Читать книгу Blutsbande - Peter Horper - Страница 9

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Ich schlief durch bis zehn, schälte mich nach kurzem Kampf aus dem Bett, setzte Kaffee auf und stellte mich dem Montagvormittag einer neuen Woche.

Ines hatte das Wohnzimmer aufgeräumt, die Bettwäsche in der Truhe verstaut und gelüftet. Auf dem Tisch lag die Visitenkarte der gestrigen Besucherin: Susan Maiwald. Adresse im Lehel, gar nicht weit von mir, gute Gegend. Telefonnummer, E-Mail-Adresse.

So etwas hatte ich im Abi-Alter noch nicht unter die Leute gebracht. Ich hatte gerade zum ersten Mal im Leben bei der Eröffnung meiner Detektei Visitenkarten drucken lassen.

Das Lehel war eines der teuersten Innenstadtviertel. Nur ein Katzensprung von der Isar und vom Englischen Garten. Ich kannte keine Untersuchung, aber wenn es irgendwo in München gute Luft gab, dann dort.

Während die verkalkte Kaffeemaschine vor sich hin spotzte, ging ich ins Bad und widmete mich der neuen Ultraschall-Zahnbürste, die mein Zahnarzt mir ans Herz gelegt hatte. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte mir den Lauf der Zeit in meinem Gesicht. Die Augenringe waren eindeutig chronisch geworden und keinem Kater nach durchgefeierter Nacht in die Schuhe zu schieben. Auch keiner Taxinacht. Die Lachfalten blieben, selbst wenn es überhaupt nichts zu lachen gab.

Ich setzte mich in die Küche und trank Kaffee. Stark und schwarz. Mein Magen signalisierte, dass er vorerst in Ruhe gelassen werden wollte von Feststofflichem. Dann holte ich das Telefon und die Visitenkarte von Susan Maiwald.

Sie meldete sich nach dem ersten Läuten.

»Maiwald.«

»Guten Morgen, Frau Maiwald. Ludwig Fendt. Sie waren gestern bei mir. Möchten Sie mir erzählen, warum?«

Und Susan Maiwald erzählte. Sie erzählte von einer verschwundenen Mutter, von Angst, von einer Polizei, die sie nicht ernst nahm.

»Ich schlage vor, Sie kommen vorbei und erklären mir das alles nochmal in Ruhe. Und auch was ich für Sie tun kann.«

Ich schenkte mir die zweite Tasse Kaffee ein. Das Wohnzimmer musste noch etwas umgerüstet werden, um als professioneller Arbeitsraum der Detektei Fendt durchgehen zu können. Gut, dass es ohnehin ziemlich nippesfrei war, dachte ich. Ich mochte es nicht, wenn in Wohnungen zu viel Aufbewahrtes herumstand. Zeugen längst überholter Lebenszeiten. Ich mochte es nicht, wenn Menschen sich nicht trennen konnten, aus jeder Zeit Dinge in die nächste trugen, Erinnerungen, als ob man für das Schöne im Erlebten Eselsbrücken bräuchte.

Susan Maiwald sah nicht ganz so aus, wie Ines sie beschrieben hatte. Jedenfalls entsprach sie nicht der Erwartung, die bei mir nach der Schilderung meiner Tochter entstanden war. Sie war langhaarig und blond, gut frisiert, gut angezogen, die Klamotten bestimmt nicht billig. Aber nach Ines’ Beschreibung hatte ich eine eitle aufgetakelte Göre erwartet. Das war sie nicht. Da stand eine junge Frau vor mir, die in die Eleganz noch nicht hineingewachsen war, die sie ausstrahlen wollte. Nylons, Pumps, Kostümchen. Eine kleine große Dame. Es war klar, dass es Ines da schauderte. Mein kleines Punkermädchen mit den kurzen lila Haaren und den großen Stiefeln.

Wir tauschten ein paar Förmlichkeiten. Ich platzierte sie in meinem Wohnzimmersessel, schenkte Mineralwasser ein, sie wollte keinen Kaffee.

»Jetzt erzählen Sie mal in Ruhe!«, sagte ich.

»Sie müssen meine Mutter suchen!«

»Das heißt, Ihre Mutter ist verschwunden?«

»Ja! Seit fünf Tagen. Wir waren verabredet, und sie ist nicht aufgetaucht. Einfach nicht gekommen. Wir wollten uns im Rischart treffen, einen Kaffee trinken und dann shoppen gehen. Ich hab gewartet und gewartet, angerufen. Nichts. Einfach verschwunden.«

»Wie heißt Ihre Mutter?«

»Anja Maiwald«

Sie nippte an ihrem Wasser, lehnte sich zurück und blickte erwartungsvoll in meine Richtung, so als wäre es ihr Part gewesen, das Problem zu schildern und ich wäre nun mit der Lösung dran. Aber bevor ich beginnen wollte, Fragen zu stellen, war es mir wichtig, möglichst viel aus ihrer Perspektive zu erfahren. Das kleine Einmaleins der Detektive. Reden lassen, zuhören, nicht zu früh und zu oft unterbrechen.

