Читать книгу Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August - Страница 9
Kapitel 3
ОглавлениеAls am nächsten Morgen Sebastian als Neuer dran war nach der Zählung und vor der Frühstücksausgabe den randvollen Kübel vor die Tür auf den Gang zu stellen, stand er daher plötzlich dem Wilhelm Hankel aus Hohenleipisch gegenüber, mit dem er sich in der Spreestraße für einige Tage eine Zelle hatte teilen müssen. Beide sahen sich verblüfft an.
Hankel, ein kleiner Fuhrunternehmer Mitte vierzig, mit Frau und fünfzehnjähriger Tochter, der im wesentlichen Stückgut im Auftrag einiger weniger Kleinunternehmer mit Pferd und Wagen zum Bahnhof und zurück transportierte, sowie nebenbei Umzüge abwickelte oder sein geschmücktes Gespann für Vatertagsausflüge, aber auch zum 1.Mai-Umzug, vermietete.
„Was machst du denn hier?“, fragte Sebastian immer noch erstaunt. „Ich hätte gewettet du bist längst zu Hause.“
Hankel grinste nur. „Zwölf Jahre“, sagte er, „enteignet, alles weg und die Familie aus dem Haus gejagt. Bin jetzt ’n armer Mann …“ Dann kam aber auch schon der Wachtmeister und reden auf dem Gang war strengstens untersagt. „Bis nachher“, sagte Hankel noch, ehe er sich in seine Zelle verzog.
Auch Sebastian trat eilig in die seine zurück.
„Nee“, sagte er dann kopfschüttelnd, „unglaublich! Das ist ja ’n Ding. Ich dachte zuerst wirklich ich seh’ nicht richtig.“ Und wieder sah er zu Boden und schüttelte den Kopf. „Der Hankel, Wilhelm Hankel hier neben uns“, und er wies rechter Hand auf die Zellenwand. „Ein kleiner Fuhrunternehmer aus Hohenleipisch mit einem Pferd. Das ist einer, den ich aus der Spreestraße kenne.
Zwölf Jahre! Und ich glaubte den längst zu Hause.“ Dann lief Sebastian ein paar Mal die wenigen Schritte zwischen den Betten auf und ab und ließ sich schließlich auf einen Hocker am Tisch fallen. „Also ich weiß“, sagte er dann, „ich weiß, wir sind ganz bewusst gegen diesen Staat hier vorgegangen … dass wir verraten wurden ist wieder eine andere Sache. Aber dieser Wilhelm Hankel, der hat ja nie auch nur daran gedacht sich in irgendeiner Form aufzulehnen.
Und jetzt zwölf Jahre und die Familie aus dem Haus gejagt. Das verstehe wer will …“
Klaus, der Graumelierte, lachte kurz. „Du sagst von dir, du hättest bewusst gehandelt, dann müsstest du aber deinen Gegner auch kennen. Die Verblüffung über das Geschehen hinsichtlich dieses Hankel sagt jedoch, dass du das nicht verstehst. Ich meine dieses sozialistisch-kommunistische System. Dein Zellengenosse aus der Spreestraße, der kleine selbständige Fuhrunternehmer, war in der angestrebten Gesellschaftsordnung ein gerade noch geduldetes Ungeziefer, um hier mal deren eigenen Wortschatz zu verwenden, also ein in der Wolle gefärbter Kleinbürger. Wenn man die los werden kann, dann nimmt man halt jede sich bietende Gelegenheit wahr.“
„Du hast sicherlich Recht“, sagte Sebastian, „Nicht die angebliche Straftat bestimmt dieses verrückte Urteil, sondern Wilhelm Hankel selbst ist es, eine bürgerliche Existenz, ein Kleinunternehmer, ein Klassenfeind.“
„Ja, ganz richtig.“ Der Graumelierte nickte zustimmend. „Das ist aber nicht immer leicht zu erkennen“, fügte er hinzu, „eine Menge Ausnahmen verwirren das Bild, denn man braucht vielerorts diese selbständigen Existenzen ja noch.“
„Aber zwölf Jahre für Wilhelm Hankel? Ich hätte jede Wette abgeschlossen“, erklärte Sebastian, „dass der sehr bald wieder draußen sein würde. Damit hatte ich ihn zu trösten versucht. Höchstens ein paar Monate, hatte ich ihm gesagt, damit die Untersuchungshaft gerechtfertigt wird.“
„Es ist schon erstaunlich“, reagierte Günter, der Rundgesichtige mit der Halbglatze, „dass man immer wieder sprachlos ist, über das, was die so anrichten.“
„Die schneiden sich doch dauernd ins eigene Fleisch“, warf Totila ein.
