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4 ANDANTE CANTABILE GESANG UND STIMME

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Eine Musik mit besonderer Faszination ist die menschliche Stimme. Kein Klang ist so authentisch und von derart direkter persönlicher Ausstrahlung wie der Gesang. Schon dass man meist nach wenigen Tönen erkennt, ob hier ein Mann, eine Frau oder ein Kind Musik erzeugt, ist ausschließlich beim Singen möglich. Zudem braucht der Gesang kein Instrument – außer dem Körper. Oder noch deutlicher: Beim Singen ist der Mensch selbst das Instrument, auf dem er spielt. Damit kein Irrtum aufkommt: Man singt nicht nur mit dem Hals, der Lunge, den Stimmbändern, dem Mund. Man singt mit dem ganzen Körper. Ein steifer und verkrampfter Körper, der nur in den oberen Luftwegen Töne erzeugen will, kann keine gute Musik hervorbringen. Nur wenn der ganze Mensch singt, singt er gut. Das gilt übrigens auch für jede andere Form des Musizierens.

Die Geschichte der Vokalmusik ist so alt wie die Geschichte der Musik überhaupt. Und vielleicht ist der Gesang auch das Urbild jeglicher Musik, so dass sich auch in den Spielanweisungen für die Instrumentalmusik immer wieder Ausdrücke aus dem vokalen Bereich finden (Andante cantabile). Auf Instrumenten sanglich zu musizieren, ist ein gutes und altes Ideal. Von den Anfängen der Vokalmusik haben wir nur Ahnungen und Vermutungen, aus dem Mittelalter immerhin dank der Schriftkultur der Kirchen und Klöster den gregorianischen Choral und ein wenig weltliche Musik, aus der Renaissance einen reichen Schatz an geistlichen und weltlichen Gesängen – vor allem mehrstimmige. Das hat wohl auch damit zu tun, dass man einstimmige Gesänge leichter im Gedächtnis behält und nicht unbedingt aufzeichnen muss. Man sollte also nicht vorschnell aus den Aufzeichnungen auf die tatsächliche Praxis schließen.

Wenn wir heute die geistlichen Gesänge rund um den wohl bekanntesten Komponisten geistlicher Musik des 16. Jahrhunderts – Palestrina – hören, dann entsteht leicht ein folgenschwerer Irrtum: Wir hören bei den meisten Aufführungen und auf den meisten Tonträgern unbegleitete Chöre mit 30 bis 50 Sängerinnen und Sängern – meist in einem schönen, homogenen und gepflegten Chorklang, samt guter Pianokultur. Und daran ist – wenn auch auf attraktive Weise – fast alles falsch: Die hohen Stimmen wurden damals entweder von Knaben oder Kastraten gesungen – Frauengesang war bis vor etwa 200 Jahren in christlichen Kirchen (außer in Frauenklöstern) verpönt. Das galt übrigens weithin auch für den protestantischen Raum. Knabenchöre gibt es heute noch – allerdings nur bis zu einem Alter von 12 bis 14 Jahren. Da in früheren Jahrhunderten die Pubertät viel später einsetzte, oft erst mit 17 oder 18 Jahren, war auch der Klang dieser Stimmen anders – vor allem kräftiger und reifer, auch was das Musikverständnis betraf.

Das Singen ohne begleitende Instrumente war – außer an der Sixtinischen Kapelle in Rom – kaum üblich. Man muss sich – bedingt durch die großen und halligen Stiftkirchen und Kathedralen – den kräftigen Klang kleiner Ensembles von Berufssängern vorstellen. Am ehesten käme dem ein heutiger Theaterchor nahe, der gewohnt ist, große Oper zu singen. Der ist allerdings auch mit Frauen besetzt. Zudem spielten damals häufig Instrumente den Gesangspart mit (colla parte) – man wählte nach vorhandenen Spielern und Instrumenten, nach akustischem Bedarf der Räume und gemäß dem Charakter der Aufführung Streich- und Blasinstrumente aus, die häufig sogar aus den Notenblättern oder Stimmbüchern der Sänger mitspielten. Das erleichterte auch die Aufführung wenig geprobter Werke.

