Читать книгу Berliner Kriminalpolizei von 1945 bis zur Gegenwart - Polizeihistorische Sammlung - Страница 33
Diskussionskommando
ОглавлениеIn Berlin hatte es in dieser Zeit bereits eine parallele Entwicklung gegeben. Eine der Keimzellen des heutigen LKA 63 war das „Diskussionskommando“. Leiter dieser Einheit war der Polizeihauptkommissar Werner Textor, Vater des jetzigen Abteilungsleiters des LKA 6, Martin Textor.
Diese Einheit bestand aus 47 freiwilligen Mitarbeitern, deren Aufgabe es war, bei den Studentenunruhen mit dem „Wort“ deeskalierend auf gewaltfreie Aktionen hinzuwirken.
Während eine Mehrheit der Demonstranten ein gewaltfreies Vorgehen akzeptierte, gab es eine radikale Minderheit, die diese Einheit als „Hübners Psychobullen“ bezeichnete. Auch in Polizeireihen stieß diese neue und außergewöhnliche Vorgehensweise zunächst auf Skepsis, fand dann aber nach erkennbaren Erfolgen Akzeptanz.
Nach dem Rückgang gewalttätiger Demonstrationen wurde diese Einheit für besondere Kriminalitätsphänomene wie Rocker- oder Rauschgiftkriminalität eingesetzt und später dem LKA 63 eingegliedert.
Das erste SEK Berlins begann am 1. November 1972 seine Ausbildung. Unabhängig von den damaligen Beschlüssen der Innenminister leitete der damalige Polizeipräsident, Klaus Hübner, zeitgleich eine wesentliche Planungsphase ein. Nach sorgfältiger Erarbeitung der Auswahlkriterien für die Bewerber im Hinblick auf Intelligenz, Charakter und körperliche Leistungsfähigkeit sowie Schießvermögen fiel die Entscheidung. Der erste Lehrgang begann mit 49 nach einem Testverfahren ausgewählten Beamten zwischen 27 und 40 Jahren. Die Ausbildung dauerte ein halbes Jahr.
Einige Monate später wurde das PSK mit dem Schwerpunkt Schießfähigkeit aufgebaut. Das MEK bildete sich 1975 in den Reihen der Kriminalpolizei aus Diensteinheiten der so genannten „Groß Streife“, die bereits ähnliche Tätigkeiten verrichtet hatten, in den ersten Jahren unterstanden die Spezialeinheiten SEK und PSK der Schutzpolizei, das MEK war der Kriminalpolizei zugehörig.
Recht bald wurde deutlich, dass es Überschneidungen in den Tätigkeitsfeldern gab, sodass beide Einheiten 1979 zum Referat EuS (Einsatzerprobung und Sonderaufgaben) organisatorisch zusammengefasst wurden; eine bedeutsame und richtige Entscheidung, wie sich in den Folgejahren zeigen sollte.
Der damalige Leiter der Direktion Verbrechensbekämpfung und spätere Polizeivizepräsident, Dieter Schenk, bedankte sich bei den Verantwortlichen, diese „Perle der Schutzpolizei“, wie er das SEK und PSK bezeichnete, in die Kriminalpolizei eingliedern zu dürfen. Nach Einrichtung des Landeskriminalamtes im Jahre 1994 erhielt die Dienststelle die Bezeichnung „LKA 63“, nunmehr eine aus Schutz- und Kriminalbeamten bestehende Einheit, geprägt von Spezialistentum und Sachverstand.
Die Einsätze ließen nicht lange auf sich warten. Das SEK hatte bereits am 11. April 1973 seinen ersten Einsatz, als es von der 4. Mordkommission gebe-ten wurde, den wegen Mordes verdächtigen Klaus-Dieter L. in seiner Kreuzberger Wohnung festzunehmen.
Die Person wurde mit durchgeladener und entsicherter Pistole in der Hand angetroffen. Die Waffe wurde aus der Hand geschlagen, und er wurde überwältigt. Der erste erfolgreiche SEK-Einsatz.
In den siebziger Jahren gab es den linksextremen Terrorismus mit Sprengstoffanschlägen, Banküberfällen und Morden. Vom SEK konnten insgesamt 29 Terroristen in Berlin ohne direkten Schusswaffeneinsatz festgenommen werden, obwohl die Täter in der Regel bewaffnet waren; ein Ergebnis hochprofessionellen Vorgehens.
Auch in den Folgejahren gab es zahlreiche spektakuläre Einsatzerfolge, die oft im Zusammenwirken der nunmehr organisatorisch und räumlich integrierten Spezialeinheiten geleistet wurden.
Nach der politischen Wende und Wiedervereinigung im Jahre 1990 änderte sich die Kriminalitätslage in Berlin erheblich. Während es in zehn Jahren vor der Wende im Westteil der Stadt gerade drei herausragende Fälle der Schwerstkriminalität (Geiselnahme, Entführung, schwerwiegende Erpressung) gegeben hatte, stiegen die Zahlen ab 1993 erheblich.