„Ich denke nicht“, erklärte Klaus, „, dass dein Hankel Fleisch von ihrem Fleische ist, indem der nämlich persönlich verantwortete Arbeit leistete, damit für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie selbst aufkam, also selbständig war. Dann passt so einer eben nicht ins kollektivistische Konzept und ist unerwünscht. Aber wie ich schon sagte“, wandte er sich an Sebastian, „man braucht solche Menschen eben noch, wenn auch nur für eine Übergangszeit wie es in der Partei unter der Hand heißt. Dein Hankel war offensichtlich bereits verzichtbar.“
„Ja schön und gut“, mischte wieder Günter sich ein, „aber inzwischen sind wir schon neugierig, wer denn nun dieser Wilhelm Hankel aus der Nebenzelle ist, den du hier dauernd erwähnst. Was war denn dem so Schlimmes geschehen, wenn er doch nichts getan hat …“
„Geschehen ist richtig“, sagte Sebastian. „Ihm war was geschehen und nicht nur ihm. Ich hatte nach seinen ersten Erzählungen damals, also weshalb er dort in der Spreestraße saß, auch nicht verstehen können, wieso ihn eine Kneipenzeckerei, von Keilerei konnte keine Rede sein, mit drei Rotarmisten, in die Cottbusser Stasizentrale bringen konnte. Ich begriff erst gar nicht was die von ihm gewollt hatten, was sie ihm vorwarfen.“
„Na dann erzähl’s doch mal, vielleicht begreifen wir’s“, forderte der Graumelierte.
Sebastian stand wieder am Fenster und blickte von dort in die Zelle zurück.
„Ich wollte doch nur klar machen“, sagte er, „dass das Ganze schwer zu verstehen ist.“
„Dann fang’ schon an“, sagte wieder Klaus, der auf einem Hocker saß und seinen Ellenbogen auf der Tischkante abstützte, „wir sind ja nicht dumm, vielleicht versteh’n wir’s sogar.“
„Von Dummheit hat niemand was gesagt“, konterte Sebastian grinsend. „Es geschah auch nicht in Berlin“, sagte er dann, „sondern in Hohenleipisch, einem Landstädtchen. Hier in der Gegend kennt das vielleicht noch mancher, aber sonst? Also ein Sonnabendabend im Spätherbst.Eine Kneipe in der Nähe einer sowjetischen Kaserne mit Munitionslager, das es auch bei Hitler schon gab.
Hankel und andere, vor allem jüngere Stammgäste, bevölkerten die Gaststube und einige wie eben auch Hankel, saßen beim Wochenendskat, als drei Rotarmisten, von der Bevölkerung Muschiks genannt, das Lokal betraten. Im Prinzip nichts besonderes, der Wirt und auch die Gäste kannten das. Die Russen waren von Kameraden aus der Kaserne geschickt worden, um heimlich Schnaps zu besorgen. Die Muschiks durften die Kaserne ja nie verlassen und schon gar nicht um Schnaps zu kaufen. Das wusste ja jeder, natürlich auch der Wirt. Der aber drückte stets ein Auge zu. Keiner hatte was dagegen. Aber diesmal hatten die Muschiks offensichtlich schon in der Kaserne einiges über den Durst getrunken. Und so bestellten sie auch gleich an der Theke „Schto Gramm“, die sie unverzüglich in sich hineinschütteten und das nicht nur einmal. Dem Wirt schwante wohl schon Ungemach. Doch normalerweise, hatte Hankel erzählt, spielte sich das nie so ab wie an diesem Abend. Und so weigerte der Wirt sich schließlich den Russen weiterhin Schnaps auszuschenken. Das ärgerte die wie zu erwarten und sie wurden aggressiv, beschimpften den Wirt.“
„Und wie das so ist“, sagte Sebastian, „jetzt fühlten die Deutschen sich beleidigt.
