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5 CANTIO SACRA MUSIK UND RELIGION

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Wenn man in der Musikgeschichte die religiöse Musik gegen die weltliche abwägt, dann zeigt sich ein eigenartiges Verhältnis: Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto größer ist der Anteil religiöser Musik an der Gesamtheit der uns überlieferten Werke. Aus dem Mittelalter wurde fast nur Kirchenmusik überliefert – schließlich waren vor allem Kleriker und Mönche schriftkundig. Weltliche Musik wurde selten aufgezeichnet. Das meiste wurde wohl nach dem Gehör, nach Überlieferungen und im gemeinschaftlichen Musizieren tradiert. Da sich die Kirchenmusik jener Zeit der lateinischen Sprache bediente, konnte sie nicht volkstümlich werden. Sie war in der Zeit der Gregorianik eine hoch entwickelte Spezialistenmusik für sprach- und schriftkundige Musiker geistlichen Standes, die sich zuvor einer jahrelangen Ausbildung unterzogen hatten.

Noch in der Renaissance ist der weitaus größere Teil der aufgezeichneten Musik geistlicher Art. Dieses Verhältnis beginnt sich im Barock auszugleichen und etwa in der Klassik umzukehren. Heute ist die religiöse Musik eine eher schmale Sparte. Heute muss man auch in den Begriffen genauer sein: Im engeren Sinn gehören nur die für den Gottesdienst bestimmten und im Ablauf der Liturgie verankerten Kompositionen zur Kirchenmusik. Daneben gibt es jedoch ein Feld religiöser Musik für andere Bereiche: die große Zahl der Oratorien, die im Umkreis der Kirchen für geistliche, jedoch nicht liturgische Zwecke entstanden, religiöse Opern (etwa »Saint François d’Assise« von Messiaen), religiöse Vokalmusik für häusliche oder konzertante Aufführungen (etwa Schuberts 23. Psalm, vierstimmig mit Klavier), aber auch Cembalowerke mit religiösen Themen (Kuhnaus Biblische Sonaten) und religiöse Klaviermusik (Liszt, Messiaen) und natürlich jene großen Orgelwerke, die den Rahmen des Gottesdienstes sprengen würden.

Das vielleicht berühmteste religiöse Sujet in zahlreichen Vertonungen – vor allem der während der Romantik – hat mit Kirchenmusik überhaupt nichts zu tun: das Ave Maria. Der lateinische Text kommt in dieser Form in der Liturgie gar nicht vor, sondern verdankt als typisch katholisches Gebet zur Mutter Jesu seine Popularität der Gegenreformation und in der deutschen Fassung als »Gegrüßet seist du, Maria« dem Rosenkranzgebet. Die erste Hälfte des Textes entstammt dem Lukasevangelium, die zweite der christlichen Gebetsüberlieferung. Doch führen die beiden bekanntesten Vertonungen, jene von Franz Schubert – eigentlich ein deutsches Klavierlied – und die andere von Charles Gounod – eigentlich eine posthume Enteignung des ersten Präludiums aus Bachs »Wohltemperiertem Klavier« – ein zähes Eigenleben bei Hochzeiten und Begräbnissen. Das ist weder Kirchen- noch geistliche Musik, sondern religiöse Salonmusik und in vielen heutigen Fassungen zur Trivialmusik verramschte Klassik.

Um die Geschichte der christlichen Kirchenmusik in der abendländischen Geschichte von Grund auf zu verstehen, sollte man Folgendes bedenken: Soweit wir wissen, ist Musik in allen alten Religionen eine wichtige Weise zu beten und Gott oder die Götter zu verehren. Als die reinste Form galt aus verständlichen Gründen der Gesang – in ihm ist der Mensch zugleich Spieler und Instrument. Die religiöse Musik unserer Kultur hat jüdische, hellenistische und christliche Wurzeln – aus ihnen entstand die Gregorianik. In den Kirchen des Ostens, in der Orthodoxie und in den katholischen Ostkirchen, beschränkt sich die Kirchenmusik noch immer auf den Gesang. Im Judentum war dies bis ins 19. Jahrhundert ebenso. Erst dann stellte man im Sinn einer kulturellen Anpassung in größeren städtischen Synagogen auch Orgeln auf.

Die Urform der ostkirchlichen Musik für den Gottesdienst war der unbegleitete, schlichte und homophone Gesang von Männerstimmen. Die Herkunft aus dem Mönchstum ist hier noch zu erkennen. Erst langsam werden in den letzten Jahrzehnten auch Frauenstimmen akzeptiert. Zudem ist die Liturgie der orthodoxen und katholischen Ostkirchen noch immer eine Priesterliturgie, der die Gläubigen ohne äußere Aktivitäten »beiwohnen« – wie man in katholischen Kreisen bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) auch bei uns sagte. Heute sind es eher die westlichen Kirchen, bei denen die Gemeinde aktiv teilnimmt – und eher die Ostkirchen, die eine Klerusliturgie kennen. Dem entsprechen auch die schlichten und feierlichen, mehrstimmigen und unbegleiteten Chorgesänge in den jeweiligen Liturgiesprachen, etwa griechisch oder russisch.

