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3 FAVOLA PER MUSICA MUSIKTHEATER UND ORATORIUM

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Reine Musik sind eigentlich nur textlose Klänge. In dem Augenblick, in dem das Wort zu den Tönen tritt, sind es bereits zwei Künste, die sich verbinden. Wenn nun auch noch ein dramatisches Geschehen, Tanz, eine Szene mit Bühnenbildern, handelnde Personen samt Kostümen, vielleicht sogar noch künstliche Beleuchtung und Theatermaschinen dazukommen, dann handelt es sich um einen Sonderfall der Musik – das Musiktheater mit seinen vielen Verzweigungen: Oper, Singspiel, Operette, Musical, Ballett, aber auch die Gattung mit nur imaginierter Szene – das Oratorium – und die wahrscheinlich älteste vertonte dramatische Handlung unserer Kultur: die Passion. Wenn man es ganz genau nimmt, gehört sogar der Film als multimediales Ereignis dazu. Eine ganz frühe Bezeichnung aus der Zeit um 1600, als die Oper entstand, bringt es gut auf den Punkt: eine in Musik gesetzte Geschichte – Favola per musica (so Monteverdis »Orfeo«).

Die Musikgeschichte kennt die Zeit um 1600 als eine wichtige Wendezeit: Mit dem Versuch, in musikalischer Weise Geschichten zu erzählen und darzustellen, bekam der Gesang eine neue Qualität. Hier wurden nicht nur Silben mit schönen Noten verbunden, sondern hier wird die Sprache – samt ihrem Klang und Rhythmus, ihrer Poesie und Dramatik, ihrem Zauber und ihrer Leidenschaft – zu Musik. Denn jeder gute Text hat schon Klang und Rhythmus. Wenn der Komponist dem nachspürt und es in Töne setzt, dann entsteht Musik von großer Intensität der Klangrede. Die musikalische Rhetorik wird hier zu einem Kompositionsprinzip. Wort und Musik verschmelzen zu einer Einheit. Von nun an kann man nicht mehr ohne Weiteres einem vertonten Text Worte einer anderen Sprache unterlegen. Wenn es dennoch gelingt, kann man von einem Glücksfall sprechen.

Die Entstehungsgeschichte der Oper ist mit einer zweiten Gattung verbunden, die man als den spirituellen Zwilling des Musiktheaters verstehen kann: Das Oratorium ist »Theater im Kopf«. Diese gleichzeitig als geistliche Entsprechung für den kirchlichen Bereich entstandene Gattung verzichtet auf Szene, Kostüme, Tanz und Bühnenbild. Das macht das Oratorium nicht unbedingt ärmer: Denn durch den Verzicht auf visuelle Reize, die ja dominanter sind als akustische, kann die Musik mehr in die Tiefe gehen. Während einem Zuschauer im sichtbaren Musiktheater vor lauter Sehen das Hören vergeht, kann man im Oratorium beruhigt die Augen schließen. Und wenn man dabei nicht schon besser hört, kann man wenigstens besser schlafen. Tatsächlich kann man immer wieder szenische Aufführungen von Oratorien sehen und konzertante Darbietungen von Opern hören. Deshalb ist auch ein szenisches Oratorium häufig nur eine langweiligere Form der Oper.

Ein Sonderfall des Oratoriums ist die Passion – eine vorwiegend evangelische Gattung der Kirchenmusik. Die Leidensgeschichte Jesu aus den vier Evangelien wurde schon im Mittelalter im Gottesdienst – vor allem am Karfreitag – von Klerikern gesungen (gregorianische Passion). Im ausgehenden Mittelalter gab man den Personengruppen (Apostel, Volk) auch mehrstimmige Partien, dann sang der Evangelist einstimmig nach Art der Gregorianik und alle Personen in direkter Rede mehrstimmig (responsoriale Passion), später sang man den ganzen Bibeltext nach Art einer Motette (motettische Passion – was der Wortdeutlichkeit nicht gut bekam). Bei Heinrich Schütz finden wir den Text der einzelnen Sprecher (Evangelist, Jesus, Pilatus, Petrus) einstimmig vertont, die Personengruppen ebenso wie den Anfang und den Abschluss mehrstimmig – alles ohne Instrumente. Im 17. Jahrhundert nahm die Passion die Form des Oratoriums an (oratorische Passion) – so kennen wir sie von Bach, Telemann und den Zeitgenossen. Als man später den Bibeltext (auch aus einem eigenartigen Respekt vor dessen Heiligkeit) gegen poetische Passionstexte zeitgenössischer Autoren austauschte (Passionsoratorium), fiel die Passion zeitgebundener und bisweilen allzu schwülstiger Poesie – und damit der Vergessenheit – anheim. Alle derartigen Passionen des 19. Jahrhunderts sind vergessen.