Ihr Wirt sollte ein Faschist sein? Das ginge denn wohl doch zu weit. Einer der deutschen Gäste“, erzählte Sebastian die Geschichte des Wilhelm Hankel weiter, „ein junger Bursche, sei vor zur Theke gegangen und habe auf die Russen eingeredet und begonnen sie langsam auf den Ausgang hin abzudrängen. Plötzlich habe einer der Iwans ein Messer gezogen und damit dem Jungen das Jackett über dem Rücken aufgeschlitzt. Gleich darauf habe der Wirt den augenblicklichen Feierabend verkündet. Die Gäste sollten das Lokal verlassen: Die Russen mit der von ihnen erstandenen Schnapsflasche vorne raus, durch die Tür des Lokals und die Deutschen nach hinten über den Hof auf die Straße.
Noch auf dem Hof hatten sie sich, in Erwartung der Russen auf der Straße, mit Zaunlatten ausgerüstet.
Die drei Iwans, inzwischen ebenso bewaffnet, hatten sich dort im Dunkeln tatsächlich auf die Lauer gelegt, dann nach kurzem Gefecht sich aber zur Flucht in verschiedene Richtungen entschlossen.
Der Schlachtenlärm mit Ruf und Zuruf hatte Dorfbewohner an die Fenster gelockt. Überall, hatte Hankel erzählt, überall sei dort Licht angegangen. Sehr bald habe sich dann aber auch alles in der Dunkelheit verlaufen. Als Hankel sich in Begleitung eines der jungen Burschen, wie er erzählt hatte, seinem Haus genähert habe und am Hoftor des Nachbarn einen der Russen wie einen nassen Sack habe hängen gesehen, der wohl nicht mehr die Kraft aufgebracht hatte sich über das Tor zu retten, konnte er sich’s, wie er reuig sagte, nicht verkneifen dem mit der Zaunlatte eins über den Hintern zu ziehen. Als ich damals einwarf, dass der das verdient habe, zuckte der Hankel regelrecht erschreckt zusammen.
Mehr habe er ja nicht getan, jammerte er. Überhaupt sei das auch alles gewesen … Davon waren an diesem Abend sowohl Hankel, als auch die anderen mehrheitlich jüngeren Gäste des Lokals, überzeugt.
Am nächsten Morgen schon wurden sie jedoch eines anderen belehrt, nämlich ganz früh aus den Betten geklingelt und aus dem Sonntagsschlaf getrommelt.
Wie Wilhelm Hankel erzählte, sei er noch halb schlafend im Bett hochgefahren wie auch seine Frau, verwundert darüber, was denn am Sonntag jemand so früh von ihnen wolle. Der Lärm, der entsteht, wenn Gewehrkolben gegen das Hoftor geschlagen werden, trieb Wilhelm Hankel dann doch aus dem Bett. Als er, wie er den Schrecken schilderte, nur eine Hose übers Nachthemd gezogen, das Tor zum Hof geöffnet hatte und dann davor Rotarmisten mit Karabinern und Maschinenpistolen habe stehen sehen, da sei ihm gleich ziemlich schlecht geworden. Auf die Frage eines Offiziers, ob er Wilchelm Chankel sei, habe er nur nicken können, um sich danach gleich an einem Torpfeiler zu übergeben.
