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5.

Government Garden

Reginald Bull kam nüchtern.

Er erwachte, noch bevor der Wecker klingelte. Er ging ins Bad, rasierte sich, zog eine frische Uniform an und trank einen großen, schwarzen Kaffee und ein Glas Orangensaft – so wie damals, als Autum Legacy ihn zum gemeinsamen Familienfrühstück gezwungen hatte und er den Mädchen ein Beispiel geben musste. Auch den Zellaktivator hatte er wieder angelegt. Bislang machte dieser keine Schwierigkeiten mehr; nur ein wenig Scotch und Sägespäne klebten noch auf dem glatten Metall. Bull wischte den Aktivator ab und ließ ihn unter die Uniform gleiten.

Dann rief er sich einen Gleiter der Flugbereitschaft.

Sein Kopf war überraschend klar und leer, als er auf die Wolkenkratzer Terranias unter sich blickte. Perry Rhodan hätte ihn am Vortag nicht so sehen sollen. Andererseits hatten sie einander schon mehr als einmal am Ende ihrer Kräfte erlebt: krank, niedergeschossen, auf der Flucht vor Monstren oder Robotern. Und irgendwie hatten sie es doch immer geschafft, einander zu retten – und die Erde gleich mit. Ihre Freundschaft würde es auch verkraften, dass Rhodan ihn betrunken unter einem Tretboot entdeckt hatte.

Es war nichts Ehrenrühriges dabei. Entscheidend war, dass niemand sonst davon erfuhr. Und nun gab es Wichtigeres zu klären.

Der Gleiter landete auf einem Parkdeck der Union Hall im Regierungsviertel Government Garden. Zwei Sicherheitsbeamte führten Bull an mehreren Kontrollen vorbei ins Innere des riesigen, wirbelförmigen Gebäudes. Wenige Minuten später betrat er einen kleinen, schlicht eingerichteten Konferenzraum, der die begrünten Terrassen im Innenkreis des Bauwerks überblickte. Es war unmöglich zu sagen, ob es sich um ein echtes Fenster oder um eine Holoprojektion handelte, wie sie in Raumschiffen eingesetzt wurde. Zahlreiche kleine Lichtchen an Wänden und Tischkanten, die Kontaktbereiche für verschiedene Positronikschnittstellen markierten, verrieten die technischen Hilfsmittel, die sich unter den unscheinbaren Oberflächen verbargen.

Im Raum versammelt saßen Perry Rhodan, Thora Rhodan da Zoltral und Stella Michelsen, die Reginald Bull der Reihe nach begrüßte.

»Gut siehst du aus«, raunte Rhodan aufmunternd.

»Das Aftershave ist extra für euch«, gab Bull zurück und schüttelte Thora die Hand. »Gurrad-Moschus.«

»Wi-der-lich«, kommentierte Thora freundlich.

Ein Knurren unterbrach ihr Geplänkel. Zu Michelsens Füßen hockte ihr Roboterhund Diamond, der entfernt an einen Chihuahua erinnerte und weder Bull noch Rhodan sonderlich mochte.

»Schön, Sie zu sehen, Mister Bull«, sagte die Administratorin der Terranischen Union förmlich. »Nehmen Sie doch Platz.«

Mit ihr waren noch drei Koordinatoren anwesend: der für seine harte Linie bekannte Schwede Ivar Gunnarsson, zuständig für die Innere Sicherheit; die Südafrikanerin Anathi Jabavu, befasst mit Kolonisations- und Siedlungsfragen und eine enge Vertraute nicht nur von Stella Michelsen, sondern auch von Maui John Ngata sowie von Gabchek Baatar, mit dem Bull bislang wenig zu tun gehabt hatte, der als Ferrone in diesem hohen politischen Amt aber über eine gewisse Bekanntheit verfügte. Er war Koordinator für Kunst und Kultur und lebte mit einer Mongolin zusammen. Seine Seidenkleidung war eine grelle Mischung ferronischer und mongolischer Elemente, die seine blaue Haut zum Teil eines farbenprächtigen Patchworks machte.

