Читать книгу Hundert Geschichten - Quim Monzo - Страница 34

Ein Kino

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Draußen regnete es.

Es war ein verkommenes Kino, dessen Putz in endgültig verlorenen Zeiten einmal sandfarben gewesen war. An der Fassade hingen verblichene Plakate von Stars, die schon vor Jahrzehnten das Zeitliche gesegnet haben mussten, ihre geschminkten Gesichter waren mit Glittersternchen übersät. Als ich eintrat, wurde noch Werbung gezeigt. Es gab keine Schlange, und die Frau an der Kasse riss auch gleich die Karte ab, eine Personaleinsparung, die andeutete (so als sei es nicht ohnehin ganz und gar offensichtlich), dass es mit diesem Kino bergab ging.

Obwohl das Parkett fast leer war, wurde ich von einem Platzanweiser (der sich gegen seine mehr als lächerliche Entbehrlichkeit immun zeigte) begleitet. Er schlurfte vor mir her über Erdnussschalen, Plastiktüten, Tempotaschentücher, Zeitungspapier und Kondome, die auf dem Boden des Saals einen Teppich bildeten. In dem Moment hätte ich gehen sollen, aber ich tat es nicht. Der Platzanweiser spuckte auf den Boden. Ich wählte einen Platz am Mittelgang, weder zu nah an der Leinwand noch zu weit weg. Die Werbung war zu Ende, und die Lichter gingen kurz an. An den ehemals stoffbezogenen Wänden hingen nur noch karmesinrote Fetzen. Es wurde wieder dunkel, und das Surren des Projektors attackierte auf unerhörte Weise den Saal. Niemand protestierte.

Ein heterosexuelles Pärchen stolperte (lärmend wie eine ganze Armee) herein und ließ sich ausgerechnet in der Reihe direkt hinter mir quietschend in die Sitze fallen. Der Löwe riss sein Maul auf, und hinter mir begannen sie zu plaudern. Beim Vorspann waren sie eine Weile ruhig. Dann tuschelte der Mann seiner Freundin etwas ins Ohr, sie brach in Lachen aus, und der Urheber ihres Gelächters ließ sich von ihr anstecken. Ich drehte mich leicht nach hinten (in solchen Fällen kann eine unumwundene Äußerung, dass man sich gestört fühlt, zu einer unmittelbaren Verhaltensänderung führen) und verzog meinen Mund, um so meinem Ärger deutlich Ausdruck zu verleihen.

Abgesehen von dem Gequietsche der Sitze herrschte für eine Weile Ruhe (ich weiß nicht, ob meine Mimik Erfolg hatte oder ob es nur Zufall war), doch bald darauf hörte ich das Knistern von Zellophan. Sicher war es das Einwickelpapier von einem Bonbon, doch das Geräusch bekam (in dem fast gänzlich leeren Saal) eine absolute Wichtigkeit: Es schien, als sei die Tonspur des Filmes verstummt und als komme das Geraschel des endlosen Zellophans mitten aus den Lautsprechern. Das erste Bonbon war noch nicht ausgewickelt, als die Stimme der Frau sagte: »Willst du eines?«, und das »Ja« des Mannes verschmolz bereits mit dem Auftakt zur neuen Symphonie: Nacheinander wickelten sie sieben Bonbons oder Pralinen aus, was immer es auch war. Dann blieb es still.

Im Film sah man die ganze Zeit öde Landschaften: Panorama, Panorama und noch mal Panorama. Eben jetzt erst begann die Handlung: Der Fremde betrat den Saloon, alle sahen ihn schief an. Er verlangte einen Whiskey, der Kellner stellte ihn miesgelaunt vor ihn hin. Ein Bärtiger mit vertrieften Augen stocherte in einem Zahn herum.

Plötzlich nieste die Frau hinter mir. Und das, was als spontanes Ereignis begann, wurde zu einem lang währenden Rezital (ausgeschmückt mit einem viermaligen Klicken am Verschluss der Geldbörse), das mit dem Schneuzen der Frau zu Ende ging, wobei sie eine beeindruckende Serie von nasalen Winden erzeugte, von der mich der Geruch von geröstetem Mais ablenkte.

