Читать книгу Hundert Geschichten - Quim Monzo - Страница 36
Oldeberkoop
ОглавлениеFür Marcelo Cohen, den tollen Hecht
– Hört es denn nie auf zu schneien? Ich will hier weg. Seit wie vielen Tagen sind wir hier? Elf? Oder zehn? Zehn oder elf: Ich habe den Überblick verloren. Wenn nicht einmal du ihn hast, der der Meinung war, es würde nicht lange schneien und der Schnee bleibe nicht liegen, da es kürzlich geregnet habe! Die Dinge fangen immer klein an und am Ende verschlingen sie dich. Was schreibst du da? Wir sind alle so ernst hier drin . . . All diese Leute hier sind so ernst, dass sie irgendwann schlicht anfangen zu saufen. Wenn sie saufen, fürchte ich mich etwas vor ihnen. Und sie betrinken sich so oft . . .: Es ist kaum zu glauben, dass es hier immer noch Alkohol geben soll! Die, die ausländisch reden, finde ich lustig. Wir wissen immer noch nicht, was sie sprechen. Holländisch nicht, das steht fest. Und sie sehen auch nicht aus wie Indonesier. Vielleicht sind sie Friesen. Hast du schon einmal Friesisch gehört? Vielleicht ist es Friesisch. Du meinst, sie reden hebräisch, aber wenn sie hebräisch sprächen, wären sie Israelis, und Israelis sprechen als Zweitsprache Englisch; und die hier können kein bisschen Englisch. Wir sind schon so lange hier und wissen immer noch nicht, welche Sprache es ist. Ich würde gerne mit ihnen reden. Ich würde sie fragen, wo sie herkommen, wie sie leben, was sie machen, was sie interessiert: Ich würde sie alles fragen. Ich habe es dir doch schon ein paar Mal erklärt; ich kann da nichts mehr tun: Hier passiert seit zehn oder elf Tagen rein gar nichts. Oder vielleicht zwölf? (Möchtest du einen Zug?) Ich habe Lust zu quatschen. Du kennst mich ja: Wenn ich nichts zu tun habe, rede ich wie ein Wasserfall. (Weißt du, dass wir keine Milch mehr haben?) Natürlich weißt du es: Ich habe es dir ja vor einer Weile gesagt. Und ich habe es dir gesagt, weil du es mir heute Morgen gesagt hast. Aber ich möchte dir auch etwas mitteilen. Auch wenn du es schon weißt und es deshalb nichts Neues für dich ist. Mmmhh. Wenn ich eine Wohnung hätte, würde ich in der Küche grüne Fliesen verlegen, wie diese hier. Willst du keinen Zug? Was schreibst du da? Mmmhh. Na, komm. Oh, was ist denn da zu Bruch gegangen! Das muss der Junge gewesen sein (wie heißt er gleich? Jan?). Er muss ja das halbe Geschirr zerbrochen haben. Er ist ganz unruhig, der arme Junge. Hast du gehört, was sie jetzt gesagt haben, die Friesen oder Israelis? Sie hören ja gar nicht auf zu lachen . . . Das muss ja superlustig sein. Hast du’s nicht gehört? Warum schaust du mich so an? Mmmhh, schmeckt dieses Kraut gut! Wo sie das wohl herhaben? Eigentlich war nichts mehr da, und plötzlich taucht eine ganze Menge aus dem Nichts auf. Sicher hatte es dieser eingebildete Schnösel versteckt. Er sieht so unsympathisch aus: Ich mag ihn überhaupt nicht. Bedank dich bei ihnen. Thank you, nicht? Mmmmhh, es ist sehr . . . wie soll ich das sagen? (Ach egal . . .) Wenn ich daran denke, dass ich das Zeug zu Hause angepflanzt habe: in tausend Töpfen. Jetzt raucht ihn sicher Mary Jane: Mary Jane raucht Mary Jane. Mary Jane raucht sich selbst: eine neue Form der Selbsttötung? Mmhh. Erzähl mir nicht, dass du sie nicht kennst. Mary Jane ist ein Fall für sich: Sie hatte nie eine müde Mark, aber sie hat immer den richtigen Wein angeschleppt, du weißt schon, was ich sagen will. Ich mag die Leute, die so was machen. Mmh. Es wäre das Paradies, wenn hier jetzt jemand LSD hätte. Vielleicht hat der Schnösel welches und läuft deshalb so hochnäsig herum. Hast du schon mal einen Trip geschmissen? Ja? Das wundert mich aber. Und Pilze? Pilze hast du doch sicher noch nie probiert, stimmt’s? Nein, natürlich nicht. Ich aber. Pilze sind . . . Man kann das nicht erklären. Pilze sind . . . Alles. Sie sind wie ein Film, wie ein Film von Walt Disney: der Himmel tiefblau: die Kulisse falsch und gleichzeitig so echt wie nie. So als sei alles Kulisse mit künstlichem Licht. Der Rasen so grün, ein Grün, was es überhaupt nicht geben