik, die nicht viel intelligenter als Tiere waren, vereinigten sich zu einem neuen Mosaik, Laherda.«
»Vielen Dank!« Sujete erinnerte sich an Legenden unter den Menschen, dass auch bei ihnen die Geschlechter vereint waren und von den Göttern getrennt wurden. Aber bei den Mosaik funktionierte diese Vereinigung immer noch.
Was sie wohl empfinden bei so einer Vereinigung?, überlegte Sujete.
»Es gibt eine Möglichkeit«, sagte Ataad leise, nachdenklich.
»Was meinst du?«
Ataad regte sich nicht. Wie versteinert schaute der Mosaik an ihr vorbei. Dann erst antwortete er: »Ich gehöre einer der großen Vereinigungen meiner Heimat an. Der Vereinigung Xi. Viele Mosaik schulden uns ein paar Glieder.«
»Du willst die Schulden eintreiben?«
In einer menschlichen Geste nickte Ataad. »Es wäre eine Möglichkeit.«
»Du hast ein schlechtes Gewissen dabei?«
»Gewissen?« Ataad legte eine Pause ein. »Ich habe davon gehört, dass ihr Lemurerabkömmlinge so etwas habt. Ich verstehe eure Regeln, um zusammenzuleben. Eine solche Regel haben wir auch. Wir wollen nicht, dass es den neuen Mosaik schlecht geht. Ich bin mir nicht sicher, ob es dem neuen Mosaik bei Marlh-D4 nicht auch so geht wie mir.«
»Er darf nicht zu lange da bleiben.«
Ataad schwieg wieder. Dann endlich murmelte er ein »Ja«.
Sujete drehte sich um. Zielstrebig ging sie auf Telkoltar zu. »Ich will mit Marlh-D4 sprechen!«
Der Gesandte schnaubte verächtlich. »Ich bin nicht an Komplikationen interessiert. Mein Auftrag ist es, Ataad Xi zu Marlh-D4 zu bringen.«
»Und wenn du dann schuld wärst, dass Marlh-D4 ein riesiger Gewinn durch die Lappen geht? Meinst du nicht, dass dein Auftraggeber mehr daran interessiert ist, Geld zu verdienen als an der Ausführung irgendwelcher Regeln?«
Sinnierend blickte Telkoltar auf Ataad.
Er muss darauf eingehen, dachte Sujete. Er hat gar keine andere Wahl.
»Was ist dein Angebot?«, fragte Telkoltar.
»Jemand anderes kann den Vertrag von Ataad übernehmen. Marlh-D4 sollte aber zustimmen. Und das ist nicht der einzige Vorteil. Es wird nicht zu seinem Nachteil sein.«
»Und deshalb soll Marlh-D4 mit dir reden? Glaubst du, er hat so viel Zeit? Ataad soll seinen Vertrag einhalten!«
»Wie gesagt, Marlh-D4 wird einen Vorteil davon haben. Und du hast ihm das Geschäft vermittelt!«
In Telkoltars Gesicht arbeitete es. Sujete sah ihm an, dass er dem Barniter gerne ein gutes Geschäft vermitteln wollte. Wenn Marlh-D4 es ablehnte, konnte er ja immer noch Sujete und Ataad verantwortlich machen, Marlh-D4s Zeit verschwendet zu haben.
»Einverstanden«, sagte er dann, und Sujete unterdrückte mühsam ihre Freude.
*
»Verbindung steht!«, rief Prep Ykraus.
Sujete ließ ihren Blick über die Personen wandern, die sich in Ataads Kabine versammelt hatten. Neben Telkoltar stand der Tefroder, der anscheinend nur auf den Befehl wartete, Ataad mit Gewalt mitzunehmen. Für einen Moment fragte sich Sujete, warum die planetare Polizei sich überhaupt auf dieses Gespräch einließ.
Das Bestechungsgeld von Marlh-D4 muss ziemlich groß sein, dachte sie. Zumindest groß genug, um den Haftbefehl durchzusetzen.
Ataad saß bereits an einem Tisch mit den Kommunikationskonsolen.
Der Sicherheitschef der STELLARIS hatte darauf bestanden, ebenfalls anwesend zu sein. Die Arbeitsweise des Barniter-Konsortiums hatten ihn wohl nervös werden lassen.