Man erkennt, dass schon bei der ersten Etappe neuzeitlicher Vokalmusik das Ideal historischer Aufführungspraxis unerfüllt bleibt. Es wird wohl niemand ernstlich bei Knaben die Pubertät hormonell verzögern oder gar die Kastration wollen. Das Instrumentarium jener Zeit wird heute nur von wenigen Spezialisten beherrscht, und eindeutige Besetzungsangaben gibt es nicht. So bleibt auch jede Aufführung oder Aufnahme mit historischen Instrumenten ein Rekonstruktionsversuch. Weil man damals nach Bedarf und Möglichkeiten besetzte, gibt es keine Partituren mit Besetzungsangaben. Es gibt also genau genommen keine authentische Interpretation. Doch abgesehen davon hat der nichtauthentische Klang heutiger Laienchöre bei den Motetten Palestrinas und den Madrigalen Monteverdis in seiner romantischen Intensität einen hohen Reiz für Freunde guter Chormusik.

So vage, aber auch so reizvoll kann man sich den Beginn der Vokalmusik in der frühen Neuzeit vorstellen. Besser gelingt die Vorstellung bei der solistischen Vokalmusik, die besonders ab 1600 – mit der Entwicklung von Oper und Oratorium – zu einer hohen Blüte gelangte. Zwar ist das begleitende Instrumentarium noch immer variabel (für den Generalbass: Cembalo, Orgelpositiv, Laute, Theorbe, und als Bassinstrumente: Gambe, Violone, Violoncello, Fagott) – doch der Gesamtklang der Instrumente tritt hinter der Singstimme zurück. Und die hat sich durch die Jahrhunderte wenig geändert – am ehesten in der Stimmtechnik. Doch auch hier darf man für frühere Jahrhunderte eine hohe Gesangskultur annehmen.

Die Geschichte des Sologesangs ist seither stark mit der Oper verknüpft, die Vokalisten des Musiktheaters waren häufig dieselben wie in der Kirchenmusik. Koloratur- und Kastratengesang dominierten zeitweise derart stark, dass die vokale Virtuosität häufig die musikalische Substanz ersetzte. Mozarts berühmte Motette »Exsultate, jubilate«, mit dem abschließenden »Alleluja«, ist ein Beispiel hoher Stimmartistik mit ebenbürtiger musikalischer Intensität und Kunstfertigkeit. Doch die Zeit dafür war bald abgelaufen: Im 19. Jahrhundert ging es eher um Ausdruck, Gefühl und Leidenschaft. Belcanto war angesagt, nicht bloß Koloraturgezwitscher und Trillerketten. So kam es zum Ende des Kastratenwesens. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts taten die Letzten ihrer Art noch Dienst im päpstlichen Gottesdienst.

Während in der romantischen Oper das Fest der großen Stimmen gefeiert wurde, ereignete sich in den Salons des bildungswilligen und kunsthungrigen Bürgertums Gegensätzliches. Es entstand für die häusliche Musikpflege das romantische Klavierlied. Hier war nicht die große Opernstimme, sondern der intime und berührende Liedgesang gefragt. Mit Schubert begannen die Vertonungen großer Dichtkunst – allen voran mit Goethes Gedichten, aber auch in den verschiedenen Liederzyklen und Liederkreisen. War Beethovens Liedfolge »An die ferne Geliebte« (1816) noch so geschrieben, dass die Lieder ohne Pause ineinander übergingen, so bestand Schuberts Zyklus »Die schöne Müllerin« (1823) bereits aus 20 einzelnen Liedern, die aber gemeinsam eine kleine Geschichte erzählten – von erster Verliebtheit, dem großen Liebesjubel über Enttäuschung und Eifersucht bis zum finalen Suizid.

Das 19. Jahrhundert wurde zum Jahrhundert des deutschen Liedgesangs: Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Brahms, Hugo Wolf – allesamt unter zunehmender Bedeutung der Dichtkunst, fortgesetzt mit Gustav Mahler und Richard Strauss. Anstelle der früher eher farblosen Gelegenheitsdichtung kam nun häufiger hochwertige Poesie zu Wort. Das Klavierlied boomte. Weder vorher noch nachher hatte die von einem einfachen Tasteninstrument begleitete Singstimme so viel hochwertige Kompositionen zur Verfügung. Es ist jedoch nicht so sehr Musik für den großen Konzertauftritt, sondern mehr für die Intimität eines kleineren oder mittleren Kreises – Salonmusik im guten Sinn als eine erste Bereicherung im Repertoire der bürgerlichen Musikkultur.

