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Die Aktentache

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Borrell schrieb das letzte Wort, setzte den Schlusspunkt, zog das Blatt aus der Maschine und betrachtete es mit ausgestrecktem Arm von Weitem wie eine Zeichnung. Er las es noch einmal.

Langsam kniet er nieder und merkt nicht,

dass das blendende Scheinwerferlicht,

die dunkle Sibylle, der Trubel ist,

mit der ihn verwirren will die Finsternis.

Erst danach füllt Nitrat den Raum.

Ergeben beugt er sich, bis es empfängt der Mund.

Er wird gesehen von einer Eule ohne Flügelflaum,

von der Gans im Wahn und dem brennenden Hund.

Er legte das Blatt zu den anderen einundzwanzig Blättern, die bereits in einer Mappe aus blauem Karton lagen. Auf das nächste Blatt tippte er den Titel des Buches: Die Aktentasche und den ihm vorangestellten Leitsatz: »Aliquando bonus dormitat Homerus«. Er tippte dieses Motto auf einen Umschlag und auf ein weiteres Blatt Papier. Auf dieses weitere Blatt schrieb er zudem seinen Namen, seine Adresse und seine Telefonnummer und steckte alles in den Umschlag. Er leckte ihn an und klebte ihn zu.

Im Copycenter an der Ecke kopierte er das Buch, dreimal. Im Papierwarengeschäft kaufte er Aktendeckel. Wieder zu Hause, schob er einen Satz Fotokopien in eine Schreibtischschublade, legte das Original in der Mappe zu den beiden anderen Stapeln mit Fotokopien und packte daraus ein Paket. Er schrieb die Adresse einer bedeutenden Kultureinrichtung darauf und eilte zur Post. Heute war der letzte Tag, um eine unveröffentlichte Arbeit für den höchsten Dichterpreis des Landes einzureichen.

Borrell hätte nie gedacht, dass die Blitzlichter der Fotografen und die Mikrofone der Journalisten ein so wenig traumatischer Bestandteil der Welt des Dichters sein könnten. Er verlor erstaunlicherweise überhaupt nicht den Kopf, als auf einmal gegen Mitternacht ein Heer von Journalisten in seine Wohnung einfiel. Eine halbe Stunde zuvor hatte ihn das Klingeln des Telefons aus einem Traum gerissen, in dem er mit Riesenzahlen eine geometrische Reihe fantasierte. Er hatte so wenig an eine Auszeichnung geglaubt, dass er, völlig unbeeindruckt vom laufenden Abstimmungsverfahren, schlafen gegangen war.

Die Mund-zu-Mund-Propaganda funktionierte, und die erste Auflage von Die Aktentasche war fast vergriffen, bevor die ersten Kritiken veröffentlicht wurden. Als diese schließlich erschienen (seltsamerweise nur positive, außer einer, in der ein paar Reimprobleme entdeckt wurden), stand der Verlag mit der Produktion der dritten Auflage unter Zeitdruck. Bei der Einschätzung eines neuen literarischen Werkes hatte sich die Presse seit Jahrzehnten nicht so einmütig gezeigt. »Die Poesie von Borrell« – schrieb eine Gazette – »zeigt uns, auch wenn uns diese Erkenntnis schwerfällt, dass wir bisher noch nicht alle Seiten dieses enigmatischen, wechselnden Parallelepipedons entdeckt hatten, das die Dichtung sein kann und auch ist.« »Die Qualität dieses Buches« – schrieb eine andere – »macht Die Aktentasche bereits kurz nach Erscheinen nicht nur zu einem Markstein der lokalen, sondern der europäischen Dichtung, die sich derzeitig, und das schon seit Jahrzehnten, durch Unentschiedenheit und Orientierungslosigkeit auszeichnet.«

Borrell war glücklich. Nicht wegen des Erfolges, sondern weil die öffentliche Anerkennung ihm zeigte, dass er sich nicht geirrt hatte; dass, so wie er es immer geglaubt hatte, seine Gedichte den Zeitgeist trafen. Mit der Einfachheit seiner Kunst, und offenbar weit entfernt von dem heraufdämmernden einundzwanzigsten Jahrhundert, wurde Borrell zum »Priester all jener unmöglich festzulegenden Empfindungen, von denen die Seelen seiner Zeitgenossen zerrissen wurden«.

