Читать книгу Das Handbuch gegen den Schmerz - Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Thomas R. Tölle - Страница 82
ОглавлениеViele Rückenschmerzen sind eigentlich Muskelschmerzen. Verspannungen, Muskelverletzungen oder auch ein Muskelkater können dazu führen, dass die Muskeln im Rücken wehtun. Das ist meist harmlos – aber manchmal bleibt der Schmerz.
Muskelschmerzen sind oft krampfartig und entstehen durch eine (Über-)Aktivierung der Schmerzfühler (Nozizeptoren) in den Muskeln und den Hüllstrukturen um die Muskeln, den Faszien. Diese schlagen an, wenn es durch Verletzung der Muskeln zu einer Ausschüttung von Botenstoffen kommt, die die Nervenendigungen erregen. Solche Substanzen, zu denen auch Entzündungsstoffe gehören, sorgen auch dafür, dass schlafende Nozizeptoren geweckt werden und alle Schmerzfühler besonders empfindlich eingestellt sind. Auch ein Abfall des pH-Werts, also eine Übersäuerung der Muskulatur, die häufig eine Folge von Überbelastungen ist, führt zu einer Aktivierung der Schmerzfühler. Die Schmerzwahrnehmung ist also scharf geschaltet, und auch kleine Reize, unter Umständen das völlig normale Anspannen der Muskeln, haben dann eine große Wirkung. Muskeln sind ein Gewebe mit einer allgemein hohen Dichte an Schmerzfühlern, was der Grund ist, warum die Schmerzen dann auch sehr stark sein können.
Diese starken Schmerzimpulse können zu einer Chronifizierung beitragen. Die Dauerimpulse, die die Schmerzfühler senden, können zu Veränderungen der Nerven in Rückenmark und Gehirn (zentrale Sensibilisierung) führen. Im Tierexperiment konnte gezeigt werden, dass bei schmerzhafter Reizung eines isolierten Muskels im Rückenmark mehr Nervenzellen durch den Schmerz erregt werden, als das normalerweise der Fall ist. Außerdem werden auch Nervenzellen aktiviert, die normalerweise von ganz anderen, benachbarten Muskeln erregt werden. Dies ist der Grund, dass sich der Schmerz ausbreitet und häufig ganze Gliedmaßen am Ende als schmerzhaft empfunden werden: Die Schmerzbahnen bauen sich um und sind weit geöffnet. Die „Schmerzreizleitung“ steht auf Dauerempfang – und der Schmerz ist auf diese Weise chronisch und großflächig geworden.
Bei Muskelschmerzen (Myalgien) können verschiedene körperliche Ursachen wie eine Muskelverletzung (zum Beispiel ein Muskelfaserriss) oder eine Muskelentzündung infolge einer Infektion unterschieden werden. Letzteres ist relativ häufig; jeder hat schon einmal erlebt, dass sich bei einem grippalen Infekt auch Muskelschmerzen („Gliederschmerzen“) einstellen. Sie entstehen durch zirkulierende Entzündungssubstanzen, die im Bereich des Muskels selbst, aber auch im Rückenmark und Gehirn die Empfindlichkeit für Schmerzen erniedrigen. Ein solcher Schmerz verschwindet meist auch schnell wieder, wenn die Ursache behoben ist. Ist die Grippe ausgeheilt, gehen dann auch die Gliederschmerzen wieder zurück.
Behandlung von Muskelschmerzen
Im Akutstadium sind Muskelschmerzen mit frei verkäuflichen Schmerzmitteln, insbesondere den sogenannten nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) behandelbar. In vielen Fällen können Salben mit Arnicaextrakt reichen. Auch Wärme ist gut, sei es als Wärmepflaster oder mit einem Heizkissen. Allerdings nur, wenn keine entzündliche Veränderung im Muskel vorliegt, die zum Beispiel durch einen Infektionserreger direkt am Muskel verursacht wird. Dann würde sich die Vermehrung des Erregers durch die Temperaturzufuhr steigern. Bei chronischen Muskelschmerzen muss die medikamentöse Behandlung meistens erweitert werden. Je nach Anteil der Nervenschmerzkomponente am Gesamtschmerz sind die klassischen Schmerzmedikamente nur bedingt wirksam. Ist die Nervenschmerzkomponente hoch, können Antidepressiva (eigentlich gegen Depressionen) oder Antikonvulsiva (eigentlich gegen Epilepsie) den Schmerz viel wirkungsvoller lindern. Allerdings reicht die medikamentöse Behandlung allein oft nicht aus. Begleitend erfolgt eine Physiotherapie, die speziell die individuellen muskulären Schwachstellen behandelt. Empfohlen wird bei ausgeprägten chronischen Muskelschmerzen immer auch eine multimodale Schmerztherapie, bei der verschiedene Therapieverfahren miteinander kombiniert werden (siehe Kapitel 3).
