Читать книгу Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August - Страница 15

Kapitel 9

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Nach einigen Tagen zu dritt in der Zelle, krachten eines Nachmittags wieder mal Schloss und Riegel und durch die aufgesperrte Türe trat mit seinem Bündel, das er an sich gepresst hielt, ein Neuzugang: Ein relativ großer, blasser, dicklicher Mann in mittleren Jahren, der mit einer weiten Stirnglatze und leichten Hängebacken älter aussah, als er es möglicherweise wirklich war. Er schwitzte, sein rundes Gesicht glänzte feucht und er wuchtete sein Bündel scheppernd auf das obere freie Bett und wandte sich dann den anderen in der Zelle zu: „Lipka“, sagte er, „Franz Lipka“, und hielt den dreien nacheinander seine leicht schweißige Hand hin, eine kleine, weiße leicht fettgepolsterte Hand.

Eine Frauenhand, dachte Sebastian als er sie in seiner Hand fühlte und seinen Namen dazu nannte.

Dann sah der Neue, Franz Lipka, sich um, wischte sich mit dem weißen Handrücken über eine weite, feuchte, leicht gerötete Stirn und beäugte misstrauisch den Kübel im rostigen Gestell in der Ecke neben der Tür.

„Was haste denn mitgebracht?“, ließ schließlich der West-Berliner Journalist sich hören. Alle drei standen noch in der Nähe des Fensters und Lipka vor der Tür, neben Kübel und Heizungskörper.

„Was denn mitgebracht?“, fragte er, guckte dazu unsicher und zwinkerte etwas.

„Na was sie dir aufgebrummt haben, wie viele Jahre?“

„Zwölf“, sagte er nach kurzem Zögern und das klang ein wenig abweisend.

„Na ja, das geht ja schon“, erklärte der Journalist aus West-Berlin.

Dann konnte Lipka erst mal in Ruhe sein Bett machen, das hieß lediglich die schmierige Decke am Fußende auf dem bucklig gestopften Strohsack zusammen zu legen. Laken und Kopfkissen gab es ja nicht. Dann galt es noch Schüssel, Becher, Löffel, Zahnbürste und Seife ins Regalfach zu räumen.

Schließlich wurde ihm gesagt, er möge seine Botten ausziehen, das poltere sonst auf dem Dielenboden zu sehr.

Als sie am nächsten Tag von der Freistunde zurück kamen, winkte der Stationskalfaktor den Journalisten und Sebastian, bevor sie eingeschlossen wurden, eilig beiseite.

„Euer Neuzugang“, sagte er dann und wies mit einer Kopfbewegung auf den großen dicklichen Mann, der mit hängenden Armen wartend vor der Zellentür stand, „war Oberstaatsanwalt am Obersten Gericht der DDR in Berlin. 12 Jahre wegen Vergehens am Volkseigentum oder so ähnlich. Kein Politischer. Hat sich nach einer Wohnungsdurchsuchung ’ne beschlagnahmte wertvolle Briefmarkensammlung unter ’n Nagel gerissen und das fanden seine Genossen wohl gar nicht so schön.“

„Und uns hat er gestern auf Nachfrage gesagt, er sei Magistratsangestellter gewesen. Was wirklich dahinter steckt …?“ Sebastian hob die Schultern.

„Na das kann ja noch spannend bei euch werden“, sagte der Kalfaktor und huschte davon, als der Schließer sich auch ihrer Zelle näherte.

Das ist ja ’n Ding, überlegte Sebastian, betrat seine Zelle zusammen mit diesem Lipka, dem vorgeblichen Berliner Magistratsangestellten und betrachtete sich den mit einem kurzen Blick von der Seite. Dieses große ungelenke Dickerchen, ein leibhaftiger Oberstaatsanwalt des Obersten Gerichts der DDR? Und jetzt sitzt der Kerl selbst hier im Knast? Das ist richtig komisch. Eben bin ich noch von solchen Genossen als Kriegstreiber verurteilt worden, und nun hockt so einer in meiner Zelle … Lipka wurde schließlich gefragt, was für ein Magistratsangestellter er denn gewesen sei?

