Читать книгу Hundert Geschichten - Quim Monzo - Страница 25
Die Lachsdame
ОглавлениеIhre Art, die Beine übereinanderzuschlagen, war das Erste, was mich in sie verliebt machte. Ganz sachte, fast ängstlich, als seien sie zerbrechlich wie Eis, hob sie ein Bein hoch und legte es über das andere: Beide Beine berührten sich nun vom Knie bis zum Fuß. Das war der Madeleine-Effekt: Plötzlich wirbelten in meinem Kopf Bilder umher von Tanten und Kusinen und sepiafarbenen Fotos einer Großmutter aus den zwanziger Jahren mit rundem Hut und kurzem Rock, auf denen sie die Beine genauso übereinandergeschlagen hatte wie meine Begleiterin im Zugabteil. Diese streckte nach einer Weile, um die Beine in ihren nicht gekreuzten Zustand zurückzuversetzen, ein Bein nach vorne, und eine Sekunde lang war es (vom Schambein bis zum Fuß) kerzengerade. Parallel nebeneinanderstehend, kippte sie dann diese vollkommenen Prachtexemplare ein wenig zu einer Seite hin. Solche Beine konnten den glücklich machen, der an ihnen teilhaben durfte (und Teilhabe hieß in dem Fall, sie jederzeit betrachten zu können, sie dann und wann zu streicheln, nackt unter der Strumpfseide . . .); und konnten den, der sie verlor, ins Unglück und in den Selbstmord treiben; konnten unendliche Kriege auslösen. Die neue Helena von Troja mit Beinen wie Marlene Dietrich schaute aus dem Fenster durch einen Vorhang aus halb ockerfarbenen, halb weißen Bäumen auf eine endlose Folge grüner Wiesen mit spärlich eingestreuten Häusern.
In Hønefoss hielt der Zug, und wir mussten aussteigen. Ich verstand nicht, warum wir umsteigen sollten, da aber niemand protestierte, ging ich davon aus, dass alles seine Richtigkeit hatte. Die Waggons, in denen wir angereist waren, entfernten sich sofort, und nach fünf Minuten trafen neue ein.
Alle beeilten sich beim Einsteigen, und jeder setzte sich, wie es ihm beliebte. Ich, der ich keine Hoffnung hegte, dem Beinspiel der Dame weiter folgen zu können, begab mich in einen der letzten Waggons. Dort fand ich ein leeres Abteil und ließ mich nieder. Ich kramte den Guide Bleu aus meiner Reisetasche und vertiefte mich in die Lektüre von Höhenangaben, Ortschaften und möglichen Restaurants. Die Ruhe nahm ziemlich schnell ein Ende: Jemand öffnete die Tür, und von nun an hörte man nur noch Kindergeschrei und das Geraschel von ständigem Ein- und Auspacken. Ich tauchte in mein Buch ab, das sich in Betrachtungen über die Qualität der Heringe auf den Inseln vor der Küste erging. Das Gefühl, beobachtet zu werden, lenkte mich ab. Ich hob den Kopf. Vor mir verlangte ein Kind von einer Dame, die seine Mutter zu sein schien, aber offensichtlich keine Lust hatte, Erklärungen zu einem Comic. Gedankenverloren ließ ich meinen Blick im Abteil wandern: Neben mir saß die wunderschöne Dame, die mit dem Beinspiel.
Das überraschte mich. (Bei so viel leeren Plätzen im Zug musste sie sich ausgerechnet neben mich setzen!) Sie schaute nach vorne, anscheinend zu dem Jungen, der weiter darauf bestand, dass seine Mutter ihm die Comics erklärte. Ich kehrte zum Reiseführer und zu den Heringen zurück.
In Sokna stiegen Mutter und Kind aus, und ein alter Mann kam herein. Sobald der Zug den Bahnhof hinter sich gelassen hatte, spürte ich einen Druck an meinem Bein. Sie (die Dame mit den lachsfarbenen Beinen) rieb ihr Bein an meinem! Ich zögerte nicht lange: Ich antwortete nicht nur auf die Zärtlichkeit, vielmehr steigerte ich sie noch. Aus dem Augenwinkel erschien es mir, als lächle sie. Was war nun zu tun? Ich hoffte, dass der alte Mann im nächsten größeren Ort ausstieg und wir dann alleine wären. Doch es kamen eine Menge Bahnhöfe, ohne dass der alte Mann sich von seinem Platz bewegt hätte. Seine Augen waren geschlossen, und sein Kopf lehnte an einer Kopfstütze am Sitz. Er schlief so entspannt, dass ich mich fragte, ob er inzwischen nicht gestorben sei. Oder, falls er noch lebte und tatsächlich schlief, ob er nicht seinen Bahnhof verpassen würde. Vielleicht musste er ja genau da aussteigen, wo der Zug gerade anhielt, und merkte gar nicht, dass er am Ziel war? Vielleicht wäre es ja sogar eine gute Tat, ihn zu wecken. Als vernünftiger Ausländer hielt ich Schweigen für richtiger, vor allem, weil wir nun in unserem Abteil Zuwachs bekamen: eine etwa Zwanzigjährige mit einem übertrieben großen Rucksack und ganz hellen Augen.