Ihm zu Ehren, und weil sie ihn liebten, feierten seine Freunde Feste. Alle freuten sich aufrichtig über Borrells Erfolg, dessen einzige, ständig wiederholte Forderung gewesen war, ihn in Ruhe schreiben zu lassen. Sie schätzten auch eine weitere Eigenschaft an ihm: Im Unterschied zu den meisten anderen hatte er sie nie mit einem Gedichtvortrag oder einem Seminar über das, was seiner Meinung nach Dichtung sei oder zu sein habe, geplagt. Sie wussten, wie sehr er geschwitzt hatte, um die zweiundzwanzig Gedichte herauszudestillieren, die in Die Aktentasche Eingang gefunden hatten, denn ganz war er nie zufrieden. Er hatte sich nie wegen des Erfolges selbst verraten. Einen Erfolg, den er viel früher erreicht hätte, wenn er nur den Modeströmungen gefolgt wäre, wenn er nicht überzeugt und frei von prophetischem Dünkel seine Vision von der Poesie am Ende unseres Jahrhunderts vertreten hätte.

Der erste, der ein Fest organisierte, war Josep. Das zweite organisierte Manel. Danach folgten Andreu, Marta, Ignasi, Ramon, Maria, Teresa, Gerard. Auf dem Fest von Gerard erklärte Borrell, dass, wenn sie weiter so viele Feste feierten, Wochen ins Land ziehen würden, ehe er wieder am Schreibtisch sitzen könne. Aber natürlich musste man die Freude über diesen Erfolg ausleben. Die folgenden Feste wurden organisiert von Xesc, Rosa, Corina, Emili, Maria-Rosa, Toni, Anna, Núria, Arcadi, Arau, Josep-Maria, Tomàs, Sumpta, Albina, Miquel, Artur, der anderen Anna und Pepa.

Eines Abends, die Preisverleihung lag zwei Monate zurück, setzte sich Borrell an den Schreibtisch (nachdem er zuerst mit einem Rundfunkjournalisten telefoniert hatte, der seine Meinung zum Tod einer bereits älteren, bedeutenden Dichterin wissen wollte, und dann mit Anna, die sauer war, weil er sie seit Wochen nicht angerufen hatte). Seine Hände strichen über die Schreibtischkanten. Seit der Preisverleihung hatte er sich nur selten hierher gesetzt, und das tat ihm leid, denn in gewisser Weise war ihm dieser Schreibtisch, der ihn jahrelang bei der Arbeit begleitet hatte, ein sehr guter Freund. Er drehte sich um; er sah all die ungelesenen Bücher, die sich auf der Tischecke stapelten, wo er schon von jeher die Bücher hinlegte, die er in der allernächsten Zukunft lesen wollte, eine Ecke, auf der gewöhnlich wenig Bücher lagen, denn sobald sie dort ankamen, waren sie auch schon wieder verschwunden, bereits verschlungen. Während er versuchte, sich zu erinnern, ob es nun genau das dritte oder das vierte Mal war, dass er in jenen zwei Monaten am Schreibtisch saß, klingelte wiederum das Telefon. Ein Journalist der drittgrößten Zeitung der Stadt (hinsichtlich der Auflage) meldete sich. Während des Gesprächs ging es Borrell durch den Kopf, dass er eigentlich die Hälfte der letzten Monate in dieser Stellung verbracht hatte: am Telefon hängend, Interviewtermine vereinbarend, um damit dann die andere Hälfte der Zeit zuzubringen. Nach seiner Einschätzung durfte es im ganzen Land keine Medien (Presse, Rundfunk oder Fernsehen) mehr geben, in denen nicht über ihn berichtet worden war, nach Interviews mit Journalisten, die, wenn sie von Zeitschriften und Zeitungen kamen, in neunzig Prozent der Fälle seine Aussagen gänzlich verdrehten, vielleicht nicht einmal in böser Absicht, sondern weil sie die Nuancen in seinen Antworten nicht gewissenhaft wiedergaben. Auf der anderen Seite der Leitung hatte er nun einen der Journalisten, die ihn in der Nacht der Preisverleihung zu Hause besucht hatten. Schnell hatte er begriffen, dass es diesmal dem Mann nicht um ein Interview, sondern um einen Beitrag ging. Einen Beitrag in Form eines Gedichtes für die nächste Sonntagsausgabe. Borrell entschuldigte sich. In den letzten Monaten sei er kaum in der Lage gewesen, ein paar Gedanken zu skizzieren, geschweige denn, diese wenigen Gedanken zu einem Gedicht zu verdichten. Der Journalist blieb hartnäckig: Es sei ihm egal, wenn die Gedichte noch im Embryonalzustand seien.