Wenn es auf der Welt einen Geruch gibt, den ich nicht ausstehen kann, dann ist das der von geröstetem Mais. Weder rechts noch links von mir futterte irgendjemand Maiskörner, und das Pärchen hinter mir war zu sehr mit dem Auswickeln von Bonbons oder Pralinen beschäftigt, als dass es sich auch noch mit Maiskörnern abgegeben hätte. Doch der Gedanke nahm laut seinen Weg durch meinen Mund:

– Wie kann man nur . . .

Aus der Reihe vor mir (die mir bis dahin leer erschienen war) tauchte das Köpfchen eines Männleins auf, das mich mit unsichtbaren Tigeraugen anschaute:

– Jetzt reicht’s aber langsam mit dem Krach!

Ich setzte an, um zu antworten, dass ich nur der Verursacher des letzten Gemurmels sei und daher völlig unschuldig, was die ganzen Geräusche und Gerüche um uns herum betraf, und er brauche mich deshalb nicht so anzufahren; doch schon nach einem halben Wort drehten sich drei Köpfe, um mich zum Schweigen zu bringen.

Ich stand auf und setzte mich auf der anderen Gangseite zwei oder drei Reihen weiter nach vorne. Jetzt verstand ich nicht mehr, was auf der Leinwand vor sich ging: Vier Kerle, die aussahen wie Gewohnheitsspieler (darunter der Fremde von vorhin) spielten Poker. Anscheinend hatte einer ein Full House: drei Asse und zwei Buben, eine Kombination, die den Fremden merklich überraschte, da er zwei Asse hatte, was bedeutete, dass fünf Asse auf dem Tisch lagen, was angesichts der Tatsache, dass sie nur mit einem Blatt spielten, höchst ungewöhnlich war. Offensichtlich spielte also einer der beiden falsch. Da nun beide jegliche Schuld von sich wiesen und behaupteten, der andere sei schuld, wurde die Affäre mit einem kleinen Duell gelöst, aus dem der Fremde siegreich hervorging, zum großen Ärger der Einheimischen, die die Leiche fortschafften und sogleich einen Ersatzspieler suchten, um das Spiel fortsetzen zu können. Eines der beiden doppelten Asse wurde weggelegt und das Spiel ging weiter. Zum nächsten Krach kam es, als zwei andere Spieler (diesmal beobachtete der Fremde geistesabwesend die Auseinandersetzung), überzeugt von dem guten Spiel, das sie auf der Hand hatten, ihren Einsatz immer weiter erhöhten, bis sie, in der Gewissheit zu gewinnen, alles setzten. Als sie die Karten auf den Tisch legten, hatten beide vier Asse.

Wenn es einige Minuten zuvor wegen eines überzähligen Asses ein Duell gegeben hatte, musste man bei vieren auf ein gegenseitiges Abschlachten gefasst sein. Doch es kam anders: Bevor der Streit überhaupt anfing, hatte bereits einer der potenziellen Angeklagten den anderen erschossen, was ihn auf der Stelle zum Unschuldigen machte. Man suchte nach einem weiteren Ersatzspieler und verlangte ein neues Kartenspiel.

Ich überlegte zum zweiten Mal, ob ich gehen sollte. So als sei die Verkommenheit des Kinos noch nicht genug, fehlte dem Film jeglicher Sinn. Die Musik triefte vor Pathos, die Schauspieler wussten nicht, was sie taten. Nun wurde weiter gepokert: Überall tauchten Asse auf. Sie ließen sich noch einige Male ein neues Blatt bringen, ehe sie schließlich wutentbrannt anfingen, kreuz und quer herumzuballern. Es blieb nur ein Spieler übrig: Der Fremde, der sich nun erhob und in Großaufnahme erschien, so als würde ihn die Tatsache, überlebt zu haben, zu Höherem bestimmen, etwas, an das er nicht einmal selbst glaubte. Zwei Reihen vor mir lachte ein Bursche auf und wickelte sein belegtes Baguette aus einem Zeitungspapier. Mit Thunfisch: Ich konnte es riechen.