Das Wichtigste zu Rücken-, Nacken- und Muskelschmerzen in Kürze
Rückenschmerzen treten am häufigsten im unteren Bereich des Rückens auf – man spricht von Kreuzschmerzen – dicht gefolgt von Beschwerden in der Halswirbelsäule.
Der Arzt schließt durch körperliche Untersuchung/Befragung gefährliche Ursachen aus. Meist sind danach zunächst keine bildgebenden Untersuchungen nötig.
Bei der Mehrzahl der Patienten mit Kreuz- oder Nackenschmerzen lässt sich keine konkrete Ursache feststellen. Sie leiden unter nicht-spezifischen Schmerzen.
Oft sind Rückenschmerzen Muskelschmerzen.
Bewegung ist das A und O bei der Behandlung aller Rückenschmerzen! Schmerzmedikamente machen Bewegung möglich, den Schmerz dabei erträglich.
Die multimodale Therapie, eine Behandlung, die den Schmerz in der körperlichen, seelischen und sozialen Dimension versteht und „ganzheitlich“ behandelt, ist derzeit die wirksamste Möglichkeit, chronische nicht-spezifische Schmerzen zu lindern.
Der Einsatz von digitaler Medizin, also e-Health, wie zum Beispiel von speziellen Apps, kann die Therapie ergänzen und die Patienten dazu motivieren, dauerhaft „am Ball“ zu bleiben.
Sonderform: Myofasziales Syndrom
Eine Überempfindlichkeit von Muskelgewebe mit chronischen Schmerzen, die weder durch eine entzündliche Krankheit noch durch eine Nervenkrankheit (wie Multiple Sklerose) oder Rheuma erklärt werden kann, bezeichnen Ärzte als myofasziales Syndrom. Die Muskeln in einem bestimmten Körperbereich schmerzen an einigen Punkten (aktive Triggerpunkte) permanent, an anderen nur bei Druck (latente Triggerpunkte). Stress, Schlafstörungen, aber auch Fehlhaltungen oder Bewegungsmangel können die Triggerpunkte verstärken. Ist dies der Fall, sollte die Therapie die verschiedenen verstärkenden Faktoren adressieren, um nachhaltig gegen den Schmerz zu wirken. In der Akutphase helfen physiotherapeutische Verfahren (zum Beispiel Dehnungsübungen). Bleibt der Schmerz, kann der Muskel durch „dry needling“ (= trockene Nadeln) gelockert werden: Dabei wird durchs Hin- und Herbewegen einer Nadel im Triggerpunkt dieser gelockert beziehungsweise außer Funktion gesetzt.
Eine Alternative dazu, die in letzter Zeit diskutiert und noch überprüft wird, ist das Spritzen von Botox direkt in den Triggerpunkt, das zu einer Lockerung der Muskelfasern führt. Nachweislich wirksam und völlig ohne Nebenwirkungen ist die progressive Muskelentspannung, also spezielle Übungen, bei denen einzelnen Muskelgruppen im Wechsel angespannt und entspannt werden.
Beste Vorsorge: Bewegung
Trainierte Muskeln sind gesunde Muskeln. Werden Muskeln nicht bewegt, werden sie schwach und bauen sich mit der Zeit ab. Das bedeutet, dass sie durch die geringste Belastung überfordert werden und „sauer“ reagieren – mit einer Absenkung des pH-Werts, Muskelkater oder Muskelschmerzen. Bewegungsmangel in Kombination mit Stress führt zu Muskelverspannungen, der Vorstufe von Muskelschmerzen. Wichtigste Vorsorge ist also regelmäßige Bewegung.