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Ostpreußisches Flüchtlingsmädchen
ОглавлениеDie Geschichte der Kindheit von Ella-Maries Mutter Inge, einem Marjellchen aus Ostpreußen, ist eine andere. Sie floh als Neunjährige im Januar 1945 bei eisiger Kälte zusammen mit ihrer Mutter und ihren beiden jüngeren Brüdern aus Ortelsburg in Masuren. Ziel war es, mit dem Schiff über die Ostsee den Hafen von Kiel in Schleswig-Holstein zu erreichen, dem Hauptanlaufgebiet von Flüchtlingen und Vertriebenen bei der Evakuierung von 2,5 Millionen Menschen aus dem Baltikum sowie Ost- und Westpreußen. Insgesamt verließen ab Ende 1944 ca. 14 Millionen Deutsche ihre Heimat in unzähligen Flüchtlingstrecks. Viele davon begaben sich mit Pferdefuhrwerken über das zugefrorene Frische Haff der Ostsee gen Westen, eine Entscheidung, die durch das Einbrechen im eiskalten Wasser oder durch den Beschuss von Tieffliegern für zahlreiche Menschen tödlich endete. Ursprünglich hatte Inges Mutter bis zum Schluss auf den Vater ihrer Kinder warten wollen, der als Zugschaffner bei der Reichsbahn arbeitete. Da die Rote Armee jedoch unaufhaltsam Richtung Westen rückte, packte die junge Mutter ihre drei Kinder, verließ das kleine schmucke Häuschen im idyllischen Masuren und floh mit dem Zug in der Holzklasse ohne Fensterscheiben in Richtung Königsberg. Auch sie wurden während der Fahrt durch Tiefflieger beschossen, weswegen der Zug immer wieder in Waldstücken zum Halten kam. Die Reise unter widrigen Umständen wollte einfach kein Ende nehmen. Endlich in Königsberg angekommen, verbrachte die Familie vier Tage in einem Bunker, um in einem Viehwaggon bei klirrender Kälte weiter in die Hafenstadt Pillau zu gelangen. Zuvor hatte Ella-Maries Oma in Königsberg einen Evakuierungsschein für vier Personen bekommen. Von Pillau aus „wollte“ man zusammen mit Tausenden anderer Frauen und Kinder, Verletzten, alten Leuten und Soldaten am 30. Januar 1945 mit der „Wilhelm Gustloff“, dem einstigen Luxus-Traumschiff der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ und zur Zeit seiner Erbauung größten Schiff der Welt, über die Ostsee die geliebte Heimat verlassen. In Pillau angekommen, lag der Luxusliner jedoch gar nicht vor Anker. Das Entsetzen soll laut Ella-Maries Mutter riesengroß gewesen sein. Wie sollte man nun weiter gen Westen gelangen, während die Rote Armee immer näher kam? Das Schicksal meinte es dennoch gut. Man hatte sozusagen noch einmal Glück im Unglück, denn die vierköpfige Familie konnte mit der „Hansa“ aus der ostpreußischen Heimat fliehen. Schon während der Überfahrt bekam die neunjährige Inge aus Gesprächen von Soldaten an Bord mit, dass die „Wilhelm Gustloff“, die an diesem Tag hoffnungslos überfüllt den Hafen von Gotenhafen verlassen hatte, durch den Beschuss mit drei sowjetischen Torpedos gesunken war. Mehr als 9.000 Menschen verloren bei der bislang größten Katastrophe der Seefahrt in der eiskalten Ostsee ihr Leben, nur 1.239 Menschen überlebten.226