kann. Nein, Mann, nein. Sie sind nicht wie LSD. Sag mal, zu was sagt man »Schnee«? Zu Heroin oder Kokain? Welche Ironie, jetzt von Schnee zu reden: wo wir so eingeschneit sind. Wir könnten rausgehen und uns den ganzen Schnee spritzen (oder schnüffeln, je nachdem): So würden wir wirklich gleich alles hinter uns lassen. Ich hatte mal einen Lover, der spritzte, und das war echt ein Problem, denn er bekam nie einen hoch; und wenn ich etwas nicht machen kann, krieg ich noch mehr Lust. Stell dir vor: Ich war völlig heiß darauf, mit ihm zu vögeln, und es ging nichts. Mmh. Ich habe dir doch schon gesagt, als es mit dem Schnee anfing: Lass uns gehen. Jetzt wären wir zumindest im nächsten Dorf (wie heißt es gleich?): in einem kleinen Hotel im Bett und würden Kamillentee mit Honig trinken. Was hat der Wirt gesagt? Der arme Mann, der hat nicht mit diesen ganzen Gästen in seiner Kneipe gerechnet. Wenn er wenigstens Gästezimmer hätte. Dann könnte man damit leben. Mit dieser Erfahrung jetzt kann er demnächst ein Hotel aufziehen. Was meint er jetzt? Er sagt sicher, wer ihm heute in der Küche helfen muss. Wir sind heute nicht dran, oder? Er hat uns nicht angeguckt. Einmal musste ich eine Nacht in einer Bar verbringen. Habe ich dir das noch nie erzählt? In der Bar von Pito. Kennst du ihn? Seine Bar ist zu laut und völlig verräuchert, und da läuft immer dieser Scheißfernseher (auf den niemand schaut) und so ’ne Maschine, Pinball glaub ich, mit ganz vielen Zahlen und Buchstaben, die immer an- und ausgehen. Sobald du dich in Richtung Maschine bewegst, um ein Spiel zu spielen, kommt Pito sofort mit dem Staubtuch angerast und fuchtelt auf der Glasplatte herum (damit du die Kugel nicht mehr richtig sehen kannst), und dabei kriegst du ständig seinen Ellbogen in die Rippen, bis du die Kugel (falls du bisher geschickt genug warst, das Spiel trotz des Staubtuchs zu bestehen) endgültig versenkst. Pito ist verrückt: Er ist gleichzeitig durchtrieben und nett. Wenn du ein Bier bestellst, bringt er ’ne Cola und wenn du einen Espresso Macchiato bestellst, bringt er dir einen Cubalibre oder Rum mit Orangenlimonade, und wenn du einen Rum Orange bestellst, serviert er dir Kutteln oder einen Grog, und während er dich zurechtweist, schaut er dich schräg an, stellt dir den Mann neben dir am Tresen vor, ruft nach dem Hund mit den traurigen Augen, dem er immer ähnlicher sieht. (Beide gehören zu derselben Art Wesen, die mehr mit Cafés und Cognac verwandt sind als mit Menschen oder Hunden). In der Nacht, die ich dort verbringen musste, habe ich eines verstanden, um das zu bekommen, was du wolltest, musstest du das Spiel mitspielen, du durftest nie das bestellen, was du wirklich wolltest, und auch nicht das Getränk oder das Essen, was gar nichts damit zu tun hatte. So konnte es dir gelingen, dass Pito zwar nicht genau das servierte, was du wolltest, aber doch etwas, was dem ziemlich nahekam. Ich wollte einen Whiskey: Ich bestellte gefüllte Oliven und eine Orange: Er brachte mir einen Cognac und ein Plunderstückchen. Ich trank den Cognac und ließ das Plundergebäck liegen. Ich lag nur wenig daneben. Bei der zweiten Bestellung hatte ich weniger Glück: Ich hatte wieder Lust auf einen Whiskey und bestellte ein Tonic: Er servierte mir einen trockenen Sherry, den ich hasse. Beim dritten Mal lag ich richtig. Ich bestellte Johannisbeersirup: Ein wunderbarer Malt Whiskey füllte mein Glas fast bis zum Überlaufen. Während dieser ganzen Spielereien goss es draußen wie aus Kübeln: Es goss, wie es auf diesem Planeten noch nie geregnet hatte. Das Wort Sintflut verniedlicht die Proportionen dieses Ereignisses: Keiner kam auf die Idee, nach Hause zu gehen, auch wenn er nur ein paar Häuser weiter wohnte. Wir mussten also bleiben, ein Haufen ganz unterschiedlicher Leute. Wir fingen an zu spielen, was wir (um zwei Uhr nachts, als das Wasser das Erdgeschoss überschwemmte) unterbrechen mussten, um in den ersten Stock umzuziehen. Wir spielten bis um halb sechs morgens, als der Regen nachließ und die einen nach Hause und die