»Erzählen Sie weiter! Was haben Sie gemacht? Was haben Sie versucht?«

Sie nippte noch mal, räusperte sich, anscheinend hatte sie einen trockenen Mund.

»Ich bin nach Hause gegangen. Habe mit Mike geredet.«

»Wer ist Mike?«

»Mike ist mein Freund. Er meinte natürlich, dass sie sich schon melden würde. Ich sollte Ruhe bewahren. Aber sie meldete sich nicht. Dann habe ich alle Leute angerufen, bei denen ich mir vorstellen konnte, dass sie dort sein könnte oder mit ihnen unterwegs. Nichts. Niemand wusste was.«

»Kennen Sie denn alle ihre Freunde und Bekannten?«

»Die meisten bestimmt. Ihr Adressbuch habe ich nicht gefunden. Sie muss es bei sich haben.«

»Sind Sie zur Polizei gegangen?«

»Ja, nach drei Tagen.«

»Es läuft also eine polizeiliche Suche nach ihr.«

»Das glaube ich nicht.«

Der Satz kam dermaßen traurig rüber, traurig und resigniert, aber auch trotzig, anklagend. Sie lehnte sich zurück. Wir schwiegen beide und ließen dem Gesagten eine Pause, um sich zu setzen. Dann wiederholte sie: »Ich glaube nicht, dass man sie sucht.«

»Warum glauben Sie das nicht? Wie hat man denn reagiert auf Ihre Vermisstenmeldung?«

»Zuerst interessiert. Ich erzählte, sie hörten zu. Ich sagte ihnen auch, dass Mama kein Heimchen am Herd war. Dann ließ man mich eine Weile sitzen. Anscheinend haben sie irgendetwas Gespeichertes durchgecheckt. Mir war schon klar, was sie gefunden haben. Meine Mutter war schon zwei Mal verschwunden und beide Male unversehrt zurückgekommen. Und dann erklärten sie, dass es wahrscheinlich diesmal wieder so wäre. Das war’s dann.«

»Aha. Wussten Sie davon?«

»Ja, sie hatte es mir mal erzählt. Es ist viele Jahre her.«

»Erzählen Sie mir auch davon!«, forderte ich sie auf. Ich befürchtete, dass der Fall oder der Auftrag gerade dabei war, sich von mir zu verabschieden. Eine Mutter suchen, die einfach mal ein paar Tage ihre Ruhe wollte und keine Lust hatte, ihr Töchterchen davon in Kenntnis zu setzen. Das war nicht mein Job. Allerdings, die geplatzte Verabredung war kein netter Start dafür. Aber vielleicht hatte sie das Treffen einfach vergessen.

Susan Maiwald begann zu erzählen. Ein wenig ängstlich, als befürchtete sie, dass ich ähnlich reagieren würde wie die Polizisten. Ganz Unrecht hatte sie nicht damit.

»Meine Mutter ist als kleines Mädchen mal ausgerissen. Sie war ungefähr zwölf. Sie wohnten in Bogenhausen in einer Villa. Da wohnen ihre Eltern heute noch. Sie war bis dahin immer ein braves Mädchen gewesen. Sie ist zu Fuß bis zum Englischen Garten gekommen. Hat sich zu einigen Späthippies, die Musik machten und kifften, auf die Wiese gesetzt. Ein paar von ihnen, völlig zugedröhnt, haben sie mitgenommen in ihre WG.«

»Und sie dort behalten?«

»Ja. Das süße Mädchen, das raus wollte aus der bürgerlichen Enge und mal ein anderes Leben sehen als das ihrer Eltern. Sie fanden es Klasse, und dem Mädchen ging’s prima. Nach einer Woche war mal einer von ihnen nüchtern genug, einen Bericht über das vermisste Mädchen in der Zeitung zu entdecken. Fernseher hatten sie keinen. Sie haben sie dann zur Polizei gebracht, die sie natürlich überall gesucht hatte.«

»Das hat aber noch nicht gereicht, um heute eine Vermisstenmeldung in den Papierkorb zu werfen, oder? Was war das zweite Mal?«

»Das zweite Mal war kurz nach meiner Geburt. Sie war jünger als ich heute. Geld war genug da im Elternhaus. Aber mit einem Kind kam sie nicht klar. Meine Großeltern hatten reichlich Personal engagiert, um mich zu versorgen, aber sie hielt es trotzdem nicht aus und lief davon. Ich glaube, sie wollte aus ihrem Leben verschwinden.«

»Traurige Geschichte«, sagte ich. »Wie lange blieb sie weg?«

»Lange. Finanziell war das kein Problem. Sie hatte immer Zugang zu Geld, ihr Großvater hatte ihr eine große Summe hinterlassen. Mein Vater, also mein Erzeuger, hatte sich aus dem Staub gemacht. Er war bei meiner Geburt schon nicht mehr da. Und sie verschwand für fast drei Jahre ohne ihr Baby. Ließ mich einfach zurück, reiste herum.«

»Und wie kam die Polizei ins Spiel? Wie wurde das aktenkundig?«, unterbrach ich.