Nachdem er auch die Koordinatoren begrüßt hatte, setzte sich Bull auf einen der freien Sessel des ovalen Tischs. Zu seiner Erleichterung war er nicht der Letzte; kaum hatte er sich ein Glas Wasser eingeschenkt, trat Maui John Ngata ein. Der greise Präsident der Solaren Union absolvierte dieselbe Begrüßungsrunde wie Bull und belegte dann den letzten verbliebenen Platz zwischen Rhodan und Koordinatorin Jabavu. Früher hatten der Neuseeländer und Bull einander oft nicht riechen können. Bull hatte Ngata immer für einen Sturkopf gehalten, einen Prinzipienreiter, und genau wie Bull konnte Ngata sehr laut werden, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen lief. Die Ereignisse des vergangenen Jahres hatten sie einander jedoch nähergebracht. Ngata war zwar ein listiger Lenker, ein Freund stabiler Verhältnisse, aber zu Bulls Überraschung hatte sich gezeigt, dass er durchaus bereit war, gelegentlich die Regeln zu brechen, wenn das der Preis für eine sorgenfreie Zukunft war.

»Freut mich, dass Sie alle Zeit in Ihren Terminkalendern für dieses Treffen fanden«, eröffnete Michelsen die Versammlung.

Eine Floskel ... oder eine Spitze? Wie immer bei Michelsen war es schwer zu sagen. Das Gesicht der kleinen Frau blieb ernst, ganz aufs Geschäftliche konzentriert. »Gestern erreichte uns eine Botschaft von Torgen Shenn – es scheint, die Reparaturen an der Hyperfunkrelaiskette machen gute Fortschritte. Leider ist noch kein direkter Eins-zu-eins-Kontakt möglich – unsere Mehandorfreunde haben die Nachricht teils über ihre Gespinste weitergeleitet. Bis auf Weiteres schicken wir uns also noch Videobriefe.«

»Die Mehandor hören unsere Fernkommunikation mit?«, erkundigte sich Gunnarsson besorgt.

»Die Mitteilungen sind nach wie vor verschlüsselt«, beruhigte ihn Michelsen. »Und wir bezahlen die Mehandor gut für ihre Freundschaftsdienste.«

»Dafür haben wir also noch Geld«, stellte Gunnarsson griesgrämig fest.

Ngata verzog gelangweilt das Gesicht. »Der übliche Schwund. Bitte fahren Sie fort, Stella.«

»Shenns Botschaft, sofern Sie sie nicht bereits gesehen haben, liegt für Sie alle abrufbar in unserem Archiv. Er berichtet von guten Fortschritten, was die Verhandlungen mit Imperator Gonozal dem Siebten und den verschiedenen Gremien angeht. Wir haben den Beistandspakt im Laufe der vergangenen Wochen mehrfach nachgebessert. Diejenigen von Ihnen, die an den entsprechenden Sitzungen teilgenommen haben, sind bereits im Bilde.«

Definitiv eine Spitze, entschied Bull und zupfte an seiner Uniform, unter der der Zellaktivator ungemütlich drückte. Hatte er zugenommen? Er hätte nicht gedacht, dass eine Scotch- und Salzstangen-Diät derart nahrhaft sein konnte.

»Dass ich es heute noch einmal anspreche, hat zwei Gründe«, sagte Michelsen, und Diamond japste knapp. »Zum einen gab es die Anregung, den kulturellen Austausch zu beleben und hierfür unsere kleine arkonidische Kolonie mit einzubeziehen.«

Was Michelsen eine Kolonie nannte, wusste Bull, war die Gesamtheit aller nach dem arkonidischen Protektorat auf der Erde verbliebenen Arkoniden und ihrer Nachfahren; eine sehr durchwachsene Gruppe von um die zehntausend Individuen. Viele lebten in Terrania in dem Crest Village genannten Stadtteil, andere waren über alle Kontinente verstreut. Manche von ihnen hatten mit dem Großen Imperium nicht mehr viel am Hut und waren damals genau deshalb auf der Erde geblieben. Andere gebärdeten sich arkonidischer als jeder Arkonide in der Heimat – was wahrscheinlich ziemlich leicht war, wenn man unter Menschen lebte. Bull war bekannt, dass Thora privat wie beruflich zu einer Menge dieser Exilanten Kontakt hielt, ein verstärkter kultureller Austausch aber vor allem eins für sie bedeutete: Arbeit.