»Da bist du ja!«, schallte die tiefe Stimme eines Barniters durch den Raum. Über dem Tisch baute sich das Gesicht im Hologramm auf. Marlh-D4 richtete seine wachen Augen auf den Mosaik, der angespannt auf dem Stuhl saß.
»Hallo«, grüßte Ataad.
»Ich habe gehört, dass du mir ein Angebot machen willst«, sagte Marlh-D4. »Hast du eine Erbschaft gemacht und willst dich freikaufen?« Er lachte laut über seinen eigenen Witz und wurde ruhiger, als er merkte, dass niemand mit einfiel. »Was hast du zu sagen?«
Sujete schob sich nach vorne. »Ich habe eine Idee.«
Der Barniter schnaubte. »Wer bist du?«
»Sujete Berhane, Antiquitätenhändlerin, zurzeit Passagierin an Bord der STELLARIS.«
»Und?« Die Stimme des Barniters klang verärgert.
»Du weißt, welchem Volk er angehört?«
Ein schmieriges Lachen drang über Funk zu ihr. »Natürlich, Ataad ist ein Mosaik. Niemand kann meine Planberechnungen so gut durchführen wie er. Positroniken allein schaffen die Berechnungen viel schneller, aber sie sind nicht kreativ, und ein Mosaik bringt Ideen mit hinein. Wie die Posbis oder ein Haluter mit seinem Planhirn, aber die sind verdammt schwer von meinen Aufträgen zu überzeugen.«
Sujete deutete auf Ataad. »In seiner Heimat leben Milliarden von Mosaik. Alle mit den gleichen Fähigkeiten.«
»Und was willst du mir damit sagen?« Ungeduld lag in der Stimme des Barniters. »Nur Ataad hat sich bisher freiwillig in meine Dienste gestellt. Seine Artgenossen wollen ihre Habitate anscheinend nicht so gerne verlassen. Was willst du mir also anbieten?«
Überrascht atmete Sujete tief durch. »Ich kann dir gar nichts anbieten. Aber vielleicht die Mosaik.« Mit diesen Worten drehte sie sich zu Ataad um. »Du hast mir erzählt, dass Teile eines Mosaik sich lösen und eine neue Verbindung schaffen können. Diese neuen Verbindungen könnten deine Aufgabe erfüllen, oder?«
Ataad reagierte nachdenklich. »Ich weiß nicht ...«
Warum spielt er nicht mit?, dachte Sujete verärgert. Es ist seine einzige Chance! »Erzähl ihm von der Schuld«, forderte sie Ataad auf.
Der Mosaik beugte sich vor. »Manche der anderen Mosaik schulden mir ein paar Glieder. Die abgetrennten Glieder können sich wieder vereinigen und als neuer Mosaik in die Galaxis hinausgehen, zu dir. Du erhältst ihre Arbeitsleistung für einen gewissen Zeitraum. Das ist seit Ewigkeiten gängige Praxis bei uns. Wir nennen diese Abgabe von Gliedern die Schuld.«
»Und? Wenn es gut geht, übernimmt ein anderer deinen Vertrag? Den muss ich wieder einarbeiten. Wo ist da mein Vorteil?« Marlh-D4 klang wütend. »Wo ist da mein Gewinn?«
»Ich weiß, dass viele der Mosaik ein paar ihrer Glieder abgeben werden, zumindest für kurze Zeit. Und wenn du nicht auf die ganz langen Verträge bestehst, werden sie für dich arbeiten. Nach einiger Zeit kehren sie zurück. Mit neuen Erfahrungen von anderen Welten.«
»Noch mal: Wo ist da mein Gewinn?«
»Es finden sich mehr Mosaik, die für dich arbeiten. Deine Chance. Mehr Mitarbeiter, mehr Gewinn für dich. Du wirst deine Konkurrenten ganz einfach übertreffen. Wenn du auf deinem Vertrag beharrst, siehst du niemals wieder einen Mosaik.«
Nachdenklich schaute der Barniter Ataad an. »Und du würdest deine Leute davon überzeugen?«
»Das ist mein Angebot!« Ataad trat selbstbewusst auf, und Sujete konnte ein zufriedenes Aufatmen nicht unterdrücken. Marlh-D4s Habgier würde ihm keine andere Wahl lassen.
Ein Lächeln erschien auf den Lippen des Barniters. Sujete war sich nicht sicher, ob es freundlich gemeint war. Marlh-D4 wirkte eher, als ob er einen Weg gefunden hatte, jemanden übers Ohr zu hauen.
