Читать книгу Übersetzungstheorien - Radegundis Stolze - Страница 12
2.3 Die Sprachinhaltsforschung (WeisgerberWeisgerber)
ОглавлениеDurch verschiedene Sprachen entstehen unterschiedliche Weltansichten, ja aus dem Blickwinkel des Einzelnen sogar unterschiedliche Wirklichkeiten. Als stellvertretend für eine solche Sprachauffassung sind neben HUMBOLDTHumboldt (s. Kap. 2.1) und SCHLEIERMACHERSchleiermacher (s. Kap. 2.2) auch J. Leo WEISGERBERWeisgerber (1899–1985) und BenjaminBenjamin Lee WHORFWhorf (1897–1941) zu nennen. Sehr einleuchtend zeigt z.B. WEISGERBER, wie SpracheSprache die Funktion erfülle, eine Realität zu erschaffen, indem sie beobachtbare faktische Gegebenheiten ordnet.1WeisgerberSprache
WeisgerberWeisgerber verweist auf den Sternenhimmel, der zunächst für den Menschen ein unendliches Gewirr darstellt und erst dann begreifbar wird, wenn der Mensch zwischen den Gestirnen unterscheidet, wenn er Konstellationen wie die einzelnen Sternbilder benennt und damit bestimmt (op. cit. 41971: 25–72). Dabei werden dieselben Gestirne in Asien und im Okzident zu unterschiedlichen Sternbildern geordnet. – Es handelt sich hier um ein schönes Beispiel für den menschlichen Versuch, in ein unüberschaubares Gewirr mittels der SpracheSprache eine Ordnung zu bringen. Dann wird aus dem Chaos des Faktischen ein Kosmos der Ordnung.
Entscheidend ist jeweils die PerspektivePerspektive der Menschen auf die Dinge. „Ein Beispiel für eine solche kulturbedingte und sprachlich vermittelte Sehweise stellt das Wort Unkraut dar. Die Pflanzenwelt wird aufgrund wirtschaftlicher, vielleicht auch ästhetischer (nicht aber biologischer) Interessen in zwei Klassen eingeteilt: in Kulturpflanzen und in Pflanzen ohne wirtschaftlichen Wert“ (KOLLERKoller 1992:162).
WEISGERBERWeisgerber als Hauptvertreter der sogenannten Sprachinhaltsforschung oder Inhaltbezogenen GrammatikGrammatik hat im Anschluss an HUMBOLDTHumboldt die These von der SpracheSprache als geistiger Zwischenwelt, vom „WeltbildWeltbild der MutterspracheMuttersprache“ entworfen. Jede Sprache gilt als ein relativ geschlossenes, gegen andere Sprachen abgegrenztes System. Dabei wird betont, dass sich nicht für jedes Wort einer Sprache in jeder anderen ein genaues Äquivalent finde, sondern dass gewisse Unterschiede auftreten. Schon Arthur SCHOPENHAUER (1788–1860) hatte Beispiele charakteristischer Wörter gesammelt,2Störig die eigentlich unübersetzbar sind:
απαιδευτος, rudis, roh. | ingénieux, sinnreich, clever. |
ορμη, impetus, Andrang. | Geist, esprit, wit. |
μηχανη, Mittel, medium. | witzig, facetus, plaisant. |
seccatore, Quälgeist, importun. | malice, Bosheit, wickedness. |
Als Beweis für die Existenz eines einzelsprachlichen Weltbilds werden angeführt:
U.a. die Schwierigkeiten bei der anderssprachigen Wiedergabe sogenannter charakteristischer Wörter, wie z.B. esprit, patrie, charme; cereals, gentleman, fairness; Sehnsucht, Gemütlichkeit, Weltschmerz, Innerlichkeit, Tüchtigkeit, Gestalt usw.