„Du anziechen“, habe der Offizier gesagt, Hankel dabei von oben bis unten gemustert und mit der Hand über den Hof auf die Haustür gewiesen: „Nu dawai!“
Der Offizier und drei weitere Kameraden mit Kalaschnikows im Anschlag folgten Wilhelm Hankel ins Haus.
Dort hatte auch seine Frau sich einen Morgenmantel übergeworfen und dabei am ganzen Körper gezittert.
Er sei gleich ins Schlafzimmer gegangen und einer der Russen sei ihm gefolgt, Er wisse nicht was die von ihm wollten, habe er seiner Frau noch sagen können.
Ein Missverständnis! Er sei sicher bald wieder zurück.
Draußen habe ein Militärlaster geparkt.“Nu einsteigen“, hätten die Rotarmisten ihn aufgefordert und auf die Ladefläche unter einer Plane gewiesen. Als er sich dort hinauf gehangelt habe, sei er zu seiner Überraschung auf den Malermeister Arno Fleischer gestoßen, der sich ins kurze Gefecht im Dunkeln auf der Straße eingemischt hatte, als er mit dem Fahrrad, etwas angeschickert, ganz zufällig von einem Fußballspiel in der näheren Umgebung zurückgekommen war.
„Was ist eigentlich los?“, habe der Malermeister sich ratlos gezeigt. „Mit den Iwans hatten wir doch weiter nichts. Ich konnte die im Dunkeln nicht mal richtig erkennen.“
„Na ja, Schnaps holen. Die waren doch wie immer heimlich ausgebüchst“, hatte Hankel ihn aufgeklärt. „Woher wissen die in der Kaserne denn davon …?“
Dann sprangen auch schon zwei der Rotarmisten mit auf die Ladefläche und der Laster fuhr los.
Sie hätten natürlich ziemlichen Schiss gehabt, hatte Hankel erzählt, zumal unterwegs auch die jungen Burschen noch eingesammelt worden seien und keiner gewusst habe, was das sollte. Der Jüngste sei gerade mal siebzehn gewesen.
Alle zusammen seien dann in der russischen Kaserne gelandet, dort einzeln weggesperrt und auch einzeln verhört worden. „Bei den Verhören“, sagte Sebastian, „hatte Hankel erzählt“, habe er erst gar nicht verstehen können, was die von ihm gewollt hatten. Immer wieder die Frage: „Wo ist sowjetischer Soldat?“ Was hätte er antworten sollen? Ihm sei dann nur die Gegenfrage eingefallen: „Welcher Soldat?“ Daraufhin hätte es Schläge gegeben, wie Hankel berichtete und immer wieder die gleiche Frage. Das sei dann ständig hin und her gegangen. Irgendwie sei ein Russe abhanden gekommen. Das hätte man aus den wiederholten Fragen schließen können. Die glaubten, wir verheimlichten was.
Aber wie die darauf gekommen seien, dass wir über den Verbleib des vermissten Muschiks etwas haben wissen sollen, das sei ihm zuerst schleierhaft gewesen.
Doch schließlich sei ihm allmählich gedämmert und den anderen Festgenommenen vermutlich auch, dass die einen Verdacht hegten, der bei den Verhören von den Russen noch nicht ausgesprochen worden war. Ihm sei allmählich klar geworden, habe Hankel gemeint, dass der Kommandant, ein sowjetischer Oberst, geglaubt habe, der verschwundene Rotarmist sei ermordet worden und es handele sich dabei um einen Racheakt.