Mein Bein und das Bein der Dame hielten Kontakt: So wie es aussah, fehlte es uns beiden an Esprit, um unser Begehren ins Ziel zu führen. Erst eine ganze Weile nach der neuerlichen Weiterfahrt des Zuges hatte ich genug Mut zusammen und fragte sie, ob sie weit fahre. Sie schaute mich nicht einmal an, erst als ich meine Frage wiederholte, wandte sie ihr Gesicht zu mir (jetzt so ganz nah vor mir, sah ich, wie wunderschön sie war), lächelte mich mit ihren Blutlippen an und antwortete mir auf Norwegisch. (Meine Hoffnung, sie könne zu der beträchtlichen Anzahl der norwegischen Bevölkerung gehören, die Englisch als Zweitsprache sprach, war schlagartig dahin.) Ich schwieg. Sie fügte noch etwas hinzu und wartete dann auf eine Antwort, die ich ihr nicht geben konnte. Die Zwanzigjährige las in einer Modezeitschrift und schien in einer ganz anderen Welt. Der alte Mann jedoch, der mir vorhin in seinem Schlaf noch tot erschienen war, öffnete die Augen und bot sich mir als Übersetzer an: Die Dame entschuldige sich, nicht meine Sprache zu sprechen. Als Antwort ging mir durch den Kopf, die Sprache, auf die sie sich bezog, sei ja nicht meine eigene, sondern eine geliehene, aber ich schwieg. Der Mann bot weiter seine Übersetzungsdienste an. Das brachte mich völlig durcheinander (ich stellte mir vor, wie ich ihr mithilfe eines Übersetzers auf Knien meine Liebe erklärte), ich wusste nicht, was antworten, und sagte schließlich dankend nein (zum alten Mann). Danach herrschte ein etwas angespanntes Schweigen. Die Beine, jedoch, blieben zusammen. Der Alte machte seine Augen wieder zu, doch nur für kurze Zeit: Als wir Torpo erreichten, sagte er uns Auf Wiedersehen und stieg aus.
Zwischen Torpo und Ål ließ ich meine Hand langsam auf die ihre gleiten und streichelte mit den Fingerspitzen ihren Handrücken. Mir schien, als bewege sie ihre Augenlider. Sie drehte ihre Hand so, dass sich ihre mit meiner, ähnlich wie zwei Nusshälften, zusammenschloss. Die Zwanzigjährige von gegenüber blätterte laut raschelnd die Seiten um und schaute dann und wann aus dem Fenster. Unvermittelt schlug sie die Zeitschrift zu und legte sie auf den Sitzplatz neben sich. Sie streifte uns mit ihrem Blick, ließ ihn zwei Sekunden auf unseren verschlungenen Händen ruhen, lenkte dann sogleich diskret den Blick auf ihren Rucksack, zurrte einen Riemen fest und tauchte gähnend wieder in die Seenlandschaft ein.
Die abendliche Dämmerung wurde nie zur Nacht. In Geilo war ein grün uniformierter Mann mittleren Alters zugestiegen, der aussah wie ein Waldhüter. Meine Möglichkeiten schwanden dahin. Ich fasste einen Entschluss: Die Hand der Dame fest in meiner, würde ich aufstehen und auf den Gang hinaustreten, wo wir, wenn schon nicht reden, uns zumindest leichter verständigen könnten. Allerdings bestand dabei die Gefahr, dass sie das Spiel nicht mitspielen wollte und mir etwas sagen würde, was ich zwar nicht verstand, aber alle anderen im Abteil, und davor fürchtete ich mich. Andererseits sprach für diese Vorgehensweise, dass die Initiative ja eigentlich von ihr ausgegangen war und das Einzige, was ich bisher beigetragen hatte (nämlich ihre Hand zu nehmen), nicht abgewiesen worden war. Es störte mich freilich, dass sie meine nachteilige Lage als Fremder in einem kalten Land nicht wahrnahm. Für sie war es ein Heimspiel, und es war an ihr zu entscheiden, was zu tun sei. Oder reichte ihr das etwa schon, Händchen halten und die Beine aneinander reiben?