– Denken Sie daran, es ist eine Zeitung. Es muss nicht den Vollkommenheitsgrad erreichen, der für eine Buchveröffentlichung erforderlich wäre. Später werden Sie schon Zeit haben, es nach Ihrem Gutdünken zu überarbeiten, wenn Sie es dann in einem Buch veröffentlichen.

Borrell argumentierte, es ginge nicht so sehr um Vollkommenheit, sondern darum, die Dinge gut zu machen. Der Journalist blieb hart: Man könne auch, falls er wolle, in einer Randbemerkung festhalten, dass es sich »um reine Skizzen zu einem Gedicht« handele, um nichts Fertiges.

Beim Auflegen des Telefonhörers wurde Borrell bewusst, dass er den Vorschlag schließlich akzeptiert hatte. Als Korrektiv zur vorausgegangenen Tat legte Borrell den Hörer neben den Apparat (anderenfalls würde er möglicherweise in den nächsten drei Stunden zwischen zwanzig und dreißig Anrufe erhalten) und bemühte sich, ein Gedicht zu vollenden. Er sollte es noch am selben Abend abgeben, da es für die Sonntagsbeilage vorgesehen war, die genau an diesem Tag Redaktionsschluss hatte. Borrell verstand nicht, warum sie bis zum letzten Tag gewartet hatten, um ihn um etwas zu bitten, was sie auch gut und gerne ein paar Tage vorher hätten einplanen können. Doch schon vor Wochen hatte er sich angewöhnt, sich nicht mehr über die mangelnde Planung der Leute zu wundern, mit denen er nun Umgang pflegte.

Am späteren Abend erklärte er das Gedicht für mehr oder weniger fertig. Er legte den Hörer wieder auf die Gabel, und sofort klingelte das Telefon. Es war der Journalist, der ihn um das Gedicht gebeten hatte: Was denn los sei, dass er nun seit Stunden telefoniere, ob er wisse, wie spät es sei, und ob er nun das Gedicht vorbeibringen werde oder nicht, denn sie müssten schließen.

Auf der Fahrt zur Zeitung las Borrell das Gedicht noch einmal durch und fand es schwach. Er überlegte, wieder umzukehren und es noch einmal zu schreiben, aber er entschied (nur bei dem Gedanken an das empörte Gesicht des Journalisten), diese Idee zu den Akten zu legen und das Gedicht, so wie es war, abzugeben. Abgesehen davon war es ein Entwurf, und das würde ja auch in Kleinbuchstaben am Rand stehen.

Noch am selben Sonntag (nachdem er mit Emili telefoniert hatte, der ihm vorhielt, nie anzurufen) bat ihn ein Mitglied des Redaktionsbeirats einer bedeutenden Kulturzeitschrift um einen Beitrag. Sie planten eine Nummer über neue Poesie, und seine Mitarbeit war nach dem Eindruck, den Die Aktentasche in der Kulturszene gemacht hatte, unentbehrlich. Borrell erklärte ihm das Gleiche, was er dem Journalisten der Zeitung erzählt hatte: Er habe bisher nichts Neues, er habe nur Notizen gemacht, die man beim besten Willen nicht Gedichte nennen könne. Der von der Kulturzeitschrift fragte ihn daraufhin, wie es denn dann komme, dass genau heute eines seiner Gedichte in der drittgrößten Zeitung der Stadt (hinsichtlich der Auflage) erschienen sei (natürlich ohne die erläuternde Randbemerkung, dass es sich um einen Entwurf handelte; die Randbemerkung, die der für das Layout Verantwortliche angeblich ohne Rücksprache weggelassen hatte, weil sie ihm das Aussehen der Seite verdarb). Und wenn er in der drittgrößten Zeitung der Stadt (hinsichtlich der Auflage) ein Gedicht veröffentlicht habe, gäbe es natürlich noch viel mehr Gründe, in seiner Zeitschrift zu schreiben, die sich nicht nur durch ihr erbittertes Ringen um eine fortschrittliche Haltung in der Kultur hervorgetan habe, sondern auch ein Bollwerk in den schwarzen Zeiten der Diktatur gewesen sei. Borrell sagte, er könne nach Belieben aus seinem Band Die Aktentasche veröffentlichen. Der von der Kulturzeitschrift war empört: Mit beleidigter Stimme machte er unmissverständlich klar, es müsse etwas Unveröffentlichtes sein.