In den reformatorischen Kirchen waren es die Calviner, die nur den Gesang biblischer Texte zulassen wollten. Ob man diese Lieder auch mehrstimmig singen durfte, war immer wieder Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Auf jeden Fall waren Instrumente verboten. Immerhin verdanken wir dieser rigorosen Einstellung die Vertonung des ganzen Psalters, des 150 Psalmen umfassenden biblischen Liederbuchs der Juden. Das Verbot für Frauen, außer am Gemeindegesang der Kirchenlieder – die man evangelischerseits auch »Choräle« nannte – auch solistisch oder in Kirchenchören mitzuwirken, bestand in allen christlichen Kirchen mit unterschiedlicher Härte bis vor etwa 200 Jahren. Die Musik wurde als ein offiziell geistliches Amt verstanden, das man im damaligen Verständnis nicht Frauen überlassen durfte.

Diese ausführliche Erläuterung hat das Ziel aufzuzeigen, dass Kirchenmusik im engeren Sinn nicht ein verzichtbares Element zur Verschönerung des Gottesdienstes war, sondern ein elementarer Teil: die verbale Sprache des Evangeliums und der Predigt als die eine – und die musikalische Sprache, die Klangrede, als die andere Sprache des Gottesdienstes. Pfarrer und Kantor waren die beiden – damals verständlicherweise – männlichen Amtsträger. Die Amtseinführung des evangelischen Kantors durch Handauflegung im Rahmen eines festlichen Gottesdienstes zeigt diese Verwandtschaft mit der Ordination des Pfarrers oder Priesters. In manchen Klosterkirchen findet man eine architektonisch-künstlerische Symbolik für diesen Sachverhalt: zwei Kanzeln – eine für den Prediger, eine zweite mit einem Orgelwerk und den Pfeifen im Prospekt für die Musik.

Nach den bisherigen Ausführungen ist leicht verständlich, dass es für die großen Kirchen nach der Reformation eine jeweils gültige musikalische Form für den Hauptgottesdienst an Sonn- und Feiertagen gab: Für den katholischen Bereich war es die damals lateinische Messe, das Ordinarium (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei). Nur im Kyrie blieb der ursprünglich griechische Text erhalten. Für die Lutheraner war es vor allem die Kantate, aber auch Bibelvertonungen und andere geistliche Gesänge zu den jeweils aktuellen Texten des Sonntags (Motette, Geistliches Konzert, Cantio Sacra). Diese Musik änderte sich bei den Evangelischen von Sonntag zu Sonntag, während die Katholiken das immer gleiche Ordinarium singen konnten. Die jeweils wechselnden Texte der katholischen Messe wurden als Proprium (Introitus, Graduale, Offertorium und Communio) ausgeführt. In der landläufigen Praxis wurden diese jeweils wechselnden Teile jedoch nur schlicht gesungen oder durch eine andere Musik ersetzt.

Diese eben erörterte Trennung gilt natürlich erst seit der Reformation. Für die Anlässe außerhalb der Hauptgottesdienste der Sonn- und Feiertage gab es andere Formen: das Magnifikat, das Te Deum, die vielen katholischen Mariengesänge (Salve Regina, Stabat Mater, Regina coeli), die Totenmesse (Requiem), die Vesperpsalmen (Dixit Dominus, Laudate pueri, Laudate Dominum) und überhaupt die vielen Psalmen – bei den Katholiken lateinisch, bei den Evangelischen in der jeweiligen Landessprache. Die englischen Vertonungen in der anglikanischen Kirche (Händel, Purcell) folgen dem protestantischen Brauch. Die Passionen waren ursprünglich Kirchenmusik im engeren Sinn. Sie wurden vor allem im Karfreitagsgottesdienst gesungen, da sie den Bericht der Evangelien wiedergaben. Wenn man die Passionen als ein in der Kirche gesungenes Evangelium vom Leiden und Sterben Jesu versteht, dann wird man sie anders hören, als wenn man sie nur als Konzertprogramm für die Zeit um Ostern wahrnimmt.

