Читать книгу Hundert Geschichten - Quim Monzo - Страница 26

Kakophonie

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Schon immer hatte A eine unbändige Lust, die Carrer Balmes in die entgegengesetzte, in die verbotene Richtung zu fahren; entweder irrtümlich (nach einer durchzechten Nacht, wenn alles schon geschlossen war) oder ganz bewusst (als Mittel gegen den Alltagstrott). Er stellte sich die wachsende Flut der sich stauenden Autos vor, kunterbunte Farben in den empört kochenden Mündern: verschrockene Lichter, die ihm rechts oder links ausweichen und folglich ineinanderfahren: die größte Katastrophe in der Geschichte: ein konzentrisches Chaos, das sich von Straße zu Straße ausdehnt, von Stadtteil zu Stadtteil, von Stadt zu Stadt und sich von einem Kontinent zum anderen, zum Meer hin öffnet . . .

So wie gerade jetzt: Jetzt verspürte er diese Lust auch wieder. Stattdessen (und er schnalzte mit der Zunge gegen den Gaumen, um einen grünen, galligen Geschmack loszuwerden) fuhr er die Balmes hinunter, streng orthodox: in Richtung Meer; die Rotonda lag gerade hinter ihm. Am Fuße des Berges hatte er unter Palmen auf Liegestühlen aus Naturleinen Gimlets getrunken, genau dort, wo die letzte Straßenbahn des Planeten wendet und ein zerstreuter Pianist in seinen letzten Zügen an einem glänzenden Klavier immer wieder holperig Three Little Words spielt.

Auf der Höhe des Bahnhofes El Putxet musste er bremsen: eine blöde Ampel. Er stellte das Radio an. Drehte am Knopf. Er stieß auf Benny Goodman, das stimmte ihn optimistisch. Er drehte die Musik lauter. Die Ampel wurde grün, und er dachte an Anilin. Beim Überqueren der Mitre wechselte er die Spur. Gab Gas, wie auf trockenem Laub. Gegenüber dem Buchladen-Café Crystal City hielt er und parkte auf dem Gehweg. Er betrat das Café. Am Tresen blätterte eine junge Frau in Zeitschriften. Nur ein Tisch war besetzt. Er bestellte einen Kaffee und stöberte in den Regalen: Es war alles da: von den Abhandlungen zur Geographie des Baskenlandes bis hin zu den Geheimnissen des staubigen Ägyptens. Er blätterte in The Last Tycoon und trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee. Dann zahlte er Buch und Kaffee und trat auf die Straße hinaus. Es war rot, als er die Via Augusta überquerte.

Er fühlte sich sehr allein. Überlegte, ob er noch schnell etwas essen sollte und schaute auf die Uhr: noch eine halbe Stunde bis zu seiner Verabredung mit B. Er zündete sich eine Zigarette an und stellte sich vor, drei auf einmal zu rauchen. Er zündete sich noch zwei an und rauchte alle drei auf einmal. Er stellte sich seinen Anblick von einem anderen Auto aus vor. Grinste. Er fühlte sich wohl. Er dachte, auf der Welt gäbe es nichts Besseres als alles andere; er dachte an in sich zusammenstürzende Straßenlaternen. Es war kalt.

Kurz vor der Travessera fragte er sich, ob er links abbiegen und sich in Gràcia verlieren sollte. Doch konnte er sich bis zur Granada nicht entscheiden, dann war es zu spät, und er haderte erneut mit sich: Sollte er in der Tuset parken und eingesunken in weißem Skai ein Omelett essen? An der Diagonal wartete er vor der Ampel und zweifelte daran, jemals wieder diese Straße zu verlassen.

Er fuhr sofort an, als das Grün der Fußgängerampel zu blinken anfing. Ein verspätetes Auto in Richtung Macià wich ihm hupend aus, schrie ihn an und bohrte sich in einen Papierkorb. A gab Gas, ließ Straßen und farblose Ampeln hinter sich. Fuhr dreist bei Rot über die Gran Via (und verursachte damit zwei Zusammenstöße, Verletzte, Sirenengeheul und eine Sternschnuppe, das aber war Minuten später). Die Konditorei Forn del Cigne war zu. Er fragte sich, ob wohl zu dieser Stunde drinnen Kuchen gebacken wurde. Er überlegte kurz, ob er mit dem Auto gegen die Tür donnern, durch das Loch bis in den hinteren Raum fahren, den Bäckern einen Guten Abend wünschen und sich das Mehl von den Ärmeln klopfend durch einen Notausgang wieder hinausfahren sollte. Seine Zweifel bezüglich des Verlassens der Straße erwiesen sich als Irrtum: Er überfuhr die durchgezogene Linie und bog in die Rambla ein. Er parkte vor dem Eingang des Baviera. Setzte sich dort an ein Tischchen auf dem Gehweg. Wenig Fußgänger. Er gähnte.

B kam zu spät, in engen blauen Hosen und weißem Pulli. A stellte sich ihren Hintern vor. Er schaute auf die Uhr.

– Nicht gerade pünktlich.

– Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie es mit dem Verkehr aussieht. Ich bin mit dem Taxi gekommen; wir mussten uns über die Parallel quälen, und Massen von Leuten strömten aus den Theatern, die Polizei machte in der Carrer Nou eine Razzia. Die haben eine Meise: Sie haben das Marseille und das London dicht gemacht. Wir durften nicht über die Rambla fahren. Ich musste von der Kathedrale bis hierher laufen.

A fiel ein, dass er seit mindestens zehn Jahren keinen Fuß in das London gesetzt hatte. Er erinnerte sich an eine Nacht mit einem Freund: an das Enfants Terribles, das Polizeirevier, die Bäckerei mit den Schneckennudeln, die ganz frühmorgens aufmachte. Er dachte darüber nach, wie die Zeit vergeht. B fuhr fort:

– . . . so als wollten sie sich Gehorsam verschaffen. Stell dir vor: in unserem Alter, jetzt, wo jeder von uns selbst der kleine Chef einer kleinen Wahrheit ist. Mach nicht diese blöde Visage. Merkst du nicht, dass sich alle für den Nabel der Welt halten? Neulich hat mir Tèbia erzählt . . .

A hatte Durst. Er winkte einem Kellner, der so tat, als würde er ihn nicht sehen. B redete wie ein Wasserfall:

– . . . und Riba hat Geld (und Geld ist für ihn das Allerwichtigste auf der Welt: das einzig Wichtige), und Joan vögelt jede Nacht mit einer anderen (denn für ihn gibt es nichts Wichtigeres als jede Nacht eine andere im Bett, und nach seiner Meinung ist jeder, der seine Zeit mit anderen Dingen vergeudet, etwas beschränkt), und Marcel isst viel (und kann nicht verstehen, wie jemand länger ohne gut gedeckte Tafel auskommen kann) und . . .

A stellte sich vor, wie ein Blitz die Rambla hinunterzurasen und sich ins Wasser zu stürzen. Der Kellner bediente drei Tische weiter.

– . . . liest unheimlich viel, und Manel ist derjenige, der in unserer Clique am meisten Amphetamine nimmt (am meisten; also: die Nummer eins), und Marta ist blöd (die Blödste im ganzen Haus: die Nummer eins), und Pere und Núria lieben sich innig (weil sie viele Filme mit Doris Day gesehen haben und, was feste Beziehungen angeht, brechen sie eindeutig den Rekord in unserem Viertel), und Xavier ist introvertiert (vielleicht der einsamste Introvertierte im Land) und Maria die Extrovertierteste . . .

A senkte den Kopf. Er stellte sich vor, wie das Auto dem Bordstein des Kolumbusdenkmals ausweichend auf die Treppen zuraste, wie B kreischte, das Auto, außer Kontrolle, sich überschlug, umkippte und sanft in das schmierige, öltrübe Hafenwasser fiel.

– . . . und Eugeni ist derjenige, der in der ganzen Gegend am meisten vor dem Fernseher hockt (der absolute Regionalrekord), und Herr Pere arbeitet viel (mehr als alle anderen in der Werkstatt), und Octavi säuft wie ein Loch (und ist ungemein stolz darauf, der größte Säufer in seiner Familie zu sein), und Tomàs ist ein Filmfanatiker und Manolo gehört zur Avantgarde der Arbeiterklasse und Ignàsia ist Possibilitistin und Eulàlia radikal und Artur schwul und Herr Jaume glücklich und heterosexuell und Andreu Dichter und Fina eine Frostbeule. Alles geht gut, weil jeder sich selbst ist: Jeder hat sein eigenes Verhaltensmuster: Jeder nach seiner Fasson.

In dem Augenblick, in dem B kurz schwieg, holte A schnell Luft:

– Wir könnten irgendwohin gehen, wo man uns bedient. Sie standen auf, als der Kellner sich endlich entschlossen hatte, ihren Tisch zu beachten. Er schaute sie empört an und schimpfte vor sich hin. Sie stiegen ins Auto. Sie fuhren um den Platz herum und bogen in die Ronda Universitat ein. Ecke Balmes bremste A. Nach den Straßenlaternen stürzten jetzt auch noch die Gebäude ein.

Er bog rechts ab, fuhr also die Balmes hoch, das Gekreisch von B, ihr Gekicher und ihre Warnschreie vermengten sich mit den Beschimpfungen der wenigen, aber umso streitlustigeren Passanten auf der Straße. A fiel auf, dass es keine Ampeln gab, wenn man eine Straße in die Gegenrichtung fuhr. Nach der Gran Via kam ihnen das erste Auto entgegen; die drinnen schauten sie ziemlich verdutzt an. Bis zur Diagonal waren es sieben weitere (und keinem der sieben fiel es schwer, die Spur zu wechseln). Ab der Via Augusta war es wieder legal, die Balmes hochzufahren, und die Ampeln zeigten sich wieder von vorne. Sie fuhren die Avinguda del Tibidabo hoch, und als sie oben ankamen, wo die Straßenbahn endet, waren die Bars schon geschlossen. A dachte, es sei Betrug, die Balmes mitten in der Nacht hochzufahren, wenn kaum Autos auf der Straße waren. Sie parkten und schauten, an ein Geländer gelehnt, das über dem Nichts hing, auf die Stadt, die sich zum grenzenlosen Meer hin ausdehnte (und zugleich zusammenzog). Drei Stunden später ging langsam die Sonne auf.

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