Anscheinend war, abgesehen vom Saloonbesitzer, das ganze Dorf bei dem Blutbad umgekommen. Der Fremde lehnte am Tresen, trank und wusste nicht so recht, was er tun sollte (ähnlich wie der Regisseur). Die Szene zog sich minutenlang hin: Der Fremde goss sich einen Schluck nach dem anderen hinter die Binde, so als erwarte er von uns eine Idee, wie es weitergehen solle. Wie würde diese Abfolge von Szenen, eine hirnrissiger als die andere, ausgehen? Es interessierte mich immer weniger. Von der rechten Saalwand fiel eine Kugellampe und zersprang in tausend Stücke. Jemand lachte.

In diesem Moment spürte ich, wie jemand meinen Schenkel berührte. Völlig verblüfft, wusste ich nicht, wie reagieren. Es war das erste Mal, dass jemand versuchte, mich im Kino anzufassen. Ich traute mich nicht, meinen Kopf zu drehen, um zu sehen, wer das heimlich grapschende Individuum war. Als ich mich hingesetzt hatte, war der Platz neben mir frei. War der Jemand männlich oder weiblich (das Gewicht einer Hand sagte mir sehr wenig)?, doch wer auch immer, er oder sie hatte sicher einen verkrüppelten Körper und ein Pickelgesicht. Wahrscheinlich war der Jemand ein Mannweib, ein androgyner Außerirdischer. Ich stellte ihn mir grün vor, den Mund voller Stahlzähne . . . Vielleicht war es ja das Beste, nicht auf das Etwas zu achten, dann würde die Hand auf Grund der Nichtbeachtung genauso still und leise wieder verschwinden, wie sie gekommen war. Ich tat, als würde ich mich auf den Film konzentrieren: Auf der Leinwand tanzte der Fremde mit einem Frauenzimmer, das eine viel zu moderne Frisur trug. Doch das löste das Problem mitnichten: Die Hand bewegte sich weiter schenkelaufwärts. Ich holte tief Luft und drehte meinen Kopf: Es war die Frau von der Kasse, die sich mit meinem Schenkel beschäftigte und dadurch zu einer dreifachen Angestellten des Hauses wurde. Oder handelte sie aus Eigeninitiative? Ein paar Reihen hinter mir krachte es: Ein Sessel war zusammengebrochen, und alle brachen in Lachen aus: Das ganze Publikum und besonders das Opfer, das sich vom Boden erhob und den Staub von den Hosen klopfte. Die Kassiererin lachte auch kurz auf und sagte mir dann ganz leise:

– Erschrick nicht. Gefällt dir der Film? Ich habe ihn so oft gesehen, dass ich ihn auswendig kenne. Weißt du, dass wir heute schließen? Ich habe dich noch nie hier gesehen. Wenn hier jemand Neues herkommt, fällt das sofort auf. Wir sind schon lange unter uns und sehen uns so oft, dass wir nicht merken, wie wir älter werden. Siehst du das Pärchen da? Sie kommen jeden Tag, seit vielen, vielen Jahren, und sitzen immer auf demselben Platz. Gefällt dir nun der Film? Er ist nicht besonders interessant, stimmt’s? Von den Filmen, die wir gezeigt haben (und das waren viele!), gefiel mir einer am besten, den wir im Programm hatten, als wir noch ein Uraufführungskino waren. (Vor vielen Jahren war dies ein Uraufführungskino, nicht, dass du denkst!) Das war wirklich ein schöner Film gewesen. Er hörte genau da auf, wo er begonnen hatte, und der Projektor (der Mann, der den Film zeigte: der Filmvorführer, mein’ ich), der damals vielleicht noch jünger war, tat so, als ob der Film nie aufhörte, er lief drei- oder viermal ohne Unterbrechung. Und Gott sei Dank mussten wir spätnachts aufhören, sonst hätte er tagelang so weitergemacht. Der Hauptdarsteller war ein junger Mann, der seinem Schicksal entfliehen wollte. So als ob man dem, was geschrieben steht, entfliehen könnte! Na ja, ich erinnere mich nicht mehr genau an die Geschichte: Ich weiß nur noch, dass es als Kulisse ein Schattenhaus in den Nebeln gab, alt und ganz baufällig. Es kam auch eine junge Frau vor, aber ich weiß nicht mehr, was für eine Rolle sie spielte. Er floh von zu Hause, glaube ich, aber am Schluss kehrte er zurück, denn überall wo er hinkam, brachte er Zerstörung, egal ob in der U-Bahn oder in einem Ferienhaus am Meer, alles versank gleich in Trümmern. Ich erinnere mich nicht mehr so genau, aber die Lektion scheint klar: Niemand kann seinem Schicksal entgehen: Mmmhh. Willst du los? Bleib: Nachher werden wir diese letzte Vorführung feiern. Jetzt bist du eigentlich einer von uns.