»Kläre alle Details mit Telkoltar!«, sagte Marlh-D4. »Er wird dich begleiten, um dieses Geschäft zu organisieren.«
Das Hologramm erlosch, und Schweigen herrschte im Raum.
»Es freut mich, dass ihr einen Kompromiss gefunden habt«, sagte Prep Ykraus nach kurzer Pause. Der Sicherheitschef der STELLARIS nickte Telkoltar zu, der teilnahmslos mitten im Raum stand. Der Gesandte des Barniters rührte sich nicht und gab mit keiner Geste zu verstehen, dass er den Auftrag erledigen würde.
»Oder?«, fragte Prep.
Telkoltar schüttelte den Kopf, als bemerke er da erst, dass er angesprochen worden war. »Ja«, flüsterte er, »ja, ich denke schon.«
Er drehte sich um, warf Ataad einen Blick zu und ging ohne ein weiteres Wort, den Tefroder im Schlepptau. Kurz darauf folgte Prep, sodass sich nur noch Sujete in Ataads Kabine aufhielt.
»Das haben wir doch gut hingekriegt«, sagte Sujete fröhlich. Sie schaute zum Ausgang, aber das Schott hatte sich geschlossen. Sie waren allein.
Ataad lachte. »Die Schuld hat eine lange Tradition bei uns.«
Sujete betrachtete ihren Freund. »Der Barniter wird seinen Gewinn machen.«
»Ich habe jahrelang bei ihm gearbeitet. Aber anscheinend habe ich noch einiges zu lernen, wenn es um Geschäfte geht.«
Nun lachte Sujete auf. »Wenn man mit Antiquitäten handelt, lernt man viel über die Menschen und wie sie sich Vorteile verschaffen wollen.«
*
»Was ist das?«, fragte Sujete. Sie stand auf einem Kiesweg, der von weiten Grasflächen umgeben war. In einiger Entfernung wuchsen Bäume.
Ein leichter Schwindel hatte Sujete erfasst, sodass sie für einen Moment die Augen schloss und still stehen blieb. Die Perspektive verwirrte sie. Die Landschaft wuchs immer weiter in die Höhe, bis sie den Kopf in den Nacken legen musste, um zu sehen, was über ihr geschah. Als befände sie sich in einer gewaltigen, geschlossenen Welt, deren Wände allerdings bedeckt waren von Wäldern und Seen. Sie erwartete jeden Augenblick, dass die Bäume und das Wasser auf sie niederstürzten und sie unter sich begruben, aber nichts geschah. Es wirkte wie ein surreales Bild fern jeder Realität.
Ataad schob ein Gefährt neben sich her, die Hände auf eine Stange gelegt, mit der man den vorderen Reifen lenken konnte. Ein weiteres Rad war hinten angebracht; es hatte eine Kette und Pedale, um es voranzutreiben.
»Ich habe oft davon geträumt, wieder die Runde zu machen«, sprach Ataad mit leiser Stimme. »Endlich kann ich es tun.«
»Und das da?« Sujete deutete auf das Gefährt.
»Ich habe in der Vergangenheit der Menschen recherchiert«, antwortete Ataad. »Auf vielen eurer Welten gibt es diese Konstruktionen. Ihr fahrt damit anscheinend mit reiner Muskelkraft auf Straßen. Wir haben etwas Ähnliches.«
Sujete hatte schon Bilder von solchen Fahrzeugen gesehen. Als Antiquitätenhändlerin waren sie ihr schon häufig in Katalogen begegnet, aber meistens waren sie zu alt, um für sie erschwinglich zu sein. Auf Plophos hatte sie einmal eines mit breiten Reifen während einer Versteigerung gesehen. Der Preis dafür war unglaublich hoch gewesen.
»Und damit soll ich fahren?«, fragte sie.
Ataad schob das Fahrgerät neben Sujete und hielt es ihr auffordernd entgegen. Sujete umfasste mit einer Hand die Metallstange. Sie fühlte sich kalt an, viel kälter als der sanfte Wind, der ihr entgegenblies. Sujete wusste, dass sich dieser Zylinder ziemlich schnell drehte, aber davon war mit ihren Sinnen nichts zu sehen. Die Umgebung lag ruhig vor ihr, nur die Bewegungen von Fahrzeugen nahm sie in der Ferne wahr. Ziemlich weit über ihr fuhr sogar ein Schiff senkrecht auf einem großen See.