»Es hat über einen Monat gedauert, bis das erste Lebenszeichen kam. Meine Großeltern hatten sie als vermisst gemeldet. Glaubten an ein Verbrechen, eine Entführung. Warteten auf eine Lösegeldforderung. Die kam natürlich nicht. Die Polizei nahm die Vermisstenmeldung entgegen, riss sich aber keinen Arsch auf. Es kam ja auch kein Schreiben und nichts. Es gab keine Unfallmeldung, keine Leiche, sie war in keinem Krankenhaus eingeliefert worden.«

Ihr Gesicht war gerötet. Sie hatte schnell gesprochen. Anscheinend hatte sie sich die Geschichte bereits vor ihrem Kommen zurecht gelegt. Ich schenkte ihr Wasser nach. Sie hatte sie sehr distanziert erzählt. Als würde sie nicht von sich sprechen. Als wäre dieses verlassene Baby nicht sie. Ihre Mutter hatte offensichtlich aus dieser wenig schmeichelhaften Tat kein Geheimnis gemacht.

Sie unterbrach mein Nachdenken.

»Mama und ich haben uns ausgesprochen. Sie war jung und hat das nicht durchgestanden. Der Mann weg, das Baby und diese bescheuerten Eltern, die dachten, es wäre genug Hilfe, den Geldbeutel zu öffnen. Sie hat es nicht ausgehalten, und ich nehme ihr das heute nicht mehr übel. Sie ist jetzt eine andere Frau. Sie arbeitet, obwohl sie das nicht bräuchte. Hat eine Ausbildung zur Stadtführerin gemacht. Gebüffelt für die Prüfung. Arbeitet für ein Hotel.«

»Was macht sie da?«

»Sie macht Führungen durch die Stadt zu ganz verschiedenen Themen. Kunsthistorisch, geschichtlich, architektonisch. Sie nimmt das wirklich ernst und gibt sich Mühe. Außerdem ist sie ein bisschen das Mädchen für alles. Besorgt Theater- oder Opernkarten, berät Gäste bei der Restaurantwahl, reserviert Tische. Übersetzt. Sie spricht ziemlich gut Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Das hat sie alles erst nach der Schule gelernt. Sie hat viel geschuftet dafür.«

»Wie meinten Sie das mit ,Sie ist jetzt eine andere Frau?‹«

»Sie ist nicht einfach mehr reiche Tochter reicher Eltern, die in ihrem Leben nie arbeiten musste, sich Luxus gönnt und meint, es muss so sein. So ist sie nicht.«

»Und heute sind Sie sicher, dass Ihrer Mutter etwas zugestoßen ist?«

»Ja.« Die Antwort kam ohne das geringste Zögern.

Als wir uns verabschiedeten, blieb sie in der offenen Tür stehen. Etwas hielt sie zurück. Ich sah, dass Tränen in ihren Augen standen. Ich hatte eine Tochter, die kaum älter war, und wenn es etwas gab, das ich ganz schlecht aushielt, dann waren es Tränen. Sie riefen mir Gefühle zurück, die ich Ines gegenüber empfunden hatte, als Karin und ich uns getrennt hatten. Das war das Schwerste gewesen. Schwerer und schmerzhafter als die Trennung selbst. Und das Wissen, das es keinen Weg gab, ihr das zu ersparen. Nur Bemühen, hilflose Versuche, ihr zu erklären, dass sie keinen von uns beiden verlieren würde.

Susan Maiwald war so anders als Ines, aber Tränen waren Tränen. Ich konnte nicht anders, als dieses Mädchen spontan in den Arm zu nehmen, und für einen Augenblick war diese Geste die richtige. Dann besannen wir uns beide und fanden zurück zu der angebrachten Distanz.

»Ich weiß, dass Sie mir auch noch nicht glauben können. Aber bitte versuchen Sie es! Versuchen Sie es einfach!«

Ich nickte, sie drehte sich um und verschwand im Treppenhaus.

Ich würde es versuchen. Das war ich der Traurigkeit dieses Mädchens schuldig, und ich würde natürlich bezahlt werden, was immer sich letztendlich als Grund für das Verschwinden ihrer Mutter herausstellen würde. Bevor ich sie zur Tür begleitet hatte, waren wir uns über mein Honorar einig geworden, fünfundvierzig Euro die Stunde plus Spesen. Ich war günstig. Sie hatte einen vorgefertigten Vertrag unterschrieben, und ich hatte ihr aufgetragen, mir eine Liste aller Verwandten, Bekannten und Freunde ihrer Mutter zu erstellen.

»Wie haben Sie mich übrigens gefunden?« hatte ich sie gefragt.

»Ich habe gegoogelt. Sie haben eine ansprechende Homepage.«

Ich sang innerlich ein Loblied auf Jan, meinen Schwiegersohn in spe.

Blutsbande

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