Ich stand auf, ihre Hand fest in meiner. Eine Sekunde lang glaubte ich, sie würde nicht aufstehen: Sie sah mich überrascht an, lächelte aber dann. Sie schritt vor mir durch die Tür. Wir zogen durch den Gang bis ans Wagenende. Auf der Plattform, von Angesicht zu Angesicht, sagte sie ganz langsame Worte zu mir, die ihr sicher einfach erschienen, doch mir kamen sie norwegisch vor. (Was für ein blöder Witz!) Wir mussten ganz offensichtlich das linguistische Terrain sondieren (und hier verweigere ich mich in der Tat dem leichten Witz), welches das Unsere sein würde. Silbenweise breitete ich meine vier Möglichkeiten vor ihr aus. Sie verstand mich, denn sie zählte derer drei auf, die ich zwar verstand, doch zu meinem Unglück (und vermutlich auch zu ihrem) stimmte keine ihrer drei mit einer meiner vier überein. Wie also sollte ich ihr sagen, dass ich verrückt nach ihren Beinen war; dass ich sie umarmen und streicheln wollte, ehe sie auf einem Bahnhof entschwand, den ich nicht vorhersehen konnte; dass ihre Initiative, sich an meinem Bein zu reiben, das Angenehmste war, was ich seit einer Woche erlebt hatte? Indem ich sie küsste. Wir küssten uns leidenschaftlich (und das war unser erster Kuss: die Ouvertüre zur Sinfonie) in einer Umarmung, die so lange dauerte wie die Brücke, über die wir fuhren, und endete, als sich die Tür zum Gang öffnete: Das Mädchen aus unserem Abteil lief in Richtung Klo, das sich (wie ich jetzt erst bemerkte) an der Stelle befand, an der wir unsere Zeit vergeudeten, indem wir uns wie Kinder küssten, ohne zu den wesentlichen Dingen vorzustoßen. Als das Mädchen sich im Klo einschloss, fiel mir ein, dass wir ja nur darauf zu warten brauchten, bis sie wieder herauskam, um diese Liebeshöhle in Beschlag zu nehmen, die sich uns hier auf dem Silbertablett darbot.
Zehn Minuten später war sie immer noch drin. Der Gedanke an die Köstlichkeiten, denen sie sich da drinnen hingeben mochte, erregte mich. Ich hätte meiner unbekannten Freundin gerne Andeutungen gemacht, die jetzt in jeder Sprache, die sie beherrschte, Worte (vielleicht der Liebe, der sexuellen Erregung) wiederholte, um zu sehen, ob ich sie vielleicht doch verstand; aber es war nichts zu machen: Alle klangen für mich wie gurgelndes Eis, Echos in einem Fjord. Und auf der anderen Seite des Fensters eine weite, verschneite Ebene.
Viele Minuten später kam der Schaffner und verlangte die Fahrkarten. In der Eile hatten wir die Reisetaschen im Abteil vergessen und mussten nun die Fahrkarten holen. Der Waldhüter war nicht mehr da. Der Schaffner erledigte seine Arbeit und ging weiter. Wir saßen wieder alleine im Abteil. In dem Moment, als ich begann, ihr Knie zu streicheln, trat das Mädchen wieder ein. Also, folgerte ich, war das Klo nun wieder frei. Die lang ersehnte Gelegenheit. Ich schickte mich an aufzustehen, aber die Dame sagte etwas und blieb sitzen. Anscheinend schaute ich verdutzt drein, denn das Mädchen fühlte sich verpflichtet, mir den Satz zu übersetzen:
– Sie sagt, dass sie am nächsten Bahnhof aussteigt. Der Zug bremste lauter als zuvor. Ich reichte ihr den Koffer aus dem Gepäcknetz herunter. Sie verabschiedete sich mit einem Kuss auf meine Wange und fügte ein paar Worte hinzu.
– Sie sagt – übersetzte das Mädchen – dass sie es sehr bedauert, Sie nicht unter günstigeren Umständen kennengelernt zu haben.
– Sagen Sie ihr, dass es mir genauso geht – improvisierte ich.
Sie übersetzte es. Die Dame meiner Träume lächelte und verschwand im Gang.
Ich setzte mich, doch nur für ein paar Sekunden, denn dann entschied ich, die Welt sei nicht für Feiglinge gemacht: griff nach meiner Reisetasche und dem Tornister und wandte mich zur Tür. Die Zwanzigjährige, der man ansah, dass sie meinen Entschluss nicht verstand, schaute mich verdutzt an. Auf dem Bahnsteig fühlte ich mich verloren: Die Frau war nicht zu sehen, und auch sonst war niemand da. Ich betrat das Bahnhofsgebäude: Das war ebenfalls leer. Ich verließ es durch den Hinterausgang: Dort war ein menschenleerer Platz voller Neonreklamen. Zehn Meter vor dem Bahnhofsportal stand meine Ex-Sitznachbarin, die Dame mit der lachsfarbenen Haut, und umarmte einen Mann, küsste einen Buben und stieg dann in einen Volkswagen ein. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte zurück: Jetzt fehlte nur noch, dass ich den Zug verpasste! Ich sprang auf den anfahrenden Zug auf und kehrte ins Abteil zurück. Das Mädchen schaute mich an. Ich hob den Tornister auf die Gepäckablage, setzte mich hin, atmete tief durch und holte wieder den Reiseführer heraus. Das Mädchen hob ihre Füße auf den Sitz, schlang ihre Arme um die Beine und schaute mich lachend an, was ich in einem Sinn verstand, der sich anschließend als falsch herausstellte. Sie sagte:
– Es tut mir leid, dass ich Ihren Flirt vermasselt habe, aber ich musste mich im Klo verstecken, weil ich keine Fahrkarte habe.
Und da saß sie, mit vollendet übereinandergeschlagenen Beinen: parallel, vollkommen, wunderschön.
Nach Mitternacht verriet sie sich durch Zufall: Als sie die Zigaretten aus ihrem Rucksack holte, fiel ihre Fahrkarte auf den Boden. Ich tat, als schaute ich aus dem Fenster.