Читать книгу Hundert Geschichten - Quim Monzo - Страница 35
Das Pflanzenreich
ОглавлениеDem Enkel von Matons vom Enkel von Onkel Ximo
Zu sagen, die Zeiten sind schwer, heißt heutzutage gar nichts mehr, denn wir haben diesen Ausdruck so oft benutzt, dass er schließlich seinen Sinn verloren hat, sollte er jemals einen gehabt haben: Die Zeiten sind in den Redewendungen immer schwer. Vielleicht wäre es genauer zu sagen, dass wir nicht mehr wissen, wo Norden ist; oder noch besser, wenn wir uns fragen, ob es den Norden überhaupt gibt (und folglich auch den Süden, der die Umkehrung desselben ist), alles nichts als herumhuschende Schatten in einem Schulflur. Man sagt, es seien Krisenzeiten, und ich bin gerne bereit zu denken, dass deshalb alles so ist, wie es ist. Denn wenn diese Theorie stimmt, wird der Kompass wieder funktionieren, wenn die Krise vorbei ist. Vor ein paar Jahren schien uns alles klar: Wir stürzten die Idole (nicht alle Idole jedoch: Vielleicht war das der Fehler) und setzten uns auf die leeren Podeste in der Erwartung, dass zwei mal zwei nicht mehr vier ist: Die Fensterstürze waren immer ein Norden, zumindest sie. Nun sind wir erwachsen (wir haben gelernt, dass zwei Schläge mit dem Knüppel und noch mal zwei Schläge mit dem Knüppel vier Schläge sind) und fragen uns, ob wir einige der gestürzten Idole wieder auf das Podest setzen oder selbst dort bleiben sollen, in der Gewissheit, dass in einer kommenden Zeit jemand seine eigenen Kommentare abgeben und neue Statuen errichten wird (möglichst aus Plastik, das brennt besser und verbreitet zudem einen bestialischen Gestank).
Als ich klein war, antwortete ich auf die Frage: »Und du, mein Kind, was willst du werden, wenn du groß bist?« »Unmensch.« Und ich habe meine ganze Kraft in dieses Streben gesteckt. In meiner Generation (vielleicht sollten wir sie eher Degeneration nennen: Wir waren eine begünstigte degenerierte Generation) begann die Akne im Schatten der ersten Rolling Stones und der Kämpfe zwischen Mods und Rockern, und wir projizierten unsere Wut auf alles, was orthodox erschien. Klugerweise verstanden wir, dass Heterodoxie und Skrupellosigkeit Wörter waren, die in keinem Wörterbuch als Synonyme auftauchten.
Ich habe von meiner Berufung zur Skrupellosigkeit berichtet, aber ich habe nicht erzählt, wie sich das zusammengebraut hat. (Ich weiß nicht, ob ich es fertigbringe: Ich kann zwar klar die Wurzeln erkennen, aber dann folgen nur verlorene Evolutionsstufen). Im Enfants Terribles verbrüderten wir uns mit seefahrenden Yankees und Brasilianern, schäbigen Nutten und Nordafrikanern (so werden sie heute genannt), die um Mitternacht mit Sonnenbrillen herumliefen. Von allen lernten wir unseren Zynismus und unser Schmarotzertum; als die ersten Hippies anlandeten, war uns sofort klar, dass wir nie was mit ihnen gemeinsam haben würden: Die andere Backe hinhalten war nicht unser Stil. Wir leugneten unsere Gefühle (und waren sentimental wie kaum einer sonst) und wurden nur durch Ziele motiviert, aus denen wir irgendeinen Gewinn schlagen konnten. Die Zeit hat uns ein wenig Recht gegeben (man bekommt es nie zur Gänze): Von den Hippies hört man heute gar nichts mehr, und die Habgierigen sind die Herren der Welt. In den Siebzigern begann der endgültige Verfall: Die Anhänger der Perversionsethik stellten sich als wenig ethisch und überhaupt nicht pervers heraus; Opportunisten, sonst nichts. Ich hatte die Nase voll von Junkies und Messern, und der neue Schub an Rebellen (Ökos, Vegetarier und Kriegsdienstverweigerer) ließ mir das Herz schwer werden.
