Читать книгу Hundert Geschichten - Quim Monzo - Страница 27

Globus

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Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte er beim Zirkus, zog von einem Ort zum anderen und hatte in all den Jahren keine Stadt zweimal betreten. War jemals ein anderer Zirkus so maßlos herumgeirrt ? Als Akrobatenkind war sein Leben eine Folge von neuen Landschaften, und alle paar Wochen freundete er sich mit neuen Zwergen und Clowns, Dompteuren und Löwen, Ponys, Trapezkünstlern, Seiltänzern, Kanonenmännern und Elefanten an. Er kannte drei Buffalo Bills und zwei Indianerinnen, die sich ihre Körperumrisse mit Messern markieren ließen. Mit vierzehn verliebte er sich in ein Mädchen, das an drei Abenden hintereinander auf dem selben Platz in der zweiten Reihe saß. Am dritten Abend (er assistierte der Dame mit den dressierten Schoßhündchen) zwinkerte das Mädchen ihm zu, und er wurde rot. Er wusste nicht, wie reagieren, und als ihm schließlich etwas einfiel, war es zu spät: Er befand sich wieder auf der Landstraße in einer Karawane von Zirkuswagen auf dem Weg in die nächste Stadt.

Mit dem Zirkus war Schluss, als er zwanzig wurde. Als Grund gab man die alte Geschichte an: Die Konkurrenz von Film und Fernsehen habe dem Zirkus den Todesstoß versetzt. Wer konnte, wechselte in einen anderen Zirkus, aber es gab nicht genug Stellen für alle. Jung wie er war, hätte er Arbeit gefunden (und es nicht nur seinen Erzeugern, sondern den besten Akrobaten der Welt nachtun können), doch er entschied sich anders, er wollte wissen, ob an der berühmten Sesshaftigkeit irgendetwas interessant war.

Er wurde Beamter bei einer Eisenbahngesellschaft. Er verließ in zwanzig Jahren nicht ein Mal die auserwählte Stadt. Jeden Tag legte er Fahrpläne fest, prüfte und korrigierte sie, ohne dass beim Lesen der Orte auf den Fahrkarten nur ein Funken Sehnsucht aufgekommen wäre. Er, der vor seinem zwanzigsten Lebensjahr den halben Planeten bereist hatte, verbrachte nun weitere zwanzig Jahre eingesperrt zwischen einem ruhigen Heim und einem Eisenbahnerbüro und nahm Tag für Tag den selben Weg. An den ersten Abenden, an denen er gelangweilt daheim saß, erinnerte er sich noch an die Orte aus einer Vergangenheit, die sich jeden Tag weiter entfernte. Er glaubte, nur sesshaft könne er Geschmack an der Sesshaftigkeit finden: Vielleicht brauchte er einfach Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Doch bald verlor er nicht nur die Fähigkeit, sich gegen den Alltagstrott zu wehren, der ihn allmählich auffraß, sondern war auch (was viel schlimmer war) am Tage nicht mehr in der Lage, die Erinnerungen wachzurufen. Stattdessen träumte er nun mit einer meisterlichen Präzision jede Nacht ein paralleles Leben, das nichts anderes war als die Wiederholung seines bisherigen Lebens mit zwanzig Jahren Verspätung. So kam es (er träumte ja in jeder Nacht den Tag von vor zwanzig Jahren), dass er an seinem vierzigsten Geburtstag träumte, wie der Zirkus dichtmachte und er beschloss, sesshaft zu werden. Der Albtraum weckte ihn, er war schweißgebadet, hastig atmend starrte er mit weit aufgerissenen Augen an die Decke, als würde sie ihm gleich auf den Kopf fallen. Erwacht aus einem Traum, der zwei Jahrzehnte gedauert hatte, packte er die Koffer. Am Bahnhof nahm er den ersten Zug.

Er reiste von Land zu Land. Gleich zu Beginn hatte er beschlossen, die verlorene Zeit aufzuholen: Er vermied alle Orte, in denen er bereits in seiner Jugend gewesen war, und betrat keine Stadt zweimal. Zehn Jahre später, mit einem halben Jahrhundert Leben hinter sich, hatte er die Hälfte der Hälfte der Welt gesehen, die er in seiner Kindheit und Jugend nicht bereist hatte. Jedes Mal, wenn er einer Stadt Lebewohl sagte, wusste er, es war für immer. Jeder erste Blick auf eine Landschaft war zugleich der letzte.