Nicht ganz ohne Grund, meinte Hankel. Dazu müsse man wissen, dass das Frühjahr 1945 in Hohenleipisch noch jedem in Erinnerung geblieben war. Die Russen waren damals an einem Spätnachmittag in den zuvor von Deutschen verteidigten Ort eingerückt und das übliche Plündern und Vergewaltigen habe eingesetzt, als am ganz frühen Morgen des nächsten Tages eine SS-Panzerbrigade ‚Frundsberg‘ überraschend für die Russen in Hohenleipisch eingerückt sei. Die Russen hätten damals, wie Hankel erzählte, ziemlich aufgescheucht und so schnell sie konnten den Ort verlassen. Volkssturmangehörige, ganz junge Kerle und ganz alte Männer halfen noch die gefangenen Rotarmisten zu entwaffnen. Die sowjetischen Kampftruppen hätten sich erst einmal weit zurückgezogen. Vor der zu erwartenden Rache der Russen habe der deutsche Brigadekommandeur aber noch gewarnt, als er mit seinen Panzern wieder abgezogen sei. Der Volkssturmkommandant und einige Stellvertreter hätten sich den abrückenden Deutschen angeschlossen.
Als die Russen dann zurückgekehrt seien, hätten sie eiligst alle männlichen Deutschen von vierzehn, fünfzehn Jahren bis ins höchste Greisenalter zusammengetrieben und auf dem Marktplatz erschossen. Außerdem sei noch eine Reihe Bauerngehöfte in Brand gesetzt worden. Ein deutscher Racheakt für das Geschehen damals, sei also nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen gewesen, meinte auch Hankel dazu, obwohl er genau gewusst habe, dass keinem der drei Muschiks etwas angetan worden sei, außer dem Schlag mit der Zaunlatte aufs Hinterteil des einen am Hoftor hängen Gebliebenen.
Die Erlösung habe sich dann um die Mittagszeit mit dem wieder in der Kaserne aufgetauchten Sowjetarmisten eingestellt. Der vermisste Soldat habe in einem Garten übernachtet, hatten sie noch vom Kommandanten erfahren. Damit habe sich alles erledigt. Sie könnten nach Hause gehen.
„Man muss sich das mal vorstellen“, sagte Sebastian, „die sahen sich schon zu Hause, als ein Offizier sie alle vier über den Appellplatz zum Kasernentor geleitete. Sie dachten dabei an ihre Familien, Ehefrauen und Eltern … In einer halben Stunde würden sie wieder bei ihnen sein.
Als sie dann erleichtert durch das Tor gingen, der russische Offizier, der sie bis dort hin begleitet hatte, zurück blieb und dafür drei bedenkliche Gestalten in Stiefeln und langen Mänteln auf sie zukamen, wusste bei diesem martialischen Aufzug natürlich gleich jeder, wer das war und überlegte dann blitzschnell was er getan, irgendwo gesagt, ja vielleicht auch nur laut gedacht haben könnte.
Ganz sicher konnte sich da niemand sein. Das wissen wir ja von uns selbst.
Hankel vermutete“, fuhr Sebastien dann fort, „dass die Russen Bescheid gewusst und der Stasi zu verstehen gegeben hätten, dass für sie alles erledigt sei und die Leute gehen könnten. Doch einer der gestiefelten Ledermantelträger trat zum russischen Offizier, der noch am Kasernentor stehen geblieben war.
Die anderen beiden gesellten sich dann auch noch dazu.
Das verschüchterte Häufchen der vier eigentlich schon Freigelassenen stand unschlüssig zusammengedrängt, als die Ledermanteltroika schließlich auf sie zu kam: „Zur Klärung eines Sachverhalts mitkommen!“ Nur dieser eine alles und nichts sagende Satz ließ die vier eben Freigelassenen willenlos gehorchen. Diese Willenlosigkeit ist es“, gab Sebastian zu bedenken, „die wie eine Lähmung über die Menschen kommt. Es ist schlicht Angst, denn wenn alles in der Beliebigkeit steht, kann man leicht stolpern.“
„Du meinst die verbreitete Willkür in der DDR“, warf Klaus der Graumelierte ein, „du kannst dich da auf nichts berufen …“ „Mangelnde Rechtssicherheit, Gummiparagraphen“: ergänzte Totila achselzuckend. „Denkt doch bloß an diesen Artikel 6!“
„Ja, ja, ihr habt ja Recht“, stimmte Sebastian zu. „Es ist Willkür, die als spezifische Korruption alle Diktaturen beherrscht.“
„Auch die Diktatur des Proletariats?“, fragte Günter mit schelmischem Grinsen in seinem runden Gesicht.