Ich stand auf. Es gibt Abende, an denen man besser zu Hause geblieben wäre. Ich ging, ohne mich umzudrehen: Das Pärchen lachte und sah mich an. Ab und zu fehlte ein Sitz, und die Reihen sahen aus wie kariöse Gebisse. In der letzten Reihe liebte sich ein Paar hemmungslos. Aus der Klotür drangen ohrenbetäubende Schreie. Ein maskierter Dieb griff den Platzanweiser mit einem gigantischen Messer an. Während ich in den Falten des schweren granatroten Samtvorhangs den Ausgang suchte, hörte ich einen lauten Knall: Die Leinwand zerriss schräg von oben rechts nach unten links. Alle brachen in Gelächter aus.

Draußen regnete es nicht mehr. Ich ging schnellen Schrittes. Ich hatte vor irgendetwas Angst: einem unbestimmten Schatten, etwas Unheilvollem, was, dessen war ich sicher, bis Sonnenaufgang dauern würde. Beim Anblick der ersten Morgenstrahlen wäre ich gerettet. Auf dem Weg nach Hause trat ich immer nur auf jede zweite Gehwegplatte. Als ich vor der Haustür stand, merkte ich, dass ich die Schlüssel verloren hatte. Ich hatte sie entweder verloren, oder man hatte sie mir geklaut (vielleicht die Frau an der Kasse?). So, das war es also, wovor ich mich gefürchtet hatte. Doch ein Gefühl in meinem Magen sagte mir, dass mir noch Schlimmeres bevorstand. Ich könnte natürlich die Feuerwehr anrufen, die mir die Tür aufbrechen würde. Oder einen Schlosser. Doch das war nicht die Lösung: Früher oder später musste ich mich stellen. Wenn ich nicht hinginge, würden sie kommen. Der Gedanke, sie anzuzeigen, reizte mich zum Lachen: Auf dem Polizeirevier wären sie der Kommissar, die Polizisten, ein offensichtlich verhafteter Dieb, die Frau an der Kasse als Aufseherin . . . Das Miauen einer Katze ließ mich aufschreien.

Ich machte mich auf den Weg zurück zum Kino. Ich dachte: Wenn ich dort ankomme, werden sie alle auf mich warten und mich mit schwefeligem Gelächter und den klimpernden Schlüsseln empfangen. Ich dachte: Wenn ich dort ankomme, wird das Abrissunternehmen mit dem Abriss des Gebäudes begonnen haben, und weit und breit wird keine dieser finsteren Gestalten zu sehen sein; dann werde ich wissen, dass ich für immer einen fürchterlichen Fluch mit mir herumtragen werde. Doch genau vor der Straßenecke, an der das Kino liegt, sah ich die Schlüssel, meine Schlüssel, auf dem Boden, leuchtend wie Diamanten. Als ich sie aufhob, dachte ich: Jetzt brauche ich nicht mehr hinzugehen. Ich dachte auch: Zu Hause werde ich vor lauter Angst nicht schlafen können. Wenn ich mich beeile, werde ich vorher da sein, und je früher ich da bin, desto schneller ist alles vorbei. Was ist los? Habe ich Angst vor Geistern? Ich bog um die Ecke und rannte los.

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