Nach weiteren zehn Jahren hatte er den ganzen Planeten gesehen. Es war ihm unmöglich, ein Stück Erde zu betreten, wo er nicht schon einmal gewesen war. Schon Jahre zuvor war ihm aufgefallen, dass er, je mehr er reiste, desto weniger träumte. Nun, wo er die ganze Welt gesehen hatte, träumte er fast gar nicht mehr. Sogar das Erinnern fiel ihm schwer. Er durchforstete sein Gedächtnis: In welcher Stadt hatte er zum ersten Mal ein Mädchen, seine seiltanzende Cousine, geküsst? War der Kuss in Berlin oder Danzig gewesen? Ihm kamen Zweifel, ob er sich wirklich alles eingehend angesehen hatte. Wenn ja, gäbe es keine Entschuldigung für eine derart große Ungewissheit. Es fiel ihm ganz offensichtlich schwer, sich an Landschaften und Bauten zu erinnern: Einige Plätze verflüchtigten sich, und der Lauf der Flüsse überraschte ihn immer aufs Neue. Er fragte sich, was es ihm letztendlich gebracht hatte, die ganze Welt zu bereisen, wenn er sich nun nicht mehr erinnern konnte.

Seine Unruhe riss ihn in einen Strudel. Jetzt, er wartete gerade auf den Zug nach Parma (die erste Stadt in seinem gigantischen Inventar: die, an die er sich am wenigsten erinnerte, weil es seine Geburtsstadt war), merkte er, dass er sich kaum noch an das Bild seiner Mutter erinnern konnte, das einem Spiegelbild im Wasser glich und sich auflöste, wenn die Wasseroberfläche in Bewegung geriet. Er saß auf der Holzbank und betrachtete die Gräser zwischen den Gleisen. Er sah hin, aber plötzlich verstand er sie nicht mehr: Er hatte ihren Namen vergessen und (wie die Seiten, die der Wind aus einem schlecht gebundenen Buch reißt) flohen aus dem Archiv seines Gedächtnisses alle vorigen Gräser. Er fragte sich, was all diese Reihen von kleinen grünen Trieben sein könnten. Er fürchtete, den Kopf zu verlieren. Er schaute hoch: Auf der Mauer vor ihm auf der anderen Seite der Gleise lachte ihn ein riesiges, zerrissenes Zirkusplakat an. Er dachte, es wäre schön hinzugehen, nach so langer Zeit, die er unter keinem Zelt gestanden hatte. Doch als er noch einmal auf das Plakat schaute, um nach dem Datum zu gucken und dem Ort, wo das Zelt aufgeschlagen war, fragte er sich, was dieses weiß bemalte Gesicht sollte mit einem Kreuz in einem Auge und einem senkrechten Strich in dem anderen, mit einem Hut wie eine leuchtende Papiertüte, einer runden Knubbelnase und Lippen, die zweimal lachten.

Der Bahnsteig war verlassen. Er rutschte mit dem Körper hinunter, bis sein Nacken auf der Lehne der Bank lag. Er machte die Augen zu und gähnte. Schaute nach rechts und nach links und klagte: »Wenn ich nicht einmal die Stadt kenne, in der ich geboren bin . . .« Er hörte eine Tür aufgehen: Eine Frau steckte den Kopf durch den Spalt, schaute nach rechts und nach links und verschwand wieder. Als er gleich darauf die Tür zuschlagen hörte, war er nicht in der Lage, sich zu erinnern, ob diese Tür vorher geöffnet worden war, und auch nicht, wer eingetreten war oder ob überhaupt jemand eingetreten war oder es jemals eine Tür gegeben hatte.

Er hatte gerade noch Zeit, sich zu fragen, was ihm zustieß. Er erinnerte sich an einen grauen Teich unter einem weißen Himmel vor einem feuchten Wald (und das Bild war so lebendig in seinem Gehirn, dass es vielleicht doch Wirklichkeit war, was er da sah). Gleich darauf (und nun war es offensichtlich, dass er die Bilder nicht mehr beherrschen konnte, die losschossen wie Luftballons, wenn sie Luft verlieren) war da ein spartanisches Hotel, das nach Staub schmeckte, mit weißen Wänden und kubistischen Holzmöbeln. Dann verschwanden alle Bilder vollständig: Er erinnerte sich an nichts mehr: Alles war nur noch ein schwarzes Rechteck: Er vergaß den Namen der Stadt, in die er fuhr, schaute entgeistert auf den Bahnhof und wusste weder, wo er sich befand, noch, was diese parallelen Linien aus Eisen waren, die sich am Horizont verloren. Als der Zug eintraf, konnte er ihn nicht mehr erkennen. Er erschien ihm weder als Maschine noch als Monster, weil beides seine Bedeutung verloren hatte. Da er ebenfalls vergessen hatte, was Angst war, floh er nicht.

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