»Wie kannst du dich hier wohlfühlen?«, fragte Sujete.
Ataad lächelte. »Mir hat dieses Gefühl gefehlt. Ich fand es seltsam auf der Welt, auf der Marlh-D4 seinen Geschäften nachging.«
Man kann sich also an die ständige Drehung gewöhnen, dachte Sujete. Und an das Gefühl, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt.
»Die Corioliskraft verwirrt dein Gleichgewichtsorgan«, erklärte Ataad. »Daher kommt dein Schwindelgefühl.«
Sujete nickte.
»Unsere Vorfahren haben diese Rotationszylinder gebaut, als sie im Weltraum siedelten«, erläuterte der Mosaik. »Es gab damals keine Überlichttriebwerke, nur unser Sonnensystem. Ich habe mich ein wenig über euch informiert. Bei euch Menschen gab es auch Pläne für solche Habitate, so weit in der Vergangenheit, dass sich die Geschichten widersprechen. Manche erwähnen die Erde, auf der diese Konstruktionen entworfen worden waren. Andere sagen, dass das nur Märchen sind. Ihr habt sie O'Neill-Zylinder genannt, aber niemals gebaut.«
Erneut ließ Sujete ihren Blick zu der Oberfläche auf der anderen Seite wandern. Wälder und Seen erstreckten sich über ihr wie ein Deckengemälde, aber wenn sie genauer hinsah, erkannte sie, dass das Schiff auf dem See sich gemächlich fortbewegte. Wolken zogen über die Oberfläche hinweg.
»Wir sollten langsam los«, schlug Ataad vor. »Bald wird das Licht gedimmt.«
Er trat einen Schritt zurück, sodass Sujete das Gefährt allein hielt.
»Steig auf!«, forderte Ataad sie auf.
Misstrauisch betrachtete Sujete den Lenker, den sie in der Hand hielt. Es sah nicht gerade danach aus, als wäre es angenehm, damit unterwegs zu sein.
»Du musst es wenigstens einmal gefahren sein, bevor du es mitnimmst.«
»Mitnehmen?« Sujete hob den Kopf. Die leichte Bewegung des Kopfes führte schon dazu, dass sich wieder alles um sie drehte.
Ataad lachte. »Ein Dank für deine Hilfe.«
»Gern geschehen«, antwortete Sujete.
»Normalerweise tauschen wir ein paar unserer Glieder aus«, fuhr Ataad fort. »Wenn wir Freundschaft schließen, gebe ich ein paar meiner Glieder ab und erhalte ein paar zurück.«
Ohne zu antworten, schob Sujete das Rad an, setzte einen Fuß auf ein Pedal und schwang sich in den Sattel. Fast sofort fiel sie zur Seite, ohne das Gleichgewicht halten zu können. Sie stand gleich wieder auf, es war ihr nichts geschehen.
Ataad stieg in ein anderes Fahrzeug, das drei Räder besaß und nicht umkippen konnte. Der Mosaik verformte sich, um die Konstruktion besser antreiben zu können. Die humanoide Form schien ihm nicht optimal geeignet, um vorwärtszukommen. Ataad glich nun eher einer Kugel mit vier Beinen, die in Pedale traten.
Er muss zumindest nicht das Gleichgewicht halten, dachte Sujete neidisch und verfluchte, dass sie ihren Körper nicht umgestalten konnte. Sie würde es schaffen, das war nun ihr Ziel.
Ataad fuhr inzwischen über den Kiesweg, genau auf den Wald zu, in dem der schmale Weg verschwand. Es sah aus, als würde es einen endlosen Anstieg hinaufgehen, bis die Welt sich über ihr zusammenfügte.
Sujete senkte den Blick. Schon einige Male zuvor hatte sie Fahrzeuge gesteuert, auf denen sie das Gleichgewicht halten musste. Es war also einen Versuch wert, Ataad auf der Runde zu begleiten. Vor allen Dingen war dieses Gefährt etwas Besonderes. Wie die meisten Artefakte, mit denen sie handelte, hatte es Exemplare davon schon vor Jahrtausenden gegeben.
Vorsichtig schob sie es an und setzte einen Fuß auf das Pedal.
ENDE