Es hat eine gewisse Logik, dass im häuslichen Musizieren außer dem Lied und der Klaviermusik in nicht allzu schweren Sonaten, den beliebten Charakterstücken und kleinen Zyklen, auch das mehrstimmige Singen gepflegt wurde. Das Soloquartett, sowohl für vier Männer- oder Frauenstimmen als auch für gemischte Stimmen: Sopran, Alt, Tenor und Bass, war sozusagen die heimische Keimzelle für die spätere Chormusik. Da das häusliche Musizieren eine Schulbildung und einen gewissen Wohlstand voraussetzte, kam es erst in der Biedermeierzeit und Frühromantik zu dieser für den einfachen Bürger neuartigen Musikpflege. Die – etwa von Schubert – neu komponierten Stücke für vier Singstimmen, mit oder ohne Klavierbegleitung, bildeten zugleich mit der Pflege im Salon den Grundstock für die eben entstehenden Bürgerchöre, Gesangvereine und Liedertafeln.

Das Chorwesen hatte im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt: Die Chöre trafen sich regelmäßig in den größeren Städten zu Sängerfesten mit Tausenden Teilnehmern und Aufführungen in den eben entstandenen Konzertsälen, aber auch in Kathedralen und im Freien. Die Chöre verstanden sich nicht nur als musikalische Ensembles, sondern auch als Vereinigungen zur Geselligkeit und zur Standespflege. Männerbündische Vereine mit ausgiebiger Stammtischpflege gab es ebenso wie Kirchen-, Damen-, Schul- und Knabenchöre. Das Männerchorwesen ist heute beinahe ausgestorben – Knabenchöre gibt es fast nur noch an Internatsschulen oder traditionsreichen Institutionen. Die besten Komponisten schufen für diese Chöre gute Musik: sowohl im vermeintlich alten, jedoch tatsächlich neuen romantischen A-cappella-Stil, als auch mit Klavier- und Instrumentalbegleitung, große Werke sogar für Soli, Chor und Orchester.

Älter als auf dem europäischen Festland ist die Chorpflege in Großbritannien. Dort entstanden bereits im 18. Jahrhundert Laienchöre von beachtlichem Können, dort gab es auch seit Purcell und Händel die Werke und die Ambitionen für große Aufführungen – etwa des Messias, widmungsgemäß zu wohltätigen Zwecken. Haydns und Mendelssohns Aufenthalte in England, ihre großen oratorischen Werke und ihre Erfolge in diesem Land, hängen ebenfalls mit dieser Tradition zusammen. Die dort in den größeren Städten entstandenen bürgerlichen Konzertsäle waren auch mit Orgeln für solche Zwecke ausgestattet. Diese traditionsreiche Chormusikpflege reicht über Elgar und Britten bis in die Gegenwart.

Der Chorgesang ist jene Gattung, in der sich demokratische Prinzipien am ehesten verwirklichen: Der Chorleiter dirigiert eine Schar von sangesbegeisterten Laien, die als einzige Voraussetzungen Musikalität und Lesen, inklusive Notenlesen, mitbringen. Die demokratische Mitbestimmung äußert sich in der Freiwilligkeit: Wenn keine Sänger mehr kommen, endet die Macht des musikalischen Diktators. Und neben dem Singen ist die Gemeinschaftspflege meist ein ungeschriebenes Vereinsprinzip. Die üppigen Choraktivitäten des 19. Jahrhunderts sind seither auf ein schlichteres Maß geschrumpft. Für professionelle Aufführungen sorgen heute halb und ganz professionelle Ensembles und neuerdings Projektchöre, die sich für einzelne Produktionen nach einem Inskriptionsprinzip immer wieder neu formieren.

Menschen, die gern und regelmäßig singen, aber auch jene, die Vokalmusik besonders lieben, berichten häufig, dass ihnen der Gesang eine irgendwie erotische Erfahrung beschert. Man kann dieses Gefühl verstehen, ohne die Amouren der Sängerinnen und Sänger, ihrer Verehrerinnen und Verehrer zu bemühen: Man singt mit dem ganzen Körper, mit Leib und Seele, mit Verstand und Gefühl, als Frau und Mann.

Die wichtigsten Musiker im Portrait

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