»Eine gute Idee«, sagte Thora daher auch ohne echte Begeisterung. »Was schwebt Ihnen vor?«

»Ich möchte vorschlagen, dass Sie oder Ihr Stab sich mit Koordinator Baatar zusammensetzen«, antwortete Michelsen. »Vielleicht können Sie von seinen Erfahrungen profitieren?«

Damit spielte Michelsen auf die gute Partnerschaft zwischen Erde und Ferrol an. Das Wegasystem war assoziiertes Mitglied der Solaren Union, und es lebten ebenso viele Menschen auf Ferrol wie Ferronen auf der Erde. Bull hatte den Unterschied zwischen »assoziiert« und »Mitglied« ehrlich gesagt nie verstanden, und er fragte auf solchen Anlässen auch nie nach dem ferronischen Viertel in Terrania, weil seine Töchter fanden, dass »Bluetown« irgendwie rassistisch klänge und Bull nicht wusste, wie er es sonst nennen sollte. Erfreulicherweise gab es dort aber so gut wie nie Probleme, weswegen es völlig in Ordnung war, dass er nicht danach fragte, und dieser Zustand war ihm eigentlich am liebsten.

»Sie sind jederzeit bei uns willkommen, Botschafterin«, versicherte Baatar und breitete die dicken Arme in den weiten Ärmeln aus.

»Mein Stellvertreter wird sich umgehend bei Ihrem Büro melden«, sagte Thora. »Und ich komme persönlich, sobald meine Zeit es zulässt.«

»Du hast einen Stellvertreter?«, erkundigte sich Bull im Plauderton.

»Serad Kitrina«, bestätigte sie. »Ein junger Essoya, sehr fähig.«

»Warum kommt mir der Nachname bekannt vor?«, grübelte Bull.

Thora lächelte schwach. »Seine Mutter war zum Ende der Besatzung Kommandantin von Terrania Orbital. In letzter Minute schlug sie sich auf unsere Seite und hatte es danach nicht einfach. Ihr Sohn hat es heute leichter.«

Bull hob eine Braue. »Stellvertreter sind super! Ich bin froh, dass du auch einen hast.«

»Das bringt mich zum zweiten Grund, aus dem ich Shenns Botschaft noch einmal ansprach,« lenkte Michelsen das Gespräch zurück aufs Thema, und wie auf Kommando japste auch Diamond wieder, diesmal zweimal.

Hat sie ihrem Hund das Zählen beigebracht ...?, staunte Bull.

»Protektor«, unterbrach Michelsen seine Gedanken, und Bull brauchte nur einen ganz kurzen Moment, um sich in Erinnerung zu rufen, dass die Administratorin damit ihn meinte. »Vielleicht sollten auch Sie an diesen Gesprächen teilnehmen.«

»Wenn Sie meinen, dass es eine gute Idee wäre«, sagte er im selben unbeteiligten Tonfall wie zuvor Thora.

»Das tue ich. Sonderbevollmächtigter Shenn ließ nämlich durchblicken, dass Ziel dieser kulturellen Annäherung mittelfristig ein Staatsbesuch von Imperator Gonozal dem Siebten und Kristallprinz Mascaren sein soll.« Sie räusperte sich. »Oder möchten Sie ebenfalls Ihren Stellvertreter schicken?«

»Atlan und sein Vater wollen auf Besuch kommen?«, übersetzte Bull, ohne auf Michelsens andere Bemerkung einzugehen. »Ist das eine gute Idee?«

»Es dürfte sich als notwendig erweisen, wenn unser Abkommen Bestand haben soll«, antwortete Michelsen kühl. »Die Frage ist, wie hindern wir den Imperator daran ...« Sie suchte nach Worten. »Wie hindern wir ihn daran, unvernünftige Ansprüche anzumelden?«

»Was für Ansprüche sollten das denn sein?«, fragte Bull.