Sebastian winkte nur ab. „Hört euch lieber die Geschichte Wilhelm Hankels an, da habt ihr schon alle Antworten …“
„Und kaum noch Fragen“, fügte Totila hinzu.
„Richtig“, sagte Sebastian. „Es beantwortet sich dort fast alles schon von selbst.
Klärung eines Sachverhalts, das ist und das wissen wir ja alle selbst“, dazu sah er sich kurz um, „so was wie die Standardformel bei politischen Verhaftungen. So auch dort bei diesem Häufchen eben Freigelassener.“
Ein als geschlossener Kastenwagen getarnter Transporter rollte heran, blieb stehen und einer der Gestiefelten öffnete die Tür ins fensterlose Fahrzeug, ein finsteres Loch. „Los, los, einsteigen“, trieb ein anderer aus der Troika den verwirrten Haufen in diesen Transporter, in dem alle getrennt in je einer winzigen Zelle verschwanden. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Sitzbrett und dazu schmale Luftschlitze in den Seitenwänden.“ Sebastian lachte. „Ich bin ja selbst mit so ’ner Stasi-Schaukel vom Hof des Gerichtsgebäudes in der Spreestraße zum Eingang des sogenannten Landgerichts, so stand es oben über dem Portal, gefahren worden. Und so landete dann auch Hankel mit dem ländlichen Verschwörertrupp in der Cottbusser Spreestraße. Weshalb der dort in meine Zelle verlegt worden war …?“ Sebastian zuckte mit den Schultern.
„Als Spitzel?“ Er schüttelte den Kopf. „Völlig ungeeignet“, sagte er. „Das ständige Gejammere und Geflenne ging mir mächtig auf die Nerven. Was der mir über seine Verbrechen erzählt hatte, zumal sie ja alle von den Russen wieder freigelassen worden waren, fand ich einfach lächerlich. Der hätte zu einem Psychiater gehört. nicht aber in eine Stasi-Zelle. Andererseits, das muss man berücksichtigen, konnte Hankel nicht begreifen, was man ihm bei den Verhören unterstellte: Etwa dass sie es, das heißt er und die übrigen verdächtigen Gäste des Lokals, an diesem Abend von vornherein darauf angelegt hätten, die sowjetischen Soldaten, die dort regelmäßig auftauchten, zu überfallen und zusammenzuschlagen. Genau geplant vor Beginn der Viermächtekonferenz in Berlin.
Ich hab’ diese Vorwürfe damals für einen Spaß seiner Vernehmer gehalten, die ihn damit verwirren und ein bisschen Angst machen wollten. Von so einer Konferenz wussten weder Hankel noch die anderen Provokateure etwas. Na klar“, fügte Sebastian nach einer kurzen Pause nachdenklich hinzu, „die Menschen schimpften zwar alle über die verbreiteten Versorgungsmängel, die das alltägliche Leben nicht selten zu einer Tortour machten, aber das sei es dann in aller Regel auch schon.
Sebastian erhob sich von seinem Hocker und ging wieder mit gesenktem Kopf die wenigen Schritte Richtung Fenster. Dort wandte er sich in die Zelle um.