„Gerichtsangestellter“, sagte er.

„Gericht?“, fragten die in der Zelle. Was für ein Gericht und was er da gemacht hätte?

Aus den grinsenden Gesichtern schloss Lipka, dass alle Bescheid wussten und ein Versteckspiel ihn nur lächerlich würde aussehen lassen. Doch die würden ihn schon nicht zerreißen und so sagte er lapidar: „Staatsanwalt. Ich war Staatsanwalt.“

„Oberstaatsanwalt“, sagte der West-Berliner Journalist, „das ist bekannt.“ Dann stand er auf und sah herab auf den Franz Lipka, den dicklichen Mann mit den Hängebacken, der auf einem Hocker in der Ecke saß, in dieser schäbigen zu engen Uniform mit zu kurzen Ärmeln. „Also Oberstaatsanwalt warst du“, sagte er, „am Obersten Gericht der DDR.“

Lipka nickte.

„Schlimm genug! Wie viel Todesstrafen für Politische hast du denn beantragt?“

„Für Politische war ich gar nicht zuständig“, beeilte Lipka sich zu versichern.

„Aber politische Häftlinge gibt’s bei euch offiziell doch gar nicht. Für euch sind wir alle hier, „und er fuhr dazu mit der Hand durch die Zelle, „ausnahmslos Kriminelle.“

Lipka schüttelte den Kopf. „Ich war auf Wirtschaftsstraftaten spezialisiert“, sagte er.

„Auch da ist ja vieles politisch“, konterte der Journalist. „Ich denke nur an die Aktion ‚Ungeziefer‘, so hießen bei euch doch die Hotelbesitzer an der Ostsee, Ungeziefer, das ausgetilgt gehört. Menschen die ihr mit miesen Steuertricks kriminalisiert habt, um sie zu enteignen und verschwinden zu lassen. Hast du dabei mitgemacht, warst du beteiligt?“

Lipka schüttelte energisch verneinend den Kopf. „Damit war das Oberste Gericht nicht befasst“, sagte er. „Dafür war ausschließlich das Bezirksgericht Rostock zuständig.“

„Wenn’s darauf ankommt seid ihr alle für nichts zuständig gewesen. Das war auch schon vor fünfundvierzig so, alle gehorchten nur Anordnungen und Befehlen. Du doch auch“, wandte der Journalist sich an den Staatsanwalt, „wenn nicht unter Hitler, dann jedenfalls unterm Spitzbart.“

Der schien sich vom ersten Erschrecken recht rasch erholt zu haben. „Natürlich gab’s Gesetze und Anordnungen wie in jedem Staat.“

„Die gab’s bei Hitler auch“, konterte der Journalist.

„Die DDR betreibt im Gegensatz zur BRD eine durch und durch antifaschistische Politik“, entgegnete Lipka mit Empörung in der Stimme.

„Wieso im Gegensatz zur Bundesrepublik?“ Der Journalist war dabei die wenigen Schritte im schmalen Gang zwischen den Betten bereits einige Male hin und her gelaufen, blieb dann aber mit Absicht ganz dicht vor Franz Lipka stehen, der dort auf seinem Hocker saß und blickte auf ihn hinab.

„Na die ganzen alten Nazis in Behörden und Ministerien der BRD“, antwortete der, „wie zum Beispiel der Globke …“

Der West-Berliner Journalist lachte. „Also wenn euch nichts weiter einfällt, dann kommt ihr immer mit dem Globke. Natürlich gibt es in dieser Hinsicht auch einige dunkle Flecken in der Bundesrepublik, Das ist aber so, wenn man nicht im Paradies lebt, wie ihr hier in euerem Arbeiter- und Bauernparadies“, sagte er grinsend. „Die einfache Erklärung aber ist“, fuhr er fort, „alle Spezialisten, vor allem die in den diversen Verwaltungen, waren seinerzeit entweder emigriert, saßen in der Kriegsgefangenschaft oder waren eben mehr oder weniger exponiert in der NSDAP gewesen. Zum Aufbau neuer staatlicher Strukturen wurden halt möglichst schnell Fachleute gebraucht und die Auswahl war nicht riesengroß. Also wenn diese Leute nicht allzu stark belastet waren, musste man sich eben ihrer bedienen, auch in Wirtschaft und Industrie. Daraus wurde kein Hehl gemacht, im Gegensatz zur DDR …“