»Worüber wir schon geredet haben«, mischte sich Rhodan mit einem Räuspern ein. »Die Administratorin ist im Bilde.«

Ich habe keine Ahnung, wovon er redet, und er weiß das auch, dachte Bull. Offenbar sollte ich es aber wissen – also deckt er mich.

»Ah so«, sagte er.

Rhodan wandte sich an die anderen Versammelten. »Der Imperator leidet unter der Vorstellung, dass NATHAN und die Posbis auf dem Mond ihn mit Transformkanonen für seine Flotte versorgen könnten.«

Bull prustete und schenkte sich schnell Wasser nach.

»Ich denke, wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, wie abwegig auf allen Ebenen dieser Wunsch ist«, fuhr Rhodan fort. »Wir müssen es ihm nur freundlich verkaufen.«

»Freundlichkeit ist meine Stärke.« Thora lächelte.

»Wäre es da nicht höchste Zeit, die Sicherheit auf dem Mond deutlich anzuheben?«, warf Gunnarsson ein. »Wir brauchen dort schon länger strengere Bestimmungen. Nicht nur zum Schutz vor dem Imperator.«

»Sie meinen NATHAN«, äußerte Rhodan ernst.

»Das letzte Mal, als ich zählte, war er die einzige außerirdische Intelligenz, die unseren Trabanten regierte«, bejahte Gunnarsson kalt.

»NATHAN regiert nicht«, widersprach Rhodan.

»Aber es ist leider richtig, dass er immer wieder in die Geschicke einzelner Menschen und der Erde insgesamt eingreift«, sagte Stella Michelsen. »Sie sollten das am besten wissen, Mister Rhodan. Er hat Ihre Söhne – drücken wir es einmal höflich aus – ungefragt einer Ausbildung unterzogen. Er hat Ihnen, Mister Rhodan, sogar einen Anwalt bestellt ...«

Rhodan schwieg. Bull wusste aber, dass ihm das Thema naheging. Wie konnte es auch anders sein? Er dachte an das Gespräch, das sie am Vortag geführt hatten. Können NATHAN und seine Freunde nicht die Finger von unseren Familien lassen?, hatte Bull gefragt. Er sah die Feuchtigkeit in Thoras Augen, als die alte Wut in ihr darüber hochstieg, was die Hyperinpotronik ihren Kindern angetan hatte.

»Kritischer für uns ist, was NATHAN und die Posbis in den Kolonien treiben«, ergriff Ngata das Wort. »Mit Ihrer Erlaubnis?«

Die Administratorin nickte.

»Wie den Anwesenden bekannt sein dürfte, dient Cybora als Forschungseinrichtung für prothetische Entwicklungen aller Art. Hierzu haben die Posbis in einer sonnennahen Umlaufbahn von Spica eine eigene künstliche Welt namens Makko errichtet. Die Fortschritte, die dort erzielt werden, sind beachtlich und kommen insbesondere der Terranischen Flotte und unseren Emotionauten zugute. Leider tauchen aber auch zunehmend Güter aus dem Spicasystem auf dem Schwarzmarkt auf. Inzwischen sogar auf Ferrol.«

Koordinator Gabchek Baatar nickte unglücklich.

»Das heißt entweder, NATHAN hat sein eigenes Projekt nicht unter Kontrolle, oder die unlizenzierte Verbreitung kybernetischer Bauteile und Implantate vollzieht sich mit seiner heimlichen Billigung.« Ngata spielte mit seinen Daumen. »Schon die Entwendung der FANTASY legte nahe, dass es um die Sicherheit auf dem Mond nicht allzu gut bestellt ist.«

Was für ein Fuchs, dachte Bull. Du selbst warst doch genauso daran beteiligt wie ich! Das sollte selbst Michelsen klar sein, selbst wenn sie es nicht beweisen kann oder will.

»Allerdings nahm diese Sache einen den Umständen entsprechend glücklichen Ausgang«, fuhr Ngata fort, ohne mit der Wimper zu zucken. »Schwerwiegender scheint mir hingegen der jüngste Diebstahl des aus dem Compariat geborgenen Kreellblocks zu sein.«

»Der was?«, empörte sich Ivar Gunnarsson mit großen Augen.

