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Jeans, Turnschuhe, Shirt, Rucksack über der Schulter. Anscheinend glaubte sie, mir heute nicht mehr als jugendliche Grande Dame gegenübertreten zu müssen. Ihre Sonnenbrille nahm sie ab, als sie sich mit mir ins Wohnzimmer setzte. Die verheulten Augen waren schlecht überschminkt.

Ich stellte Wasser und Gläser zurecht. Sie öffnete ihren Rucksack, entnahm ihm ein Din-A4-Blatt und reichte es mir.

»Wenn Sie mir diese Liste bringen, dann heißt das wohl, Sie haben nichts von Ihrer Mutter gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich brauche übrigens auch ein möglichst aktuelles Foto. Das habe ich vergessen zu sagen.«

»Ich maile Ihnen eins. Ist das ok?«

»Ja, das ist ok.«

Ich las.

Da standen Mathilde und Ernst Maiwald, ihre Großeltern. Böhmerwaldplatz in Bogenhausen. Einer der Stadtteile, in denen die Häuser und Grundstücke nicht erst in den letzten Jahren zu Wert gekommen waren.

Einige Kolleginnen und der Besitzer des Hotels Olymp, drei Frauen und ein Mann einer »Laufgruppe«, eine Putzfrau.

»Das ist alles?«, fragte ich. »Das hätten Sie doch gestern auch aus dem Stegreif machen können.«

Sie sah mich betrübt an.

»Entschuldigen Sie bitte! Aber ich kann zurzeit nicht richtig denken. Kann mich einfach nicht konzentrieren.«

»Das verstehe ich. Machen Sie es nochmal in Ruhe! Gehen Sie systematisch vor! Ordnen Sie nach Kontexten! Familie, Arbeit, Sport, Hobby, Kunst, Ausbildung zur Stadtführerin. Dann werden Ihnen noch mehrere einfallen.«

»Ja, das mach ich. Tut mir leid! Ich bitte Sie, meine Mutter zu suchen, und dann krieg ich’s nicht auf die Reihe, Ihnen dabei zu helfen.«

»Ich habe genug, um anzufangen.«

Sie rutschte unruhig auf dem Sofa herum, nahm ihr Wasserglas in die Hand, stellte es wieder ab, strich sich durch die Haare.

»Darf ich Sie etwas fragen?«

»Natürlich.«

Ich konnte mir nur eine Frage vorstellen, und die kam auch: »Glauben Sie mir?«

»Wollen Sie eine ehrliche Antwort?«

»Ja, bitte!«

»Ich weiß es nicht.«

Sie schwieg. Einen Moment lang schien sie mir unschlüssig, ob sie jetzt aufstehen und gehen wollte oder sollte oder bleiben. Sie blieb.

»Es kann gar nicht anders sein. Ich weiß es. Die Polizei kann mir nicht glauben, und Sie können es auch nicht.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Sie hatte Recht. Genauso war es. Ich hatte in dieser Sache nur ein einziges klares Gefühl, und das war, ihr jedes Bisschen ihrer Sorge und ihrer Angst zu glauben. Das musste ihr genügen.

»Ich bin nicht die Polizei, Frau Maiwald. Ich muss nicht Fakten abwägen, um zu entscheiden, ob ich handeln soll. Ich habe Ihren Auftrag.«

»Genügt das?«, fragte sie. »Ist das genug für Sie, um sich wirklich zu bemühen? Ich meine … verstehen Sie, Herr Fendt? Ich brauche Hilfe. Ich kann sie nicht allein suchen. Ich weiß nicht, wie sowas geht.«

»Sie können sich darauf verlassen, Frau Maiwald. Ich werde alles tun, was mir möglich ist. Schauen wir mal auf Ihre Liste. Ihre Großeltern. Haben Sie denen schon Bescheid gesagt?«

»Natürlich. Sie wissen nichts, und es ist ihnen auch egal.«

»Wie stehen Sie denn zu Ihren Großeltern?«

Dass da kein liebevolles Verhältnis zwischen Oma, Opa und Enkelin war, entnahm ich ihrem Kommentar, mehr noch aber ihrem Gesicht. Die verschiedenen Anteile von Zorn und Abscheu konnte ich nicht bestimmen, aber es gab sie beide.

»Meine Großeltern zählen sich zu den Besten der besseren Leute. Sie schämen sich für ihre Tochter, sie schämen sich für ihre Enkelin. Wir sind nichts Richtiges zum Vorweisen für ihre Gesellschaft. Waren wir nie. Eigentlich sind wir für sie gar nicht da.«

»Was machen Ihre Großeltern denn? Ich meine beruflich. Oder sind sie bereits in Pension?«

»Mein Großvater verdient Geld mit Immobilien. Und zwar ziemlich viel. Und meine Großmutter ist Psychotherapeutin.«

»Praktiziert sie noch?«

»Nicht mehr oft. Aber ein paar Privatpatienten hat sie noch, glaube ich.«

»Wie wurden Sie denn damals versorgt, als Ihre Mutter verschwunden war?«

»Sie haben jemand eingestellt. In der Zeit hatte ich sechs verschiedene Ersatzmütter. Als Mama zurückkam, holte sie mich ab, und wir zogen in eine andere Wohnung. Ich war dann schon alt genug für den Kindergarten.«

Es war eine weitere Emotion hinzugekommen. Traurigkeit. Ihre Stimme war leiser geworden. Ich fühlte, dass ich an einer tiefen Wunde gerührt hatte.