Von den katholischen Passionen ist kaum mehr etwas lebendig – wohl auch wegen der dabei verwendeten lateinischen und italienischen Texte. Ein erfolgreiches katholisches Gegenstück zur evangelischen Passion ist allerdings überraschenderweise an einem völlig anderen Ort zu finden: das Passionsspiel. Es war zu allen Zeiten auch mit Musik verbunden und war vermutlich auch die erste europäische Schöpfung eines Gesamtkunstwerks, wie es später Richard Wagner anstrebte. Das heute noch aufgeführte berühmteste Beispiel ist Oberammergau in Bayern: Die Schauspielmusik für Soli, Chor und Orchester stammt von Rochus Dedler, einem Zeitgenossen Beethovens, und hat die Dauer und die Tonsprache einer veritablen Oper. Es ist für die katholische Gegenreformation bezeichnend, dass sie mit Mitteln der Kunst – der Malerei, der Architektur, des Schauspiels und der Musik – Protestanten für den alten Glauben zurückzugewinnen suchte. Da ihr die bei den Evangelischen so erfolgreiche deutsche Passion wegen der lateinischen Kultsprache untersagt war, wich sie auf andere Passionsmusiken aus: neben der lateinischen und manchmal italienischen Passion waren dies Grabmusiken, die Musik zu den sieben letzten Worten Jesu und das Stabat Mater – eine Passionsmusik mit Blick auf Maria unter dem Kreuz.

Neben der Passion, die ja aus dem Mittelalter kommt und nur für kurze Zeit im Barock die Form eines Oratoriums angenommen hatte, hatte das Oratorium selbst eine durchaus ruhmreiche Geschichte. Bei Händel verstand es sich vor allem als Oper ohne Szene, die der künstlerisch erfolgreiche, doch letztlich kommerziell gescheiterte Opernkomponist bestens beherrschte, bei Haydn bereits als im weltlichen Raum aufgeführtes religiöses (Schöpfung) oder weltliches (Jahreszeiten) Werk. Dass Gott auch während der Jahreszeiten gelobt wurde, war für den damaligen Zuhörer ohnehin kein Problem. Die beiden wichtigsten Oratorien der Romantik sind mit »Elias« und »Paulus« zwei biblische Werke – immerhin von einem zum Protestantismus konvertierten Juden aus tiefer Überzeugung komponiert. Hier hat sich das Oratorium endgültig aus dem engen Umfeld der Kirchen gelöst. Das ist gar nicht so selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass die Herkunft der Gattung (lat. orare/beten) eine religiöse ist. Die Bezeichnung »weltliches Oratorium« ist natürlich unfreiwillig komisch und klingt so ähnlich wie »Gottesdienst für Agnostiker«. Dennoch hat gerade das 20. Jahrhundert in dieser eigenartigen Gattung wichtige Werke hervorgebracht (Strawinsky »Oedipus Rex«, Schönberg »Ein Überlebender aus Warschau«).

Es ist interessant zu verfolgen, wie sich die Oper von ihrer Entstehungszeit her immer mehr formalisierte: War sie zuerst reiner Sprechgesang, der sich am Text und dem dramatischen Geschehen orientierte, gruppierte sich in der Folge die Musik immer stärker zu kleinen Formen und letztlich zu den klassischen Teilen (Rezitativ, Arie, Duett, Ensemble, Chor, Ballett, Ouvertüre, Intermezzo). Zeitweilig waren die Teile auch von verschiedenen Komponisten »beigesteuert« worden, wodurch die dramaturgische Einheit zu einem heterogenen Pasticcio – einer »Musikpastete« – wurde. Als die Opera seria zur langatmigen Nummernoper verkommen war, setzte die Gegenbewegung ein und verband die Teile wieder zu einem großen Ganzen, so dass um Wagner und Verdi wieder großes Musiktheater aus einem Guss zu erleben war.