»Ist das wirklich nötig?«, fragte Bull unwillig, denn an diese unselige Angelegenheit erinnerte er sich nur zu gut – sie hatte ihm mehr als eine schlaflose Nacht beschert. »Das ist doch auch schon wieder Schnee von gestern.«

»Da muss ich Ihnen leider widersprechen, Protektor«, sagte Michelsen. »Und ich möchte alle Anwesenden daran erinnern, dass dieses Gespräch der höchsten Sicherheitseinstufung unterliegt. Bitte fahren Sie fort, John.«

»Der Kreellblock, in dem Eric Leyden und Mitglieder seines Teams gefangen sind, wurde Ende vorigen Jahres kurz nach dem Eintreffen auf Luna entwendet und nach Siga geschmuggelt – wahrscheinlich auf Bestreben von Iratio Hondro. Glücklicherweise wurde der Block schon bald darauf wieder geborgen und durch Mitarbeiter unseres Geheimdienstes zurückgebracht. Unterstützung erhielten sie dabei von Olymp, und zwar von höchster Stelle. Auch unser alter Freund Mister Tekener war an der Rückholung beteiligt.«

Bull tauschte einen finsteren Blick mit Rhodan. Da war sie wieder, diese unselige Verbindung von NATHAN zu ihren Kindern. Mit »höchster Stelle« konnte nur Kaiser Argyris gemeint sein – Nathalie, korrigierte er sich. Ronald Tekener und seine verschwundene Schwester wiederum waren gute Freunde von Rhodans Söhnen, die für den Geheimdienst der Terranischen Union arbeiteten. Ob sie ihrem Vater erzählten, was sie im Auftrag von GHOST oder NATHAN alles taten?

Bull wusste, dass seine Töchter Laura und Sophie nach dem Diebstahl des Kreellblocks eine intensive Befragung über sich hatten ergehen lassen müssen. Aber sogar ihm, ihrem Vater und nebenbei Protektor der Terranischen Union, hatten sie nur widerwillig von den Nachforschungen über dieses Ereignis berichtet. Leibnitz hatte im Auftrag von NATHAN dafür gesorgt, dass die ganze Sache außer in Geheimdienstkreisen nie bekannt geworden war. Ohne Autum Legacy und ihre alten Kontakte bei GHOST wüsste Bull manchmal gar nicht mehr, was seine Kinder alles trieben. Er fragte sich, ob andere Eltern dasselbe Problem hatten.

»Ich würde darum bitten, diese Angelegenheit zu späterer Gelegenheit noch einmal mit Nike Quinto zu besprechen«, sagte Rhodan, dem die Implikationen der Affäre genauso klar sein mussten.

»Oh, das haben wir bereits«, versicherte ihm Ngata.

Aber ohne Sie, ergänzte Bull lautlos. Rhodan war nicht im Solsystem gewesen, und falls man Bull in letzter Zeit zu einem Gespräch mit dem Geheimdienstchef geladen hatte, konnte er sich ehrlich gesagt nicht daran erinnern. Er biss die Zähne zusammen und schwor sich, dass sich ein solches Versäumnis nicht wiederholen würde.

»Der Punkt, auf den ich hinausmöchte, ist folgender«, fuhr Ngata fort. »NATHAN stellt ein eklatantes Sicherheitsrisiko für die Union da. Er sieht sich als eine unabhängige Entität an, die nicht unserer Kontrolle und Jurisdiktion unterlegt. Wir nehmen ja an – und das nicht ohne Grund –, dass er versucht, Schaden von uns fernzuhalten. Dennoch treibt er ein eigenes Spiel auf den Kolonien: auf Cybora, Siga und anderen Welten. Es mehren sich Berichte über von ihm autorisierte Transporte mit unbekanntem Ziel. Vielleicht ist Makko nicht die einzige Zweigstelle seiner Posbifreunde in unserem Gebiet? Wie auch immer: Die Hyperinpotronik hält es häufig nicht für nötig, ihre Aktionen mit den politischen Organen der Terranischen und Solaren Union abzustimmen. Das allein ist ärgerlich genug – milde gesprochen. Obendrein aber unterlaufen NATHAN auch Fehler. Und das macht mir Angst, auch und vor allem im Hinblick auf Hondro.«

Ngata ließ sich zurücksinken und nickte Jabavu zu.