„Na na na“, empörte der einstige Staatsanwalt sich und richtete sich dazu auf seinem Hocker gerade auf, „das sind unhaltbare Unterstellungen.“

Der Journalist lächelte. „Na ja, die Antifaschismuskeule … aber hier gibt’s doch überall auch alte Nazis, das ist nicht zu bestreiten, nur werden die eben verheimlicht. Und eure Planwirtschaft, also da kann doch jeder Trottel mitmischen. Das mutiert zum bloßen Glasperlenspiel und hat mit der Realität kaum noch zu tun.“

Mit seinen Bemerkungen hatte der Journalist aus West-Berlin sich schon recht weit aus dem Fenster gelehnt. Sebastian und Totila wechselten miteinander fragende Blicke. Was war mit diesem Oberstaatsanwalt, der sich immer noch als Genosse gerierte. Sebastian versuchte sich in dessen Lage zu versetzen: Da fällt ein Oberstaatsanwalt, also ein in weit herausgehobener Stellung am Obersten Gericht der DDR agierender Genosse, wegen eines kriminellen Vergehens ganz tief hinab in eine Zuchthauszelle voller politischer Gegner, also Leuten, deren Bestrafung er einst im Namen des Volkes gefordert hatte. Rasch begriff er dann aber nach einem kurzen Schock, dass ihm hier von geknebelten Gegnern keine Gefahr drohen würde. Die gezielten Provokationen dieses ‚Westberliner Zeitungsschmierers‘ allerdings drängten ihn in eine politische Ecke, aus der er gerade ganz tief gefallen war. Peinlichkeit kannte er nicht. Solche ihm ziemlich unangenehmen Zellengenossen aber würden nun wohl auch künftig sein täglicher Umgang sein, ein Umgang, den er auf alle Fälle aber würde akzeptieren müssen, wofür er schon sorgen wollte. Und so legte sich dieser Lipka bereits ganz früh eine Haltung zurecht, mit der er bis zu einer Befreiung durch befreundete Genossen, woran er fest glaubte, zu überdauern hoffte. Eine Gemeinsamkeit mit diesen Verbrechern hier würde es für ihn jedenfalls nicht geben.

Dieser einstige Oberstaatsanwalt hatte seine Genossen und damit zugleich den Staat und das Volk bestohlen und so zumindest intern das Ansehen eines Staates beschädigt, als dessen Anwalt er stets aufgetreten war. Die DDR-Bewohner draußen erfuhren von solchem Umgang der Genossen unter sich natürlich nichts.

Was aber dieser Westberliner da sagte, diese Gleichsetzung der antifaschistischen Arbeiter und Bauernmacht mit dem Faschismus selbst, das hieß Verächtlichmachung, meinte Lipka, war Boykotthetze und Staatsverleumdung … Unsicherheit und Furcht, die ihn ganz zu Anfang in dieser Zelle noch beunruhigt hatten, waren längst gewichen. Schließlich lebte er noch immer in der DDR, auch hier im Zuchthaus. So dürfe man über diesen Staat jedenfalls nicht reden, der immer noch sein Staat sei, sagte er sich. Doch eine andere Wahl hatte er ja längst nicht mehr. Eine Erkenntnis, die er möglichst beiseite schob.

„Du als früherer Staatsanwalt“, ließ der Journalist sich wieder hören, „was hast du denn nun wirklich ausgefressen, dass deine Genossen dir zwölf Jahre übergebraten haben?“

„Darüber rede ich nicht. Das geht nur mich was an. Außerdem“, erklärte Lipka, „werde ich nicht lange hier bleiben.“