Die Unterschiede im System der Verwandtschaftsbezeichnungen und Farbskalen, von Naturerscheinungen (Schnee, Wüstenformen) usw. Die unterschiedliche Wahrnehmung und Frequenz der Wörter ergibt sich aus der verschiedenen geographischen Lage.
Die Existenz von Wortfeldern: Ein Einzelwort gewinnt seine inhaltliche Bestimmtheit erst in der Struktur eines ganzen Wortfeldes. So ist mangelhaft in einer viergliedrigen Skala (mangelhaft – genügend – gut – sehr gut) etwas anderes als in einer sechsgliedrigen Skala (ungenügend – mangelhaft – ausreichend – befriedigend – gut – sehr gut). Der Wortschatz einer SpracheSprache ist in solche Wortfelder gegliedert. Einzelne Wörter sind kaum vergleichbar, weil ihr Stellenwert in den einzelsprachlichen Wortfeldern je verschieden ist (vgl. WEISGERBERWeisgerber 1950:68).
Die unterschiedlichen Konnotationsbereiche: der Franzose verbindet mit dem Wort escargot die Vorstellung einer Delikatesse, während der Deutsche bei Schnecke eher an ein unappetitliches schleimiges Lebewesen denkt. Oder: Für die Franzosen ist pain ein knuspriges Weißbrot, für die Deutschen ist Brot häufig ein dunkler Vollkornlaib.
Die zutiefst menschliche Erfahrung von LEID wird in verschiedenen Sprachen mit völlig unterschiedlichen Zeichen benannt, die auch formal nicht aufeinander bezogen werden können:
d. Leid, Kummer, Schmerz
e. sorrow, grief, harm
f. peine, affliction
i. pena, dolore
DenkenDenken und Reden werden also gleichgesetzt. Jene geistige „Zwischenwelt“ zwischen Mensch und Außenwelt hat sprachlichen Charakter, und sie vermittelt den Angehörigen der Sprachgemeinschaft das „WeltbildWeltbild der MutterspracheMuttersprache“. Das Zusammenspiel von kulturbedingter Wirklichkeitserfassung und SprachgebrauchSprachgebrauch zeigt sich besonders deutlich in Bereichen des menschlichen Lebens, wie es schon SCHLEIERMACHERSchleiermacher im Gegensatz zu den äußeren Dingen festgestellt hatte (s. Kap 2.2). Mehrsprachige Vergleiche in diesem Sinne hat Mario WANDRUSZKAWandruszka vorgelegt, dessen Bücher bezeichnende Titel haben, wie zum Beispiel: „Das Leben der Sprachen“3Wandruszka.
WANDRUSZKAWandruszka unterscheidet durch den Vergleich vorliegender Übersetzungen für Gefühlsbezeichnungen, wie Hunger, Angst, Schmerz, Lust, Freude, Glück usw., wie diese Gefühle in den verschiedenen SprachenSprache ausgedrückt werden:
„Für die Römer war anxius, später anxiosus ‘angsterfüllt, beunruhigt’. Im Spanischen, im Italienischen aber kann ansioso, im Englischen anxious bald ‘angstvoll’, bald ‘begierig’ sein. (…) Diese Wanderung des Wortes von ‘angstvoll’ bis zu ‘begierig’, – und oft zu einem gesellschaftlich formelhaften, liebenswürdig bemühten ‘begierig’, ‘bestrebt’ –, bezeigt uns die DynamikDynamik des menschlichen Sprechtriebs, des spontanen Denkens in Metaphern und Metonymien, des impulsiven Sprechens und Gesprächs, die von SpracheSprache zu Sprache zu anderen Ergebnissen geführt haben. So kann anxiety, weit entfernt von jeder Beklemmungsangst, die Sorge, das Bemühen sein. Im Italienischen aber bedeutet erst recht ansia und ansietà, im Spanischen ansia und ansiedad bald Beklemmung, Angst, bald Unruhe, Ungeduld, bald Begierde, Sehnsucht!“ (WANDRUSZKAWandruszka 1984:44/45).