Die Oper als aufwändigste und teuerste musikalische Gattung war auch immer wieder der Anlass zu Konflikten und Parteiungen, die sich gelegentlich sogar zu richtigen Glaubenskämpfen stilisierten. Den Wagnerianern gelang sogar ein in der Musikgeschichte einmaliges Vorhaben: Ihr Religionsgründer errichtete sich und seiner Glaubensgemeinschaft einen eigenen Tempel zur Aufführung seiner Werke. Man kann Wagners Mono- und Egomanie tadeln oder bewundern – aber die Firma Bayreuth ist in der Kunstwelt einzigartig. (Als würden im Mozarteum Salzburg nur Mozarts Werke unterrichtet und aufgeführt.) Es ist bemerkenswert, dass es um keine andere musikalische Gattung derart wüste Kämpfe, Beschimpfungen und Intrigen gab wie um die Oper.

Die große Popularität der Oper zu Zeiten Mozarts oder Wagners, die ja die erfreuliche Vorderseite der Positionskämpfe ist, kann heute keine Oper mehr verbuchen. Waren es zeitweise die Singspiele und Operetten (und ihre nationalen Spielarten wie Zarzuela, Vaudeville) und später die Musicals, die noch breitere Bevölkerungsgruppen ansprechen konnten, so sind es heute eher Filme, musikalische Shows und diverse Fernsehvarianten, die es zu ähnlicher Bekanntheit bringen können. Die gute alte Oper wurde wiederholt totgesagt. Und wenn man heute in eine zeitgenössische Oper geht, dann erlebt man eine Art von Musiktheater, die sich natürlich seit 1600 immer wieder weiterentwickelt hat. Die einen finden sie lächerlich, weil die Menschen beim Liebesakt und sogar beim Sterben singen, die anderen finden sie gerade deshalb so stark, weil nichts so sehr nach Musik drängt wie die Erfahrung von Liebe und Tod.

Das 19. Jahrhundert kannte zwei musikalische Gattungen, die ebenfalls Geschichten in Musik gossen, jedoch in einer zeitgebundenen und deshalb beinahe vergessenen Form. Das Melodram verband Sprache mit Musik – konkret einen oder mehrere Sprecher(innen) in Kompositionen für Orchester oder Klavier. In Opernszenen gab es das – etwa im »Fidelio« oder im »Freischütz« – schon länger. Ein Melodram im Großformat ist eine rezitierte Geschichte mit illustrierender Hintergrund- und Verbindungsmusik des Orchesters. Im Kleinformat genügen ein Sprecher, eine Sprecherin und ein Pianist. Die Werke (Schumann, Liszt, Richard Strauss) sind allesamt vergessen und vermutlich durch die Entwicklung der Medien (Tonträger, Hörfunk, Fernsehen) abgelöst. Im 20. Jahrhundert versuchten es nochmals Arnold Schönberg und Alban Berg. Eine ebenfalls kleinere Version des Dramas mit Text und Musik ist die Ballade: Von dieser Gattung werden fast nur mehr jene des sonst als Komponisten unterschätzten Carl Loewe aufgeführt. Goethes Erlkönig wurde ebenso von ihm wie von Franz Schubert vertont.

In dieses Kapitel gehört auch eine weitere musikalische Gattung, die dem dramatischen Geschehen verbunden ist: die Ballettmusik. Sie ist eigentlich ein selbstständiges »Tanztheater«, hat aber auch in vielen Opern, Operetten und Musicals einen festen Platz. Die Faszination guter Ballettmusik besteht darin, dass sie selbst ohne das visuelle Erlebnis des Tanzes und ohne das Wissen um die in einen Tanz gegossene Geschichte dem Hörer ein pulsierendes und tänzerisches Hörerlebnis zu geben vermag. Das ist wohl der Grund, weshalb sich viele Ballettmusiken auch in den Konzertprogrammen gehalten haben. Das kann besonders Musikfreunde ansprechen, die musikalische Eindrücke primär über den Rhythmus erfahren – wie es die Popmusik in oft trivialer Weise demonstriert.

Dieser Musik wohnt die Anteilnahme an sinnlichen und dramatischen Vorgängen inne, die man nicht immer sehen muss, um sie zu empfinden.

Die wichtigsten Musiker im Portrait

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