anderen zur Arbeit gingen. In der übrigen Stadt hatte es kaum geregnet: Siehst du, was es alles gibt: Vielleicht passiert hier das Gleiche, und es schneit gar nicht im Dorf nebenan: Es schneit nur in dieser Ecke und sonst nirgends auf der Welt. Vielleicht brauchen wir den ganzen Schnee auf, und es wird jahrhundertelang nicht mehr schneien; unsere Kinder und Enkel werden nicht wissen, was Schnee ist, und werden ihn nur von Fotos und aus Filmen kennen. Hast du gesehen, wie hoch der Schnee liegt, schon zwei Handbreit über der Fensterbank? Der Schnee wird die Scheibe doch nicht eindrücken, oder? Warum sagst du nicht dem Wirt, er solle die Läden schließen? Sonst macht der Schnee noch die Scheiben kaputt. Außerdem ist es dann nicht mehr so kalt. Warum ist das bisher noch niemandem eingefallen? Guck mal; jetzt schneit es noch mehr. Mann, liegt der Schnee schon hoch, das wird ja immer mehr. Schau, man kann den Himmel nicht mehr sehen: Wir sehen nichts mehr: nur noch Schnee. Bald bekommen wir keine Luft mehr. Es wird so viel schneien, dass wir unter einer Schneedecke verschwinden werden, wir und die Häuser, wir werden ersticken, wenn uns die Luft ausgeht, was bald sein wird, und bei dieser dauernden Kälte wird der Schnee nie wieder schmelzen, und wenn die Menschen sich dann an die neue Eiszeit gewöhnt haben (das muss es sein: Das hier ist eine neue Eiszeit: Wir sind Jahrmillionen zurück!), werden sie Autobahnen über uns bauen. In tausend Jahren werden dann kurzsichtige Archäologen unsere Leichen in vollkommen erhaltenem Zustand entdecken: wie in einer Tiefkühltruhe. Sie werden uns ausziehen, uns untersuchen, uns analysieren. Welche Horrorvorstellung! Warum kommt eigentlich keines dieser Schneeräumfahrzeuge vorbei? In diesem Land sind solche Stürme doch sicher normal: Ganz so viel Schnee vielleicht nicht, natürlich, aber hier ist man heftigen Schneefall bestimmt gewöhnt. Warum kommt eigentlich keiner und repariert das Telefon? Mmh. Da hast du’s: Es geht dem Ende zu. Es bleibt nur die Kiste. Wie spät ist es? Wenn wenigstens der Fernseher funktionieren würde . . . Warum passiert das gerade uns? Ah. Ich bin müde. Legst du dich mit mir in die Ecke? Komm, wir machen Mittagsschlaf. Du schreibst. So als ob du nichts anderes könntest. Bringt es dir irgendetwas? Was schreibst du eigentlich, darf man das erfahren? Mal sehen . . . Du bist verrückt. Warum schreibst du alles auf, was ich sage? Das heißt: Du saugst dir das nicht einmal selbst aus den Fingern, sondern im Prinzip kann ich dir befehlen, was du schreiben sollst; und dann schreibst du nur das, was ich will. Schreib Scheiße. »Scheiße.« Nein, jetzt habe ich es gelesen. He, hör auf. Du spinnst. Schreib nur das, was ich dir sage, was du schrei . . . Hey! Du hast ein halbes Wort aufgeschrieben; also, wenn ich jetzt schweige, wirst du nichts mehr schreiben: Wirst du einen Leerraum lassen oder einen Absatz machen? Zeig mal . . . Bah: Du hast Punkt, Punkt, Punkt gemacht: Du bist nicht gerade originell: Das hast du vorhin auch schon mal gemacht. Machst du nie einen Absatz? Mach einen Absatz. Jetzt. Es ärgert mich, dass du nicht auf mich hörst. Du schreibst, damit du nicht reden musst. Du glaubst, du stehst über den Dingen hier, was?, und dabei bist du genauso ein Scheißkerl wie alle anderen auch. Glaubst du vielleicht, mir würde es Spaß machen, hier rumzusitzen? Du könntest ruhig etwas netter zu mir sein. Kommunikation zwischen den Menschen ist zumindest interessant und hilft, die Zeit zu vertreiben. Hast du nie darüber nachgedacht? Schau mir in die Augen. Schau mich an. Schreib nicht »Schau mich an«, sondern schau mich an. Nein: Schreib nicht »Schreib nicht ›Schau mich an‹, sondern schau mich an«, sondern schau mich an. Nein: Schreib nicht »Nein: schreib nicht ›Schreib nicht ›Schau mich an‹, sondern schau mich an‹«, sondern schau mich an, sondern schau mich an. Lass gut sein. Jetzt bin ich still, damit du nichts mehr aufschreiben kannst und mich anschauen musst, oder wenn nicht, dann langweile dich eben. Non scriverai più.