»Es tut mir leid, Frau Maiwald«, sagte ich. »Ich will Ihnen nicht wehtun. Aber je mehr ich verstehe, desto größer sind meine Chancen, irgendwo einen Ansatzpunkt zu finden.«

»Es ist schon gut. Ich glaube nicht, dass da ein Ansatzpunkt verborgen ist. Nicht bei meinen Großeltern. Ich habe lange gehofft, dass da irgendetwas versteckt liegt. Und jetzt meine ich nicht einen Ansatzpunkt für Ihre Suche. Ich meine Gefühle. Etwas, das sie vielleicht nicht gezeigt haben. Nicht zeigen konnten. Aber da ist nichts.«

»Ich glaube, ich kann verstehen, wie Sie das meinen, Frau Maiwald.«

Ich schenkte unsere Gläser voll. Sie kramte ein Tempo aus ihrer Tasche.

»Kann es sein, dass sich da etwas durch die Generationen schleicht?«, fragte ich. Ich konnte nicht anders, als diese Frage noch zu stellen, obwohl das absolut nichts mit meiner Ermittlung zu tun hatte. Mein Auftrag lautete nicht, in den traurigsten und schmerzhaftesten Bereichen ihrer Familiengeschichte zu wühlen.

»Ja, genau so ist es, Herr Fendt. Das, was da schleicht, ist Gefühlskälte, Egoismus, Unfähigkeit zu Nähe. Meine Mama ist als Kind davor geflohen. Und als ich da war, konnte sie nicht anders, als mich dem auszusetzen, was sie selbst nicht ausgehalten hatte. Aber wissen Sie was, Herr Fendt? Bei mir wird das enden!«

Da war jetzt nicht nur der Trotz eines jungen Mädchens, den ich in ihrem Ausdruck wahrnehmen konnte. Da war mehr. Auch wenn ihre Stimme ein wenig zitterte, als sie dieses »Bei mir wird das enden!« sagte. Da waren Verstehen, Verantwortung. Und Entschlossenheit. Ich fühlte, dass etwas Schweres auf den Schultern dieses Mädchens lastete, das schon lange vor dem jetzigen Verschwinden ihrer Mutter begonnen hatte. Sie sprach weiter.

»Ich habe viel darüber mit Mike gesprochen. Wir wollen noch kein Kind. Es ist viel zu früh. Aber unser Kind wird ein Wunschkind sein. Und es wird ein Maiwald-Kind sein, das sich geliebt fühlen wird.«

Ich ließ ein wenig Zeit verstreichen, die sie nutzte, um tief zu atmen, einen Schluck zu trinken, sich zurecht zu setzen, aufrecht, gefasst.

»Wie steht denn Mike zur Entführung Ihrer Mutter?«

»Ich denke, genauso wie Sie, Herr Fendt. Er weiß es nicht. Trotzdem steht er zu mir.«

»Wie lange kennen Sie sich denn schon?«

»Ein knappes Jahr erst. Ich weiß, das klingt jetzt seltsam, dass wir schon über Kinder reden. Wir sind Realisten, aber wir reden einfach über alles, was wir denken und fühlen. Eigentlich habe nicht ich ihn kennengelernt, sondern Mama. Er war in ihrer Laufgruppe, trainiert für einen Halbmarathon. Mama hat mich zu einem Grillfest mitgenommen. Es hat sofort gefunkt zwischen uns.«

»Laufen Sie auch?«

»Nein, das ist nicht mein Ding. Viel zu langweilig.«

»Gehen Sie bitte alle Personen dieser Laufgruppe durch, Frau Maiwald. Schreiben Sie mir alles auf, was Sie über jede einzelne wissen!«

»Gut, das mache ich. Viel ist es nicht.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer. Ich hatte sie nicht kommen hören und dachte in dem Moment, dass wir vielleicht doch ein Läuten an der Wohnungstür einführen sollten. Oder war das nicht passend für eine Vater-Tochter-WG?

Ines stand in der Tür.

»Hallo, Paps!«

»Hallo, Ines. Frau Maiwald, das ist meine Tochter Ines. Ich glaube, Sie haben sich schon kennengelernt.«

»Ja, haben wir«, antwortete Ines und nickte Susan Maiwald freundlich zu.

»Wir reden nachher gleich, Paps. Ich habe mit Mama und Herbert gesprochen.«

»Wir sind eh fast fertig«, antwortete ich.

Ines verließ das Wohnzimmer.

»Ich möchte gern mit Ihren Großeltern sprechen, Frau Maiwald. Was halten Sie für geschickter? Sie anzurufen und um einen Termin zu bitten, oder ist es besser, Sie kündigen mich an?«

Susan Maiwald dachte kurz nach.

»Ich denke, sie würden Sie einfach abblitzen lassen. Sie haben ja keine Polizeibefugnisse. Ich rufe sie heute noch an und sage ihnen, dass ich Sie beauftragt habe und dass ich sie bitte, mit Ihnen zu reden. Das werden sie mir schon nicht abschlagen.«

Wir verabschiedeten uns. Ich begleitete sie hinaus.

Blutsbande

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