Durch die Langeweile überstürzten sich die Ereignisse. In jener Nacht las ich Baudelaire. Ich lag in der Hängematte auf der Terrasse, umgeben von Zwergpalmen und Hortensien, mit Blick auf den gelben Mond über blauer Bucht. Txitxi lief in der Wohnung auf und ab, angeödet, abstinent, traurig, enterotisiert: Sie wollte nicht trinken, sie wollte nicht reden und vor allem wollte sie nicht vögeln. Genauso gelangweilt wie sie, wand ich mich aus der Hängematte, griff Txitxi am Arm und verdrehte ihn, bis sie anfing zu weinen (sie schaute mich dabei mit Augen an, die beichteten, dass auch ihr plötzlich die Langeweile vergangen war), und ich vergewaltigte sie, ohne dass ihre Schreie mein Gewissen belasteten. Wie bei einem Wunder öffnete sich der Himmel; eine Helligkeit trieb mich vor sich her: Plötzlich wurde mir klar, dass ich jahrelang vor mich hinvegetiert hatte. Nun war ich ein Bär nach dem Winterschlaf, der den ihm würdigsten Weg wählte: mich in einen klassischen Lüstling zu verwandeln. Ich würde nur noch die verbotenen Früchte kosten. Nachdem ich alles andere hinter mich gebracht hatte, spezialisierte ich mich auf die Frauen: eine Frage des Alters.
Von da an ging alles wie von selbst. Das Laster ist eine Ebene mit Wanderdünen, die alles verschlingen und denen niemand entfliehen kann. Vom ersten Experiment animiert, wurde ich zunächst Vergewaltiger. Kurz darauf beschloss ich, im Bewusstsein der Bedeutung meiner Aufgabe in einer Gesellschaft wie der unseren, mich theoretisch mit der Funktion auseinanderzusetzen, die ich zu erfüllen hatte, nicht, dass ich statt Täter zu sein versehentlich in die einfachere Rolle des Opfers schlüpfte. Und da es keine fruchtbringende theoretische Reflexion ohne begleitende bewusste Praxis geben kann, war ich (abwechselnd, hintereinander, gleichzeitig) Exhibitionist, Voyeur, Verführer Minderjähriger, Gigolo, Sadist, Sodomit, Masochist. War mir ein Terrain verboten, so war es zu erobern. Keine Verirrung war mir fremd. Wenn ich deshalb sage, die Zeiten seien schwer, dann tue ich das mit einer tiefen Kenntnis der Sache, Resultat, wie ich bereits sagte, einer gleichermaßen theoretischen wie praktischen Reflexion.
Jetzt erzähle ich euch meinen letzten Coup: Mittwoch war ich gegen halb zwei nachts im Whisky Twist. Den Ellenbogen auf den Tresen gestützt, rauchte ich vor mich hin, betrachtete, eingetaucht in die Anonymität der blauen und roten Lichter des Lokals, die Flaschen auf dem Regal vor mir und versuchte, die Etiketten zu lesen. Hinten wurde getanzt. Am Eingang waren zwei in eine Schlägerei verwickelt, und jeder Faustschlag warf einen der beiden gegen die Tür, bis der Gorilla auftauchte und das Happening beendete. Ich bestellte etwas zu trinken, aber ich weiß weder was noch bei wem. Ich erinnere mich nur noch daran (und ich kann mich kaum an mehr erinnern, denn es ist so, als habe alles, was daraufhin passierte, meine Erinnerung an das, was davor war, ausgelöscht), wie ich sie, als ich mich nach rechts drehte, um auf die Tanzfläche zu schauen, zwei oder drei Barhocker weiter sitzen sah.
Sie trank einen orangefarbenen Saft. Sie hatte lange, dunkle Haare, die ihr über die Schulter fielen. Von der Seite erinnerte sie mich an Silvie Vartan, eine dunkle Silvie Vartan. Sie hatte eine kurze Jeansjacke (Levi’s) an, eine jener, die man heute nicht mehr sieht: verwaschen wie Jeans. Nun, ich weiß nicht mehr, ob ich sie, nachdem ich ihr Gesichtchen sah, unschuldig wie ein Lamm, als einen Leckerbissen einstufte, der es wert war, dem Buch meiner Schandtaten hinzugefügt zu werden, oder ob in mir ein Gefühl der Überraschung (ich mit einem Gefühl?) hochstieg, dass ich nach so langer Zeit ein Mädchen in den Klamotten traf, die wir vor einem Jahrzehnt getragen hatten. Sie erinnerte mich an ein Mädchen, das ich mir eines Nachts im Jazz Colon geangelt hatte, als das Jazz Colon noch das Jazz Colon war und sich ein Mädchen angeln hieß, sie zu verführen, sie festzuhalten, sie zu nehmen und eine Dreiviertelstunde später wieder abzulegen. Jenes Mädchen erinnerte mich an die Partys am Sonntagnachmittag, an Twist und Madison, immer auf der Hut, weil die Eltern jederzeit aus dem Kino zurück sein konnten. Sie erinnerte mich an die Shadows, erinnerte mich an Jerry Lee Lewis, erinnerte mich an Michel Polnareff; erinnerte mich an mich selbst, der ich völlig in eine sommersprossige Puppe verknallt war.
