Читать книгу Blutsbande - Peter Horper - Страница 16
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Er schaltete das Licht an, brachte Frühstück, packte sie an den Schultern, hob ihren Oberkörper an und schob sie so kräftig nach vorn, dass sie aufrecht im Bett saß. Sie drehte ihren Kopf zur Seite. Er schmerzte. Der Hals schmerzte. Der Nacken. Alle ihre Muskeln schmerzten.
Er ging wieder.
Sie trank von dem Tee in einer henkellosen Tasse, aß ein bestrichenes Honigbrot. Sie stand auf. Es tat gut, sich bewegen zu können. Ihre Hand- und Fußgelenke taten ihr weh. Ihr ganzer Körper war eingerostet. Sie mochte diesen Körper, pflegte ihn, trainierte ihn. Aber jetzt fühlte er sich fremd an.
Sie dehnte ihre Muskeln mit Bewegungen, die ihr schwer fielen.
Der Boden in ihrem Gefängnis war kalt. Rissige alte PVC-Fliesen. Die Wände schmutzig-weiß. Unter dem Anstrich war etwas Weiches zu ertasten, eine Schicht, vermutlich isolierend oder schalldämmend. Fenster gab es keines.
Er schien den Raum für sie präpariert zu haben. Nichts war spontan gewesen. Alles von langer Hand geplant. Wann hatte das begonnen? Wann hatte er gewusst, was er mit ihr vorhatte?
Während sie sich in dem Raum bewegte, reihten sich in ihrem Geist Fragen aneinander. Warum hatte sie keine Ahnung gehabt? Nie, nie war ihr in den Sinn gekommen, dass etwas an ihm nicht stimmte. So vollkommen normal hatte er gewirkt, nett, freundlich, intelligent, charmant. Aber was war schon normal? Wie viel an ihr selbst war denn Fassade? Alles? Das meiste? Die gutaussehende Frau, die ihr Leben im Griff hatte. Offen, auf Menschen zugehend. Eine souveräne attraktive Frau, ungebunden, begehrenswert, mit beiden Beinen fest auf dem Boden.
Wer sah ihre inneren Blutungen, dieses bittere Gefühl, versagt zu haben als Mutter? Wer sah ihre Bemühungen, anders zu sein als ihre Eltern? Mehr zu sein als eine verwöhnte Frau, der das Schicksal die Freiheit von existentiellen Sorgen geschenkt hatte. Und damit die Freiheit von Zufriedenheit, die Freiheit von dem Gefühl, eigene Verdienste zu haben, etwas geschafft, einen Kampf gewonnen zu haben. Was wollte sie denn wieder gut machen in ihrem Leben? Alles Unverdiente, alles Geschenkte? Susan! Susan war ihr geschenkt worden. Susan war die Herausforderung ihres Lebens gewesen, ihre Chance. Wie kläglich hatte sie diese Chance vertan!
Sie setzte sich aufs Bett.
Denken half. Das Nachdenken half ein wenig gegen die Angst in ihren Eingeweiden. Nicht dauerhaft. Die Abgründe waren immer da. Er war zu allem imstande. Und Susan? Wenn er sie hier zurückließ in ihrem Gefängnis, ging er zu Susan. Allein die Vorstellung, dass ihre Tochter mit ihm allein war, sein Lächeln sah, sich betören ließ, vertraute, liebte! Und sie konnte ihr nicht helfen. Sie musste nachdenken. Ankämpfen gegen die Mutlosigkeit, die sie fortschwemmen wollte. Sie musste verstehen, um ihm nicht vollkommen ausgeliefert zu sein.
Seine Mutter. Seine Mutter war der Schlüssel. Hitchcocks »Psycho«. Der Verrückte hatte seine tote Mutter im Keller aufbewahrt. Trug ihre Kleider. Sprach mit ihrer Stimme. Persönlichkeitsspaltung. Bestimmt hatte Hitchcock recherchiert. So etwas gab es. Sie hatte den Film als junges Mädchen gesehen und danach nächtelang nicht geschlafen. Aber das hier war das reale Leben. Er wusste, dass sie Anja Maiwald war und nicht seine Mutter. Doch er schien dieses Wissen ausblenden zu können. Er machte sie zu ihr. Wurde wieder Kind. Benutzte sie. Und er wurde gewalttätig, drehte durch vor Wut, wenn sie sich widersetzte.
»Du bist so schön!«
Oh Gott! Noch nie hatten Worte mit diesem Inhalt sie so verstört! In diesem Moment, als sie diesen Satz hörte, fühlte sie, dass alles geschehen konnte. Alles! Eine wilde Panik hatte sie überwältigt, überflutet. Jede Kontrolle, jede Zuversicht, dass sie diese Situation in den Griff bekommen könnte, hatte sich davon gestohlen. Diese Worte, die er leise an ihren Körper geflüstert hatte und die in ihr hallten.
»Du bist so schön!«
Sie jagten Angst um Leib und Seele in sie hinein, Angst um ihr Leben. Und um Susan.