– Aber ich habe doch nichts fertig – bemerkte Borrell.

– Das ist doch egal. Irgendetwas, gleich was, geht in Ordnung.

In den fünfzehn Tagen, die auf die Veröffentlichung des Gedichtentwurfs in der Kulturzeitschrift folgten, erhielt Borrell neben den üblichen Telefonanrufen im Durchschnitt achtzehn komma vier Anrufe täglich mit der Bitte um einen Beitrag für Zeitschriften jeglicher Größe, Erscheinungsweise, Druckart und ideologischer sowie ästhetischer Richtung.

Am sechzehnten Tag aber, gerade nachdem er den Telefonhörer aufgelegt hatte (er hatte mit Gerard gesprochen, der ihm seine Schlussfolgerung mitteilen wollte, ihm sei wohl der Ruhm zu Kopfe gestiegen, denn anders könne er sich nicht erklären, warum er sich auf einmal nicht mehr melde), rief ihn der Chefredakteur der bedeutendsten Zeitung der Stadt (hinsichtlich der Abonnentenzahl) an.

– Keine Angst, ich will Sie nicht um einen poetischen Beitrag bitten – begann er lachend.

Der Chefredakteur lud ihn zum Mittagessen ein, dabei könne man entspannter plaudern. Sie gingen in ein Luxusrestaurant.

Den Chefredakteur faszinierte vor allem, wie wenig Borrell über den Klatsch in der Szene informiert war. Beim Nachtisch legte er die Karten auf den Tisch: In der Tat wollte er keinen poetischen Beitrag von ihm. Er wollte einen journalistischen Beitrag. Er hatte sich gedacht (und glaubte, damit den Punkt getroffen zu haben), es wäre eine interessante Erfahrung für ihn, wenn er Artikel schriebe. Just in dem Augenblick überrascht, als der Chefredakteur eine Flasche Sekt zur Feier seiner möglichen Mitarbeit bei der Zeitung bestellte, wusste Borrell nichts zu antworten. Er hatte noch nie etwas anderes als Poesie geschrieben. Der von der Zeitung versicherte ihm, seine Dichtung funktioniere nur aus einem Grund: Er habe sich nie einer neuen Möglichkeit verschlossen. Mit einer Kolumne in einer Zeitung könnte er seine Meinung über Politik und Kultur ausdrücken. Zudem, insistierte er, fände er es nicht reizvoll, seinen Kolumnen die gleiche Sorgfalt und Dichte abzuverlangen wie seinen Gedichten? Borrell versuchte eine Widerrede aufzubauen: Er könne nicht so ganz sehen, wie er regelmäßig, einmal in der Woche, schreiben solle.

– Einmal in der Woche? – entgegnete der Chefredakteur.

– Nein, aber nein doch. Einen Artikel täglich.