Wie würde wohl die Antwort lauten, wenn man heute eine Umfrage hinsichtlich der größten Schiffskatastrophe aller Zeiten durchführen ließe? Wilhelm Gustloff? Wohl kaum, denn welcher Mensch der jüngeren Generation kennt die Geschichte dieses Schiffes überhaupt? Auch gibt es über diese menschliche Tragödie auf See keinen einnahmeträchtigen Blockbuster made in Hollywood. Darüber hinaus ist die Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ laut Expertenmeinung nicht als Kriegsverbrechen zu betrachten, sondern vielmehr ein legitimes Mittel in kriegerischen Zeiten gewesen. Die vielen Toten waren also nicht einmal ein sogenannter Kollateralschaden eines militärischen Aktes. Schließlich habe Deutschland Europa mit Krieg und mit Mord überzogen.227 Machen Sie die Probe aufs Exempel, indem Sie jüngeren Menschen die Frage nach der weltweit größten Katastrophe der Seefahrt stellen – Sie werden staunen! Die Antwort wird nahezu unisono „Titanic“ lauten. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Schließlich wurde der Untergang des Luxusliners „RMS Titanic“, bei dessen Jungfernfahrt über 1.500 Menschen ihr Leben verloren, bereits mehrfach verfilmt. An Bord des tatsächlich untergegangenen Fahrgastschiffes der Extraklasse waren übrigens neben vielen anderen wohlhabenden Menschen der Bergbaumagnat Benjamin Guggenheim, der New Yorker Kaufhausmitbesitzer Isidor Strauss und der Waldorf-Astoria-Hotelier John Jakob Astor. Gemeinsam war denen ihr großer Reichtum, doch es gab noch eine weitere Gemeinsamkeit: Alle drei sollen gegen die Gründung einer amerikanischen Zentralbank in Form der Federal Reserve gewesen sein.228
Die bekannteste Version, eine Mixtur aus Fakten und Fiktion, ist die mit elf Oscars ausgezeichnete Hollywoodproduktion von 1997, die teurer war als die „Titanic“ selbst. 200 Millionen US-Dollar kostete das 194-Minuten-Produkt aus der Traumfabrik in Los Angeles, während der Bau des Schiffes in den Jahren 1910 bis 1912 1,5 Millionen Pfund ausmachte, was umgerechnet auf das Jahr 1997 150 Millionen US-Dollar bedeutet.229 Das US-Filmdrama mit dem schnuckeligen Leonardo DiCaprio als Hauptdarsteller ist aber auch so schön klischeehaft: Tochter aus wohlhabendem Haus brennt mit armem Schlucker auf Luxusliner durch und ohne eine Packung Taschentücher ist dieser Streifen in seiner ganzen Länge kaum durchzustehen. Durch diesen Film wurde DiCaprio über Nacht zum Star und gründete nur ein Jahr später seine Leonardo-DiCaprio-Stiftung. Im Jahr 2018 hieß es, dass man über diese Stiftung bislang 100 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen den Klimawandel gesammelt habe, die in zahlreiche Projekte fließen würden.230 Der Schwarm vieler Frauenherzen wurde durch ein vorausgegangenes Treffen mit Al Gore, dem früheren US-Vizepräsidenten, im Jahr 1998 zum Umweltaktivisten.231 DiCaprio leidet scheinbar an einem ganz tief sitzenden Kindheitstrauma. So musste er als Junge statt unter einem Poster seines Superheldens unter einem Kunstdruck von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ schlafen, auf dem die Menschheit aus dem Paradies vertrieben wird. Deshalb weiß er auch, worauf die Welt gerade zusteuert: „Mit Adam und Eva fängt es an, dann geht es weiter: Überbevölkerung, Gemetzel, am Ende ist der Himmel tiefschwarz, die Landschaft verwüstet.“232 Und obwohl er das so genau weiß, steht er immer wieder in der Kritik aufgrund seines Umweltengagements. Trotz des unmittelbar bevorstehenden Weltunterganges benutzt er, der sich gerne mit sehr viel jüngeren Frauen umgibt und in Sachen Weltenretter unterwegs ist, seinen Privatjet wie andere ihr Auto oder Moped und reist auf einer Luxusjacht mit 24.000 PS durch die Weltgeschichte.233
Doch nun erst einmal wieder zurück ins Jahr 1945, in dem es nach der Überfahrt auf der eisigen Ostsee in eine ungewisse Zukunft ging. Eine, die mit vielen offenen Fragen, Hoffnungen und auch so manchen menschlichen Enttäuschungen versehen war.