Читать книгу Zivilcourage - Petra Paulsen - Страница 27

Versorgungslage

Оглавление

Heute mag Folgendes für viele Menschen nahezu ein Ding der Unmöglichkeit sein, gerade weil wir doch ständig auf Konsum getrimmt werden: Während ihrer gesamten Lebenszeit wurde die Wohnzimmereinrichtung der Eltern von Ella-Marie nur ein einziges Mal gegen eine neue ausgetauscht. Gut, es ist die damals übliche rustikale Eichenschrankwand, über deren Schönheit man sicherlich streiten kann, doch erfüllt diese in untadeligem Zustand nach gut 40 Jahren noch immer vollumfänglich ihren Zweck. Auch sieht die gepflegte Ledercouchgarnitur aus den 1980er-Jahren nach wie vor sehr einladend aus. Selbst die „neue“ Einbauküche ist mittlerweile auch schon wieder 30 Jahre alt. Mit dem Einzug eines Geschirrspülers in elektronischer Form, zu dem Ella-Marie ihre Eltern nach langem Hin und Her überreden konnte, verschwanden auch die rauen Hände aus der Tante-Tilly-Palmolive-Werbung sowie so manche Abwaschorgie bei Ella-Maries Familie. Das überzeugendste Argument neben einer stets aufgeräumten Küche war jedoch der geringere Wasserverbrauch eines solchen Gerätes gegenüber dem Abwaschen von Hand. Seitens ihrer Eltern wurde immer sehr wohl überlegt, wofür man sein Geld ausgab, statt es sinnlos zu verprassen oder für Kinkerlitzchen auszugeben. Damals hielt ein Kühlschrank – Ella-Marie weiß heute noch, dass das erste Kühlgerät ihrer Eltern ein italienisches Modell mit dem Namen Pozzi oder so ähnlich war – oder ein Fernseher aber auch mehrere Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Und heute? Wer hat es nicht schon selbst erlebt? Nahezu verlässlich geben viele Elektrogeräte oft bereits kurz nach Ablauf der Garantiezeit ihren Geist auf, weswegen die Tester der Stiftung Warentest bereits im Jahr 2013 einen geplanten Verschleiß, der auch als geplante Obsoleszenz bezeichnet wird, festgestellt haben. Dazu gehören zum einen hohe Reparaturkosten, fest eingebaute Akkus, fehlende Ersatzteile, Drucker, die fälschlich leere Patronen anzeigen, oder zum anderen Produkte, die sich nicht reparieren lassen.270 Von Nachhaltigkeit kann keine Rede sein. Was soll´s, der Rubel muss aus Sicht der Wirtschaft doch rollen. Außerdem gibt es ja Garantieverlängerungen – natürlich gegen Aufpreis, versteht sich.

Ella-Marie ging als Kind unheimlich gerne einkaufen. Nur einen Steinwurf entfernt gab es ein winziges Einkaufszentrum mit einem kleinen EDEKA-Markt, dem Obst- und Gemüsehändler Nitsch, der Schlachterei Sass, einem Friseurgeschäft, einem kleinen Blumenladen, in dem auch Loki Schmidt, die Frau von Helmut Schmidt, ihre Blumen kaufte, und einer chemischen Reinigung. Außerdem gab es ein Haushaltswarengeschäft, wo man alles bekam, vom Abfalleimer bis zum Zahlenschloss. Mit einem Einkaufszettel bewaffnet, hat sich Ella-Marie förmlich darum gerissen, losgehen zu dürfen, zumal es bei Nitsch immer ein Stück Obst oder einen Kirschlolli extra gab. Für das tägliche Leben war somit gesorgt und auch die alten Leutchen vom nahe gelegenen Seniorenheim konnten ihre Einkäufe dort tätigen. Wie aber ist es heute mit der Versorgung mit dem Notwendigsten für den Alltag? Heute gibt es kaum noch kleine Lebensmittelgeschäfte, da Lidl, ALDI & Co. diese durch unschlagbare Preise plattgemacht haben. Zudem drohen dank des Onlinehandels deutsche Innenstädte zu veröden.271

Noch schlimmer ist es auf dem Land, wo es nur noch selten den guten alten Tante-Emma-Laden gibt und bestenfalls einmal am Tag für ein knappes Stündchen ein mobiler Bäcker hält. Wer im ländlichen Bereich kein Auto hat, ist regelrecht aufgeschmissen, wenn es um die Befüllung seines Kühlschranks geht. Schließlich gehört die Anbindung an das öffentliche Nahverkehrsnetz vielerorts in Deutschland nicht gerade zu den Glanzleistungen der Verkehrsplaner. Ohne den Einsatz von sogenannten Anrufsammeltaxis oder einen freundlichen Nachbarn würde für so manchen Bewohner im ländlichen Bereich ohne fahrbaren Untersatz der Weg zum Arzt oder zur nächsten Einkaufsgelegenheit ein schier unmögliches Unterfangen sein.272 Das ist alles aber halb so schlimm. Viel schlimmer ist hingegen, dass im Jahr 2019 – Sie wissen ja, wir leben im besten Deutschland aller Zeiten – vor einem Versorgungskollaps gewarnt wird. Es fehlen gemäß der Logistikbranche ca. 60.000 Lkw-Fahrer, Tendenz steigend, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Bereits im Sommer 2018, wohlgemerkt einem Hitzesommer, soll es bundesweit zu Lieferschwierigkeiten mit erfrischendem Mineralwasser gekommen sein, obwohl dies versandbereit war.273 Dabei sind die 560.000 Brummifahrer im Durchschnitt älter als 50 Jahre und gehören einer aussterbenden Berufsspezies an. Nun soll der Beruf des Kraftfahrers für Frauen attraktiver gemacht werden.274 Nun ja, entweder werden es die Frauen richten oder die Regale in den Geschäften bleiben dann eben leer. Die Deutschen werden ohnehin immer dicker, insbesondere die Männer. Daher kann eine FdH-Diät – Friss-die-Hälfte-Ernährung – aufgrund nicht auslieferbarer Lebensmittel durch Fahrermangel doch nur recht sein.275 Zur Not kann Ella-Maries Mutter aber auch noch auf ihre alten Tage einen Führerschein für Lastkraftwagen machen. Dieses Land hat schließlich noch jede Menge Potenzial, da geht noch was. Es ist noch genug Luft nach oben.

Zivilcourage

Подняться наверх