Er schrieb die Artikel am frühen Nachmittag, gleich nach dem Mittagessen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, möglichst alle Interviews auf den Vormittag zu legen, so hatte er den Nachmittag für die anderen öffentlichen Verpflichtungen frei. Die Artikel nach dem Mittagessen zu schreiben, erwies sich als ärgerlich, denn gewöhnlich war er satt und leicht berauscht und hatte viel mehr Lust auf ein Mittagsschläfchen als darauf zu grübeln, über welches Thema er einen Artikel schreiben könne, den er noch am selben Nachmittag vor der Cocktailparty, dem Empfang, der Präsentation oder der Vernissage abliefern musste, wo man nach seiner Gegenwart verlangte, häufig nicht nur mit der üblichen per Post zugeschickten Einladungskarte, sondern durch einen verpflichtenden Telefonanruf des Ausstellers, Galeristen, Redners oder Künstlers, je nach Art der Veranstaltung. Es ärgerte ihn, die Artikel unter Zeitdruck schreiben zu müssen, denn wie die Mehrzahl der Dichter war er ein Gegner der Improvisation. Die Gedichte aus Die Aktentasche hatte er immer wieder neu geschrieben, über Jahre hinweg, und er feilte noch daran herum, als er die Druckfahnen durchsah. Nun befand er sich in der misslichen Lage, die Artikel in einem knappen Dreiviertelstündchen schreiben zu müssen, ohne genügend Zeit, sie reifen zu lassen und immer wieder neu durchzulesen, um Fehler, Ungenauigkeiten, übertriebene Meinungen, überflüssige Adjektive oder zu kryptische oder zu wenig kryptische Anspielungen aufzuspüren.

In jener Zeit, als Die Aktentasche zur siebten Auflage gelangte, wusste Borrell bereits, dass es bei wirklich jeder Cocktailparty, jedem Empfang, jeder Präsentation und jeder Ausstellungseröffnung zwangsläufig zur Verbrüderung mit irgendeinem Maler kam. Die Bescheideneren baten ihn um die Einführungsrede bei der nächsten Ausstellung. Alle anderen schlugen ihm unweigerlich die Schaffung eines gemeinsamen Werkes vor.

– Ich glaube, es könnte sehr interessant sein, aus der Dialektik unserer beiden Sprachen heraus, dem Wort und dem Bild, Experimente zu machen, etwas Gemeinsames zu schaffen – sagte ihm einmal ein etwas klein geratener Maler, der ihn buchstäblich zwang, sofort mit ihm sein Atelier aufzusuchen und das WERK zu betrachten.

Dann folgten die Vorworte zu den Büchern anderer Schriftsteller, über die er sich auslassen sollte, obwohl er sie im Schnellverfahren kaum diagonal gelesen hatte. Ende Januar baten ihn achtzehn Fastnachtskommissionen aus achtzehn verschiedenen Städten und Dörfern (darunter die Hauptstadt der Nation) um Büttenreden. Unmittelbar danach musste er Vorträge über Themen halten, mit denen er sich nur oberflächlich beschäftigt hatte; er nahm an Podiumsdiskussionen zu Literatur und Politik teil, zu Dichtung und Metrik, zu Literatur und sozialer Lage, zu poetischer und architektonischer Struktur, zu Ästhetik, zu Dichtung im Zeitalter der Raumfahrt, zum Engagement des Literaten, zu Poesie und Ökologie, zu Poesie und Elitedenken, zu Literatur und Libido . . . Er hielt Vorträge in Instituten und Universitäten. Er kannte jeden einzelnen der Literaturprofessoren, die es übers Land verstreut gab, und erklärte (vor flegelhaften Studenten, die gähnend abwechselnd auf die Uhr und an die Decke schauten), was er unter künstlerischem Schaffen, unter Dichtung verstand, an welche Art Leser er beim Schreiben dachte oder nicht dachte, wie ihm ein Gedicht einfiel und ob er Anhänger des freien Verses sei.

Ein halbes Jahr, nachdem er den Preis erhalten hatte, suchte er eine Lücke in seinen Aktivitäten (Artikel, Vorträge, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, Interviews), um sich zum Mittagessen mit Verlegern zu treffen, die neue Bücher von ihm wollten. Zwei von ihnen begehrten gleichzeitig und unabhängig voneinander einen Roman.

– Nicht, dass uns Ihre Dichtung nicht interessiert. Ganz im Gegenteil: Aber ein von Ihnen verfasster Roman wäre ein durchschlagender Erfolg.

Ein anderer bat ihn um einen Erzählband, jetzt, wo diese Gattung wieder geschätzt wurde.