Die Koordinatorin für Kolonien und Siedlungsfragen blickte kurz in die Runde, dann nahm sie den Faden auf. »Die Lage in den Kolonien ist sogar ohne die jüngsten Vorfälle alles andere als ideal«, berichtete sie. »Wir sehen uns zunehmend nicht nur mit strategischen, sondern auch mit ökonomischen und politischen Bedrohungen konfrontiert. Unser größtes Problem ist nach wie vor Iratio Hondro: Was er tut, was er nicht tut, was er plant.«

Der ehemalige Obmann der Kolonie Plophos hatte sich unter dem Einfluss des Dunkellebens zu einem skrupellosen Alleinherrscher entwickelt. Er kontrollierte den Schmuggel insbesondere der wertvollen Geminga-Drusen und wurde mit zahllosen Verbrechen und Sabotageakten der zurückliegenden Monate in Verbindung gebracht. Die Behörden der TU waren diesbezüglich vor allem auf Geheimdienstberichte angewiesen, denn von Plophos selbst drangen so gut wie keine offiziellen Nachrichten nach außen.

»Bitte erklären Sie mir, wie Hondro zu einem politischen Problem für uns werden könnte«, sagte Bull. »Und ob sich dieses Problem nicht vielleicht mit geheimdienstlichen Mitteln lösen ließe. Zur Not ...« Er zuckte die Schultern. Er redete nicht gern um den heißen Brei herum. »Warum werden wir ihn nicht einfach los?«

Ngata räusperte sich vernehmlich; Rhodan und Michelsen wirkten von der Idee ebenfalls nicht begeistert. Nur Gunnarsson machte einen aufgeschlossenen Eindruck.

»Ein militärisches Durchgreifen?«, fragte Jabavu. »Ganz unabhängig davon, wie wenig Erfolg versprechend das wäre – denken Sie an Hondros mentale Fähigkeiten, mit denen er unsere Einsatzkräfte selbst über große Distanzen kontrollieren könnte! –, halte ich das grundsätzlich für eine schlechte Idee. Die Stimmung in den Kolonien ... Sie ist gegen uns, Protektor. Anders kann man es kaum nennen.«

Die Direktheit ihrer Worte verblüffte Bull. »Was soll das heißen, die Stimmung ist gegen uns?« Er hatte auf seiner jüngsten Reise zwar in eine Menge unzufriedener Gesichter geblickt, besonders auf Imart ... Aber wirkten Politiker nicht immer irgendwie unzufrieden?

»Es gibt eine kleine, aber wachsende Minderheit von Menschen, die Iratio Hondro nicht als Verbrecher, sondern als eine Art von Rebellen betrachtet, der sich gegen die Hegemonie der Union stellt und für die Plophoser einen eigenen Weg sucht.«

»Das ist doch ...«, wollte sich Bull entrüsten, aber Ngata hob die Hand, damit er Jabavu ausreden ließ.

»Problematischer noch ist die schweigende Mehrheit, die sich einfach nur abwartend verhält. Die Ansicht, dass die Union eine zu rigorose Kontrolle über die Kolonien ausübt, ist weiter verbreitet, als Sie vielleicht denken. Man will sich nicht unbedingt von Terra lossagen oder abspalten ... strebt aber nach mehr Eigenverantwortung und Autonomie. Die neuen Welten beginnen eine eigene kulturelle Identität zu entwickeln. Und ich rede nicht nur von den äußerlichen und genetischen Unterschieden der Siedler ... sondern von eigenen, tief greifenden Traditionen und Erfahrungen, die dazu führen, dass einige extreme Strömungen sich schon nicht mehr als Teil der ›Menschheit‹ im eigentlichen Sinne verstehen.«

Betretenes Schweigen herrschte am Tisch. Dies war eine Entwicklung, die niemand vorhergesehen hatte, als in den Sechzigerjahren die ersten terranischen Kolonien gegründet worden waren. Vor allem nicht so schnell.