„Wie soll das gehen? Deine Revision hatte keinen Erfolg.“

Lipka winkte ab. „Ich habe auch Freunde an den richtigen Stellen …“ „Rausholen könnten die dich bloß, wenn du unschuldig wärst“, unterbrach der Journalist den einstigen Staatsanwalt. „Deine Strafsache ist ja nichts Politisches wie wir gehört haben. Und wenn du schuldig bist, aber bald wieder rauskommen würdest, durch einflussreiche Genossen wie du sagst, dann wäre das schon Korruption und die gibt’s ja, das ist bestimmt deine feste Meinung, in der DDR nicht.“

Lipka schüttelte den Kopf. „Es gibt da übergeordnete Prinzipien“, erklärte er, „da ist das kein Problem.“

„Na ja, auch das sind Schwarze Kassen“, gab der Journalist zu bedenken, „und ob sie die für dich anzapfen?“ Er hob die Schultern und schüttelte den Kopf.

„Kommt wohl darauf an“, sagte er, „wie viel du weißt vom Dreck an manchen Stecken. Doch nur als Oberstaatsanwalt und sei’s am Obersten Gericht, glaube ich, bist du nicht wichtig genug. Ich weiß es natürlich nicht.“ Achselzuckend wandte er sich ab und trat zum Fenster, „aber ich sehe das so“, fügte er noch hinzu.

„Du wartest auf Freunde wie wir auf eine Amnestie“, wandte Totila sich an den einstigen Oberstaatsanwalt, „aber kommen wird beides nicht.“

„Unsinn“, empörte Lipka sich. „Ich habe Freunde, durchaus einflussreiche Freunde. Und einige sind mir noch was schuldig. Ich warte jedenfalls nicht auf eine Amnestie.“

Auch er wurde eines Tages aus der Zelle verlegt.

„Sollen auch andere noch ihren Spaß an dem haben“, kommentierte der Journalist diese Verlegung.

Als eine positive Besonderheit erwies es sich, dass die Ausscheidungen von nur drei Leuten den Kübel längst nicht mehr so randvoll werden ließen. Dennoch musste die Prozedur: alle schnell noch auf den Kübel früh am Morgen und abends der Reihe nach hintereinander, abgestimmt erfolgen, denn jedes Mal vor der Freistunde und vor dem Einschluss am Abend, krachten immer sehr rasch die Schlösser und Riegel der Türen hintereinander den Gang hinauf: „Dalli dalli!“ Kübel raus, Kübel rein.

Nach Wochen eines eher gemischten Wetters war es draußen noch einmal richtig heiß geworden, der ewig gleiche Ablauf Tag für Tag … mindestens dreißig Grad schätzten die Gefangenen und das wirkte sich vor allem unter’m Flachdach in der obersten Station, auf das die Sonne brannte, verheerend aus. Die wieder einmal neueste Anordnung lautete: Es sei bei Arreststrafe verboten die Jacken aufzuknöpfen, geschweige denn sich ihrer zu entledigen und die Fensterklappen zu öffnen. Das erwies sich in den überbelegten Zellen, zumal mit den Chlor und Urin ausdünstenden Kübeln in der Ecke als Katastrophe, als eine abgefeimte Art von Folter, meinten die Gefangenen.

Die Minderheit der Kriminellen gab den Politischen die Schuld an diesen drastischen Auflagen. Die Zelleninsassen drängten sich dann abwechselnd gegen die Türspalten, um vom Gang her die dort vergleichsweise frischere Luft zu atmen.

Und immer wieder mal klapperte der Deckel des Spions draußen an der Tür.

Jedem war natürlich klar, dass dort Schließer wieder mal auf der Jagd nach Arrestkandidaten waren. Sinnlos, sich wegen so einer Schikane zwei Wochen in den Arrest bei Wasser und Brot schicken zu lassen. Die machten sich wahrscheinlich auch wieder mal nur einen Spaß daraus, etwa mit Wetten: Wer erwischt die meisten. So ähnlich dachten sicherlich viele der Gefangenen und so blieb eine nennenswerte Jagdstrecke wohl aus. Von den Kalfaktoren jedenfalls war nach dieser spontanen Aktion der Schließer nichts von Arrestierungserfolgen zu hören. Als nach etwa acht Tagen die Temperaturen draußen etwas nachließen, durften Jacken aufgeknöpft und Fensterklappen wieder geöffnet werden.

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