– Außerdem schreiben sie sich leichter, sind nicht so kompliziert. Du brauchst dir da nicht so den Kopf zu zerbrechen wie bei einem Roman, nicht? Und du kannst sie in ganz kurzer Zeit schreiben.

Der Literaturchef des angesehensten Verlages des Landes meinte, wenn er schon nichts Neues habe, so solle er doch die Schubladen durchforsten und eine Auswahl der Gedichte zusammenstellen, die er vor der Aktentasche geschrieben habe.

– Irgendetwas müssen Sie doch irgendwo haben. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Die Aktentasche das Erste war, was Sie geschrieben haben.

Der Literaturchef konnte sich die Ausführungen von Borrell nicht erklären, die besagten, dass Die Aktentasche eine sehr strenge Auswahl sei: Von all seinen Gedichten waren sie die einzigen, die er veröffentlichen konnte und wollte. Der Literaturchef, der seine Empörung unterdrückte, verlangte die Rechnung und fragte Borrell, ob er bereit sei, die Rechnung zu teilen.

Tags darauf saß ein Filmregisseur vor ihm und wollte ein Drehbuch von ihm.

– Meiner Ansicht nach ist deine poetische Empfindsamkeit sehr kinematografisch.

Ein Friseur, der gerade in Mode war, bat ihn, darüber nachzudenken, was sie gemeinsam entwerfen könnten. Die Theaterregisseure wollten Bühnenstücke von ihm.

– Deine Poesie ist bühnenreif.

Auch die Fernsehproduzenten kamen angelaufen.

– Ein Dichter muss den Mut haben, sich mit dem Massenmedium schlechthin auseinanderzusetzen. Das Fernsehen ist die Zukunft, die Dichtung ist tot: Sie stinkt schon. Sich dieser Einsicht zu verweigern, ist schlichtweg feige.

Im Ablauf dieser Arbeitsessen musste Borrell nach neuen Lücken suchen. Um mehr Zeit zu gewinnen, organisierte er die Mittag- und Abendessen dergestalt, dass er oftmals den ersten Gang mit einem Verleger einnahm, den zweiten mit einem Filmregisseur, beim Nachtisch gewährte er ein Interview und den Espresso trank er mit einem Comic-Zeichner, der ihn um Storys für seine Comics bat. Er bekam Angebote für Beiträge bei verschiedenen Rundfunksendern und für Übersetzungen.

– Ein Mann mit Ihrer literarischen Sensibilität ist geradezu ideal, das Werk eines anderen Schriftstellers ohne Verrat zu übersetzen.

Ein Bildhauer wollte mit ihm gemeinsam ein aufeinander bezogenes Werk schaffen. Ein innovativer Tänzer teilte ihm mit, er sei zu dem Ergebnis gekommen, dass sie beide auf ihrem jeweiligen Gebiet innovativ seien und daher ein gemeinsames Arbeiten angebracht wäre.

– Das Video, ein noch praktisch unerschlossenes Gebiet, wo es das meiste noch zu entdecken gilt, ist wie geschaffen für einen Mann wie dich – sagte ihm einer, der von ihm eine Idee für etwas im Bereich Videokunst wollte.

Drei Punkbands baten ihn um Drehbücher für Videoclips. Vier Skinhead-Gruppen und ein Ex-Liedermacher wollten Songtexte. Er brauche sich auch nicht um Reim oder Metrik zu kümmern, versicherten ihm die Skins.

– All das ist out, mein Lieber.

Von all den angebotenen Projekten, die ihm in den folgenden Monaten ins Haus flatterten, konnte er aus Zeitgründen nur zwei abschließen. Das eine war ein Drehbuch für einen Videoclip, das der Regisseur völlig umwarf, weil es ihm zu literarisch war. Das andere war der Auftrag für eine Theateradaption von Il materialismo storico e la filosofia di Benedetto Croce von Antonio Gramsci, mit der er so unzufrieden war, dass er während der Premiere im zweiten Akt schamrot das Theater verließ. Als er nach Hause kam in jener Nacht, schaute er mit einem Auge fassunglos auf den Bücherstapel, der gelesen werden wollte und jeden Tag größer wurde, vor allem jetzt, wo ihm die Verleger Freiexemplare schickten, wohl wissend, eine Rezension von ihm in der Zeitung, für die er schrieb, könnte zu einem Verkauf von gut sieben zusätzlichen Exemplaren führen.