»Einige administrative Entscheidungen, die wir damals getroffen haben, rächen sich nun«, sagte Ngata schließlich. »Beispielsweise, GeneFX, der General Cosmic Company und anderen ein so weitreichendes Patentrecht auf das Genom der Siedler zuzugestehen.«

Die Gesichter in der Runde verhärteten sich. Keiner wagte, den Präsidenten der Solaren Union daran zu erinnern, dass er selbst damals der verantwortliche Administrator gewesen war. Denn auch niemand sonst in der Runde, der damals schon in der Politik gewesen war, hatte sich dagegen stark gemacht.

Maui John Ngata war aber anzusehen, dass eine solche Erinnerung nicht nötig war. Er kannte seine Fehler. »Wie Sie wissen, ging es ursprünglich darum, dass die unabhängigen Siedlungsträgerkonzerne sich rechtlich absichern wollten. Analog zu einem Rechnerbetriebssystem: Weil Sie nicht wollen, dass man Sie nach einer Computervirusinfektion verklagt, behalten Sie sich das Zugriffsrecht auf den Quellcode vor und verfügen selbst, wer wann ein Update erhält und wer nicht. Und obgleich wir eine unkontrollierte Manipulation des menschlichen Genoms nach wie vor nicht für wünschenswert halten ... sorgt unsere damalige Entscheidung für zusätzliche Widerstände.«

»Die Kolonisten sehen die aktuelle Rechtslage als eine moderne Form der Sklaverei an«, bestätigte Koordinatorin Anathi Jabavu. »Zumal die Trägerorganisationen einen enormen Profit einstreichen, der in keinem Verhältnis zu dem empfundenen Mangel steht, der auf vielen Kolonien herrscht. Genomflüchtlinge – die sogenannten Grunner – gelten gerade den ärmeren Schichten als schützenswerte Flüchtlinge, nicht als Kriminelle. Die Medien greifen das Phänomen immer öfter auf und machen sich für echte wie vermeintlich Unterdrückte stark. Vor allem in den sozialen Netzwerken und privat betriebenen Nachrichtensektionen des unionsweiten Daten- und Kommunikationsnetzes Mesh tummeln sich zahllose Aktivisten jeglicher Ausrichtung. Dort findet die allgemeine Unzufriedenheit einen breiten Nährboden.« Die Koordinatorin breitete die Hände aus. »Das meine ich, wenn ich sage, die Stimmung ist gegen uns, Protektor. Für viele Siedler da draußen sind wir längst nicht mehr die Beschützer. Wir sind die Bösen.«

Diesmal lastete das Schweigen so schwer, dass Bull das Surren und Klicken von Diamonds Gelenken unter dem Tisch zu hören glaubte. Er und Rhodan tauschten wieder Blicke. Bull konnte sich denken, wie schwer das alles für seinen Freund war. Bull für seinen Teil hatte nie geglaubt, dass irgendwer jemals zu ihm aufsehen oder sich für irgendwas bedanken würde – außer vielleicht, wenn Reginald Bull ihm einen Drink spendiert hatte. Bei Perry war er sich da nicht so sicher. Perry Rhodan wollte daran glauben, dass er das Richtige tat – und wenn die Menschen das anders sahen als er, schmerzte ihn das.

»Wie ist die Stimmung auf der Erde hierzu?«, fragte Rhodan.

»Naturgemäß anders«, beruhigte Stella Michelsen. »Was aber nicht heißt, dass die Autonomiebestrebungen keine Unterstützer hätten. Auch in der TU-Vollversammlung mehren sich die Stimmen, die dafür plädieren, den Kolonien mehr Freiheit zu lassen. Eine dieser Stimmen kennen Sie.«

»Wen meinen Sie?«, fragte Rhodan.

»Ihren persönlichen Freund ... Shalmon Dabrifa.«

Perry Rhodan wollte etwas darauf erwidern, dann aber griff er sich in einer automatischen Geste ans Ohr, als das Komsignal an seinem Multifunktionsarmband blinkte.

»Bitte entschuldigen Sie mich«, unterbrach er die Sitzung und erhob sich. »Mimas ruft. Es gibt ein Problem mit Merkosh!«

Perry Rhodan Neo Paket 24

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