So waren in den Folgejahren jährlich durchschnittlich zehn Fälle zu bewältigen, bei denen die Polizei eine so genannte „Besondere Aufbauorganisation (BAO)“ einrichten musste. Eine derartige BAO bedeutet, dass Spezialisten aus allen Bereichen der Polizei aus ihrer normalen Arbeit herausgezogen werden und sich nur dem betreffenden Einsatzfall widmen. So kann beispielsweise die Mordkommission für die Ermittlungen und das SEK für Festnahmen herangezogen werden.
Geführt wird ein derartiger Einsatz von einem der speziell ausgebildeten „Polizeiführer“. Diese namentlich festgelegten Polizeiführer leiten im täglichen Dienst größere Gliederungseinheiten des LKA.
Die neuen Fälle der Schwerstkriminalität waren zu einem erheblichen Teil geprägt von Entführungen innerhalb ethnischer Gruppen, die zum Teil mit unglaublicher krimineller Energie und Brutalität vorgingen.
Bis auf einen einzigen Entführungsfall eines russischen Computerhändlers konnten alle in Berlin bekanntgewordenen Einsatzlagen geklärt und die Täter festgenommen werden. Möglicherweise hat sich die konsequente und erfolgreiche Vorgehensweise der Polizei bei der einschlägigen Klientel herumgesprochen, denn seit gut zwei Jahren ist die Zahl derartiger Lagen kontinuierlich zurückgegangen.
Auch mit dem Phänomen „herausragende Erpressungen“ musste sich die Berliner Polizei häufiger auseinander setzen. Das bekannteste Ereignis dürfte der Fall „Dagobert“ sein, der die Polizei etwa zwei Jahre lang beschäftigte.
Nach Explosion von drei Sprengsätzen in der Hamburger Karstadt-Filiale in der Mönckebergstraße meldete sich am 13. Juni 1992 ein Erpresser, der später unter dem Pseudonym „Dagobert“ in die deutsche Kriminalgeschichte einging.
Dass dieser Erpresser, der durch viele Medienberichte hofiert und von Teilen der Öffentlichkeit als eine Art „Robin Hood“ gefeiert wurde, wesentlich gefährlicher war, als einige wahrhaben wollten, bewiesen die von ihm verursachten fünf Bombenanschläge sowie ein Brandanschlag.
Er narrte die Polizei und diese musste sich das Verhöhnen durch einige Medienvertreter gefallen lassen, um nicht ihre taktischen Konzepte preiszugeben.
Die zum Teil sehr personal- und kostenträchtigen Einsätze der Polizei waren jedoch konzeptionell so durchdacht, dass sich das Netz um den Straftäter immer enger zog.
Im Rahmen gezielter operativer Fahndungsmaßnahmen fiel der später als Arno F. identifizierte Tatverdächtige MEK-Kräften auf, als er sich mit seinem Tatfahrzeug in einem Einsatzbereich aufhielt.
Als der Täter für den 22. April 1994 einen weiteren Erpresseranruf ankündigte, schlug die Falle zu. Arno F. alias „Dagobert“ wurde während des Erpresseranrufes in einer Telefonzelle in Berlin-Johannisthal festgenommen.
Die Ironie des Schicksals: „Dagobert“ wurde von dem Beamten festgenommen, dem er eineinhalb Jahre zuvor bei einem Einsatz, vom Spott einiger Medien begleitet, entkommen konnte.
Arno F. räumte seine Taten sofort ein und gestand eine weitere, im Jahre 1989 durchgeführte Erpressung, bei der er das „KaDeWe“ um 500 000 DM erleichtert hatte. Bei seinem aufwändigen Lebensstil hatte er das Geld restlos verbraucht.
Statistisch betrachtet liegt in Deutschland für einen Erpresser die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich eine Erpressungssumme zu erhalten, bei unter einem Prozent. Insofern konnte auch „Dagobert“ in diese Statistik eingeordnet werden.
Ein weiteres „Highlight“ der Berliner Kriminalgeschichte war die Geiselnahme in der Commerzbank in Berlin-Zehlendorf am 27./28. Juni 1995.
Jahrelang gab es in Berlin keine herausragende Geiselnahme, und nun hatte es die Berliner Polizei gleich mit einer Situation zu tun, die alle denkbaren Facetten trug, an Planungsgrad und krimineller Intensität kaum zu überbieten war und die eingesetzten Kräfte physisch und psychisch bis an ihre Grenzen belastete.
Schwer bewaffnete Gangster hatten während eines lang vorbereiteten Coups 16 Geiseln, davon sechs
Angestellte und elf Kunden, für 17 Stunden in Schach gehalten und von der Polizei Lösegeld erpresst.
Kurze Zeit nach Beginn der Geiselnahme wurde eine der Geiseln mit einem Erpresserschreiben von den Tätern entlassen.