Als ein Jahr später der Veranstalter die Ehre hatte, ihn anlässlich der nächsten Preisverleihung zum Diner einzuladen, ging Die Aktentasche bereits in die dreizehnte Auflage. Borrell erschien es unglaublich, dass bereits ein Jahr vergangen sein sollte. Wie wenig hatte er sich vor zwölf Monaten und einem Tag vorstellen können, dass seine Dichtung in so kurzer Zeit als wertvolles Werk und so weiter anerkannt sein sollte.

Beim nächsten Festessen zur Preisverleihung waren ganz offensichtlich zwei Jahre seit jener glorreichen Nacht vergangen. Der Journalist, der ihn in der damaligen Nacht zum ersten Mal interviewt hatte, begrüßte ihn sehr herzlich. Das Mikro in der Hand fragte er ihn, woran er momentan schrieb.

– Eigentlich an nichts . . . Ich habe Gedanken notiert, aber . . .

– Seit der Aktentasche sind zwei Jahre vergangen . . .

– Ja, gewiss: zwei Jahre. Aber Dichtung entwickelt sich langsam, sie muss reifen . . .

– Es gibt Stimmen, die behaupten, das Schweigen sei der Beweis dafür, dass Die Aktentasche nichts weiter als ein Bluff gewesen ist.

Borrell wurde böse.

– Viele möchten, dass ich schnell irgendetwas veröffentliche, nur um mich zu kritisieren, wenn ich dann einen Band, der nicht ganz vollendet ist, veröffentlicht habe.

Im folgenden Jahr, als sein Triumph schon drei Jahre her war, gab es solch einen Skandal wegen einer angeblichen Bestechung der Jury, dass Borrell ziemlich unbemerkt das Festessen absolvierte. In den folgenden Jahren dachte Borrell mehr als einmal daran, dass dieser ganze Trubel mit den Bitten um Beiträge ein Komplott war, um ihn vom Schreiben abzuhalten. Und vom Lesen. Denn der Stapel mit den Büchern war nicht nur über die ihm vorbehaltene Ecke hinausgewachsen, sondern über den ganzen Tisch, über die in der Nähe stehenden Tische, zwischen die Tische auf den Fußboden und in den Flur hinaus.

Neun Jahre später wurde Die Aktentasche zum sechzehnten Mal gedruckt, und zu weiteren Auflagen kam es nicht. Borrell jedoch war beim Festessen einer jeden Preisverleihung dabei und konnte beobachten, wie unter dem Innovationsschub von Die Aktentasche eine ganz neue Generation von jungen Dichtern heranwuchs, die versuchte, ihn zu imitieren, eine Generation, die nach ein paar Jahren wieder verschwand, verschmäht unter dem wütenden Druck einer Generation von noch jüngeren Dichtern, die Die Aktentasche für eine leere, scheinheilige Hülse, für reinen Bluff hielten. Der Beweis war, dass er nichts weiter geschrieben hatte. Die, die ihn liebten, führten zu seiner Verteidigung an, dass beispielsweise Juan Rulfo und J. D. Salinger bedeutende Autoren waren, obwohl sie nur ein wenig umfangreiches Œuvre vorweisen konnten.

Als er fast siebzig war, fesselte ihn eine Krankheit drei Monate ans Bett und zwang ihn, die vielfachen Arbeiten, die immer noch von ihm gefordert wurden, abzulehnen. Da er endlich Zeit zur Langeweile hatte, schrieb er eine Erzählung über sein Leben. Er gab ihr den Titel Der Raub. Die Krankenschwester, die ihn pflegte, fand die Erzählung auf seinem Nachttisch und steckte sie, auch weil sie auf die Spinnereien dieses Opas neugierig war, in die Tasche und zeigte sie noch in derselben Nacht einem ihrer Liebhaber, einem ewig jungen Versprechen der Erzählkunst, der sie ohne jede Skrupel ein bisschen überarbeitete (der Stil war so altmodisch) und sie in einen Erzählband mit aufnahm, den er gerade veröffentlichte.

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