Ich fing ein Gespräch mit ihr an, was unnötigerweise meine Absichten verheimlichen sollte. (Unnötigerweise, weil heutzutage die Dinge so schnell vonstatten gehen, dass niemand mehr Umwege macht, denn das Ja oder Nein kommt sofort und bestimmt.) Wir plauderten über Belanglosigkeiten, wir schlenderten durch Born, tranken in der Nähe des Parks Schokolade, liefen die Ramblas hoch. Ich verließ sie an ihrer Haustür, ohne auch nur ein Haar von ihr berührt zu haben, aber ich hatte ihre Telefonnummer in der Tasche. Ich glich eher einem Schutzengel, der seine Noten noch verbessern wollte, als einem Brutalo. Eine Angst beschlich mich, ich könne mich in der Rolle des netten Jungen vielleicht sogar wohlfühlen. Um dem entgegenzuwirken, holte ich mir gleich zu Hause mit Bildern von Tieren (Schweinen, Hunden und Eseln), die blondierte Fräuleins im Mund penetrierten, einen runter: Nun, ich musste meine Integrität bewahren! Mit einer Reißzwecke befestigte ich die Nummer neben dem Telefon. Ich würde sie morgen anrufen. So wie ich als kleiner Junge vor dem Einschlafen betete, so sagte ich mir jetzt ein ums andere Mal, was für ein Fiesling ich sei und sie für mich nicht mehr als ein weiterer Markstein, und malte mir aus, wie ich in ein paar Stunden grausam und gemein zu ihr sein würde.
Es war ein Leichtes, ein Treffen mit ihr zu verabreden. Sogar direkt bei mir zu Hause: So galant war ich am Abend zuvor gewesen! Ich bot ihr Getränke und einen Joint an. Sie wollte nur einen Fruchtsaft, und während im Fernsehen zwei Boxer für die Europameisterschaft im Weltergewicht aufeinander einschlugen, begann ich, sie am Hals zu küssen, ihr in den Kehlkopf zu beißen. Einen Moment lang erschien sie überrascht, und ich fühlte mich lächerlich: Vielleicht hatte sie mich gestern wirklich für einen Milchreisbubi gehalten. Im Mund hielt ich mich eine Ewigkeit auf: Der Weg war genau ausgearbeitet und ganz langsam zu absolvieren, damit sie mir, wenn es drauf ankam, nichts mehr verweigern konnte. Im Fernsehen grüßte einer der Boxer in Siegerpose, der andere lag noch auf dem Boden, k.o. Die Nachrichten begannen. In einer halben Stunde fing Endstation Sehnsucht an, mit Marlon Brando und Vivien Leigh, ein Film, der mir immer gefallen hat. Ich wollte ihn nicht verpassen und beschloss daher, mit dem Mädchen fertig zu werden, bevor der Film anfing. Ich begann, sie auszuziehen, sie wehrte sich kaum. Der Kampf, ihr den Rock runterzuziehen, war schon schwieriger. Das ermutigte mich: endlich Widerstand, wie es sich gehörte, nach langer Zeit. (Diese Jugendlichen heutzutage, die keinen Widerstand mehr leisten, verderben dir den Spaß an den kleinen Dingen des Lebens.) Ich sah mich genötigt, Gewalt anzuwenden. Mit dem Bauch nach oben und ohne Rock, presste sie die Beine zusammen und tischte mir völlig durcheinander eine Lüge nach der anderen auf, entschuldigte sich und schlug mir Entschädigungen vor, die mir aber nicht schweinisch genug waren. Ich zerriss ihr Höschen aus Satin, und als ich dann versuchte, einen Finger hineinzustecken, stellte ich fest, dass es nicht ging: Da war irgend etwas Seltsames. Ich spreizte ihre Schamlippen mit einer titanischen Kraft, denn diese Lippen widersetzten sich, als hätten sie ein Eigenleben. Ich versuchte, noch einmal einen Finger hineinzustecken (vorher hatte ich ihn mit Spucke angefeuchtet, hatte sie geleckt, vielleicht ging es ja besser, wenn alles voller Speichel war), doch ich stellte sofort fest: Es war absolut unmöglich: Das Loch war zu, so wie ich es noch nie erlebt hatte. Vermutlich konnte sie auf äußerst ungewöhnliche Art und Weise ihren Vaginalmuskel beherrschen und versperrte mir damit den Zugang. Ich verlor allmählich die Geduld und drohte ihr damit, einen Bohrer zu holen. Völlig entsetzt, begann sie zu reden, und ich beging den Fehler, ihr zuzuhören. Ich hätte es nicht tun sollen. Indem ich ihr zuhörte, hatte ich verloren: Zum jetzigen Zeitpunkt weiß ich immer noch nicht, ob sie mir etwas vorgemacht hat und ob sie es immer noch tut. Sie hob an:
– Halt, warte. Denk nicht, dass ich nicht will. Auch wenn es dir unmöglich erscheint, gibt es ein reales Hindernis dafür, dass du in mich eindringst. Ich bin und bin nicht daran schuld. Ich müsste sehr weit ausholen, um dir alles zu erklären, aber ich werde direkt zum Kern vorstoßen: Ich war immer eine Person mit starken Überzeugungen. Es ist schwer zu erklären: Nicht nur, dass mich als kleines Mädchen allein die Frage, ob ich Grippe hätte oder nicht, mich die eindrucksvollsten Grippen bekommen ließ. Das kann man noch erklären und ist eher hypochondrisch. Auch nicht, dass es mir eines Tages, als ich mit meinem Bruder Cowboy und Indianer spielte, gelang, mich so von meiner Rolle als Sioux zu überzeugen, dass ich zum Schrecken meiner Familie drei Tage lang nur noch rituelle Zeremonien heulte, was so weit ging, dass ich keine andere Sprache mehr verstand als Sioux (und wenn ich sage, verstand, meine ich genau das, und nicht, ich tat so, als verstehe ich sie nicht). Ähnliche Fälle gab es zuhauf. Ich erspare dir die Ausführungen. Mein Problem geht über Hypochondertum und Somatisierung hinaus. Schau mich nicht mit so einem Gesicht an. Tu mir nicht weh. Ich lüg dich nicht an: Wenn sich etwas in meinem Kopf festsetzt, sitzt es dort über meinen Willen hinaus fest und beherrscht mich völlig. Du wirst sehen, was passiert. Vor einem Jahr begann ich, mich für vegetarische Ernährung zu interessieren, und als mir dann die Tugenden dieser Diät einleuchteten, verselbstständigte sich der Prozess und nahm eine Wendung, die ich nicht vorhergesehen hatte: Ich war ganz und gar davon überzeugt. Damit will ich sagen, ich bin Vegetarierin von Kopf bis Fuß, und mein Körper (der ganze Körper, von oben bis unten) nimmt nur noch Pflanzliches an. Und da ist nichts zu machen, bis ich mich davon überzeuge, dass vegetarisch essen schädlich ist oder dass ich es, obwohl es gesund ist, nicht fanatisch befolgen muss.
Ich fiel darauf herein: Dieser wunderschöne Körper zitterte in meinen Armen, und ich glaubte ihr gerührt. Plötzlich fiel meine ganze Konstruktion in sich zusammen. Ich war nicht mehr der unbestechliche Unmensch: Ich hatte nun einmal nachgegeben und versucht, jemanden zu verstehen. Und wie: Ich tat ihr nicht nur keine Gewalt an, sondern benutzte, um sie zu befriedigen, Gurken, Möhren, Auberginen. Sie sagt, sie liebe mich sehr. Der Gynäkologe meint, es sei Sache der Psychologen. Der Psychologe meint, sie müsse sich überzeugen, dass Fleisch essen nicht nur nicht schädlich ist, sondern auch gesunde Aspekte habe. Denn anscheinend gibt es bei ihr keine Graustufen: entweder schwarz oder weiß; entweder sie ist von etwas ganz überzeugt oder gar nicht. Seit Wochen versuche ich, sie von den Tugenden der Perversität zu überzeugen. Wenn es mir gelingt, habe ich leichtes Spiel: Da Vegetarismus ganz offensichtlich nicht pervers ist, wird sie ihn ablehnen. Es sieht aus, als sei sie bereit, sich überreden zu lassen. Sie versteht langsam meinen Spleen, und er scheint ihr nicht zu missfallen: Sie liest inzwischen den Marquis mit mehr Vergnügen als Handbücher über Zitronen und Zwiebeln. Seit gestern aber verfolgt mich ein Gedanke: Was, wenn sie sich nun, so wie sie ist (alles oder nichts oder schwarz oder weiß), die Tugenden der Perversion so zu eigen macht, dass sie durch und durch pervers wird, sozusagen Skorpion und Pygmalion zugleich, und zu dem Schluss kommt, die höchste Form der Perversität, zu der man gelangen kann, sei es, in einer Weise, die ich nicht vorhersehen kann, den giftigen Stachel gegen mich zu richten?