Gefordert wurden 17 Mio. DM Lösegeld, die Entfernung der Zäune vor der Bank, ein Fluchtfahrzeug (Kastenwagen für acht Personen), ein Hubschrauber mit Piloten und das Freihalten der Fluchtroute.
Die Fluchtplanung schien eindeutig zu sein, sodass sich die polizeilichen Vorbereitungen auch darauf konzentrierten.
Nachdem das SEK die Bank nach 17 1/2 Stunden stürmte, glaubten die Beamten, ihren Augen nicht zu trauen. Die Täter waren weg. Offensichtlich hatten sie die Bank durch einen Tunnel aus dem Tresorraum verlassen. Die Möglichkeit, dass die Bank durch einen Kanaltunnel verlassen werden kann, wurde zwar geprüft, aber verworfen.
Die folgenden Feststellungen waren einmalig: ein 20 m langer Tunnel (60 x 50 cm) führte von der Bank zu einem Regenwasserkanal, es folgten 100 m Regenwasserrohr, von wo aus ein 70 m langer (60 x 70 cm) weiterer Tunnel abzweigte, der in einer Garage endete. Die Bauzeit hatte neuneinhalb Monate betragen, der Aushub wurde mittels Skateboard und Seilwinden transportiert, zum Abstützen der Tunnelanlage wurden 1880 (gestohlene) Bohlen verwendet, und es gab bei den Tätern weder Fachkenntnisse noch Baupläne. Acht Täter mit wechselnder Beteiligung hatten insgesamt etwa acht Mio. DM erbeutet und waren auf der Flucht.
Aufgrund umfangreicher Ermittlungen und gesicherter Spuren konnten sieben Täter gestellt und verurteilt werden. Ein Mann ist noch flüchtig. Von dem erpressten Geld fehlen noch etwa zwei Mio. DM.
Wenn auch mit Verspätung und einigen „Stolpersteinen“, führte das Zusammenwirken zahlreicher Spezialisten der Polizei letztlich doch zum Erfolg.
Die Darstellung herausragender Kriminalfälle in Berlin und Deutschland, die von Spezialeinheiten oder mit deren Unterstützung bewältigt wurden, ließe sich fast endlos fortsetzen. Ihre Beteiligung ist heutzutage nicht mehr wegzudenken. Aber auch Spezialeinheiten haben ihre Grenzen. Gerade bei den aufgezeigten Einsatzfällen „Dagobert“ und „Geiselnahme Commerzbank“ wurde wie bei vergleichbaren Fällen deutlich, dass fast alle Spezialeinheiten in Deutschland auf die Unterstützung von Einheiten anderer Länder oder des Bundes angewiesen sein können.
Das, was die Innenminister Deutschlands und Berlins damaliger Polizeipräsident, Klaus Hübner, Anfang der siebziger Jahre frühzeitig erkannten, hat sich bestätigt. Die moderne Polizei kommt ohne Spezialisten nicht mehr aus. Bei dem gestiegenen Bewaffnungs- und Gefährdungsgrad von Straftätern sind top ausgebildete und trainierte Spezialisten die professionelle Antwort der Polizei.
Unter Berücksichtigung der gesamtpolizeilichen Aufgaben sich fortlaufend zu spezialisieren, Einsätze weiterhin mit Augenmaß zu bewältigen und dabei allen neuen, vor allem technischen Entwicklungen aufgeschlossen zu sein, das sind die bestehenden Leitgedanken. Sie entsprechen der ursprünglichen und noch heute intern verwendeten Bezeichnung „Einsatzerprobung und Sonderaufgaben“: EuS.
Da die Tätigkeiten der SEK selten ohne Risiko sind, bedarf es – soweit die Zeit es zulässt – einer intensiven Vorbereitung der Einsätze. Trotz allem kommt es manchmal zu unvorhergesehenen Ereignissen, die ein tragisches Ende nehmen.
So mussten Beamte des Spezialeinsatzkommandos am 23. April 2003 gegen 16:30 Uhr in der Kienitzer Straße im Bezirk Neukölln die Vollstreckung eines Haftbefehls gegen ein Bandenmitglied wegen eines versuchten Tötungsdeliktes durchführen.
Die SEK-Kräfte hatten gerade die Wohnungstür des Gesuchten gewaltsam geöffnet, als dieser sofort ohne jegliche Vorwarnung mit seiner Faustfeuerwaffe auf den zuerst eindringenden Beamten, den 41-jährigen Roland K., schoss und ihn tödlich traf. Der Beamte hatte keinerlei Chance, zu reagieren. Er hinterließ seine Lebensgefährtin mit dem gemeinsamen Kleinkind.
Über diesen tragischen Todesfall wurde ausführlich in den Medien berichtet. Die Öffentlichkeit nahm in bemerkenswerter Weise Anteil.
Der Schütze ist 2004 zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe wegen Mordes verurteilt worden. Das Urteil ist rechtskräftig.