Alle bisher erwähnten Formen der Kirchenmusik nahmen die Merkmale der jeweiligen Epoche, der Auftrag- und Geldgeber, aber auch des Zeitgeists und der jeweils aktuellen Gläubigkeit an. So kann ein Kyrie kurz und in wenigen schlichten Akkorden ablaufen (William Byrd) oder mit Pauken, Trompeten und Soprankoloraturen (Haydns Nelsonmesse) Klangpracht und Virtuosität zeigen. Beide Formen können gute Musik, von echter Frömmigkeit getragen und spirituell aufrichtig sein. Beide Formen werden aber die jeweilige Zeit, ihre Frömmigkeit und ihre Kompositionstechnik widerspiegeln. Eine Besonderheit der Kirchenmusik war es allerdings, ältere Stile auch nach ihrem Ablaufdatum weiterhin zu pflegen, etwa in barocken Formen – Stile antico – bei Mozart.

Ein eigenes Kapitel ist das Kirchenlied. Als nach der Reformation die Katholiken an der lateinischen Liturgiesprache festhielten, wurde das deutsche Kirchenlied als »protestantischer Gemeindechoral« zu einer vorerst evangelischen Domäne. Luther selbst schuf einen ersten Kanon solcher Kirchenlieder – teilweise auf Basis bereits vorhandener Melodien. Viele dieser frühen Lieder sind freie Nachdichtungen von Bibel- und Katechismustexten, vor allem aber der ursprünglich jüdischen Psalmen. Als die Katholiken in der Gegenreformation die Attraktivität des deutschen Kirchenliedes erkannten, zogen auch sie nach – jedoch mit freien Dichtungen, ohne die lateinische Zelebration des Priesters zu berühren. Es wurde also gleichzeitig lateinisch zelebriert und deutsch gesungen – bis ins 20. Jahrhundert.

Diese Kirchenlieder – ob evangelisch oder katholisch, und zuletzt gemeinsam in ökumenischen Gottesdiensten, – haben die geistliche Musik in Zitaten, Choralvorspielen, Variationen, in Chorwerken und Kantaten nachhaltig geprägt und bereichert. Vor allem die Orgelmusik hat die Themen und Melodien aufgegriffen, sowohl im liturgischen Gebrauch (als Choralvorspiel oder Partita/Variation) als auch im konzertanten Bereich (Choralfantasie, Sinfonische Fantasie über …). Die katholische Orgelmusik fand reichlich Gelegenheit, die lateinische Liturgie des Priesters musikalisch zu überbrücken (etwa im französischen Raum: Entrée – Offertoire – Elevation – Communion – Sortie). Abwechselnd mit gesungenen Psalm- oder Magnifikatversen kam die Orgel zu Wort (in den Versetten der Alternatimspraxis). Es gab sogar Orgelmusik zur Überbrückung der still vom Priester gelesenen Messe (zwei Zyklen von Franz Liszt).

Im 19. Jahrhundert entstand in der katholischen Kirche eine gut gemeinte Reformbewegung, in der die Kirchenmusik wieder auf den Stil Palestrinas und die Strenge der Gregorianik zurückgeführt werden sollte: der Cäcilianismus – benannt nach der Patronin der Kirchenmusik. Man wollte fromme Schlichtheit und größere Wortdeutlichkeit erreichen. Entstanden ist auf diese Weise allerdings nur leichtgewichtige und inzwischen fast vergessene Gebrauchsmusik für mittelmäßige Kirchenchöre. Einzig Franz Liszt (Missa choralis) und Anton Bruckner (Messe in e-Moll) haben nach diesen Vorgaben hochwertige Kunstwerke geschaffen. Ansonsten blieb von dieser Bewegung nur die Pflege des gregorianischen Chorals, des Orgelspiels und eine verbesserte Ausbildung der Kirchenmusiker.

Im 20. Jahrhundert haben sich verstärkt Komponisten zu religiösen Themen in Werken geäußert, die nicht für die Kirche, sondern für das Konzert gedacht waren. Darunter findet sich eine schöne Zahl von gültigen Werken, die auch die Ansprüche und das Können vieler Kirchenmusiker überstiegen hätten. Auf diese Weise ist trotz der schwindenden Bedeutung der Kirchenmusik das religiöse und geistliche Anliegen im etablierten Musikwesen nicht erloschen. So zählen zu den religiösen Komponisten der jüngeren Zeit auch manche weniger fromme Meister der Tonkunst, auch orthodoxe, jüdische und sogar agnostische Musiker: Leoš Janáček, Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Zoltán Kodály, Frank Martin, Paul Hindemith, Francis Poulenc, Olivier Messiaen und Leonard Bernstein.

Ein Instrument steht heute noch als gültiges Symbol für Spiritualität und Religion: Die Orgel als die älteste und größte Klangmaschine der Musikgeschichte kann von den zartesten bis zu den mächtigsten Klängen das symbolisieren, was die geistliche Musik schon von alters her meinte: Musica est praeludium vitae aeternae – Musik ist ein Vorspiel zum ewigen Leben.

Die wichtigsten Musiker im Portrait

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