„Ich denke hierzu bloß an meine Mutter“, sagte er, „die sich ständig Gedanken machen musste wie sie, bei einer großen Familie, vor allem die Kinder gesund über die Runden bringen konnte. Und nicht zuletzt auch, dass man überall und immer aufpassen musste auf das, was man so sagte. Viele schimpften erst, wenn sie sich zuvor einige Mal umgesehen hatten. Im Grunde genommen aber interessieren sich nur wenige wirklich für Politik und von einer Viermächtekonferenz wussten die Wenigsten. Und wenn, dann vom RIAS, aber wer versprach sich von so einer Konferenz schon etwas?“
„Ja, so ist das“, meldete Günter sich, „immer die Propaganda … damals die Nazipropaganda und jetzt die kommunistische. Das klingt den Leuten in den Ohren. Immer wieder nur Sprüche. Den Nazis glaubten noch siebzig bis achtzig Prozent der Deutschen, schlimm genug. Aber so kurz danach die Kommunisten, denen glauben nun aber achtzig Prozent der Menschen nichts mehr. Natürlich gibt’s welche, die keine Probleme damit haben. Die singen halt diese Lieder mit und hängen die Fahne raus, wenn’s verlangt wird. Wieder andere frönen ihrem Ehrgeiz, ganz gleich worum es sich handelt. So eine Einschätzung aber darf man eigentlich nicht mal denken, will man nicht ins schwarze Buch kommen oder wie wir hier, gesiebte Luft atmen.“
„Wie auch immer“, mischte Totila sich ein, „ist ja alles richtig oder auch nicht.
Was Sebastian hier aber erzählt hat, ist einfach haarsträubend. Ich hätte draußen so was nicht geglaubt. Ich habe ja auch, wie wir wahrscheinlich alle, viele schlimme Geschichten gehört. Und wenn man erfährt weshalb so mancher hinter Gittern sitzt, einfach schauderhaft. Da wird einem doch deutlich: Jeder ist rechtlos, jeder kann jederzeit schuldig sein.“ Totila saß dabei vorgebeugt auf einem Hocker. „Ich glaubte draußen“, fuhr er fort, „ich glaubte, ich wüsste Bescheid, aber was ich dann erfuhr … Nicht mal der Verrat eines Freundes“, Totila richtete sich auf, „ja nicht mal das“, sagte er, „geht mir so auf den Geist wie die abgrundtiefe Willkür, auf die man hier überall trifft. Es gibt ja ganze Hände voll ähnlicher Geschichten. Nur draußen erzählen eben die wenigsten davon und da ist sie dann schon wieder, die Angst …“ Schließlich hörten sie von unten herauf das rutschende hohle Schurren von Metallkesseln auf Stein.
„Kaffee!“, sagte Klaus und alle langten sich ihre Aluminiumbecher aus dem Wandregal. Außerdem hieß das auch den leeren Kübel reinzunehmen, wenn die Tür aufflog. Das war schnell zur Routine geworden. Dann ließen sich alle ihre Becher mit Muckefuck aus dem ausgemusterten Militärkessel füllen, griffen sich ihre Brotkule und den 20gr.-Klecks Margarine auf Pergamentpapier für den Tag sowie den Esslöffel Marmelade, den man ihnen in die Essschüsseln klatschte.
Doch dass Wilhelm Hankel in der Nebenzelle saß, hatte sich für Sebastian als etwas Unerwartetes erwiesen. Zwischen Kübelwechsel und Frühstück wurden nach zehn Minuten die Messer zum Zerschneiden der Brotstücke wieder aus den Zellen geholt. Nach dem Frühstück warteten die Gefangenen auf die Freistunde und Sebastian insbesondere auf das Zusammentreffen mit Wilhelm Hankel. Zwölf Jahre! Er konnte es noch immer kaum glauben. Beim Anstellen auf dem Gang stand er so, dass Hankel aus der Nebenzelle sich dicht hinter ihn stellen konnte.
„Wonach hat man euch denn verurteilt?“, fragte Sebastian, den Kopf etwas seitwärts geneigt.
„Artikel 6 und Kontrollratsdirektive 38“, antwortete Hankel gedämpft.
„Dann seid auch ihr allesamt, du und die jungen Burschen mit dir, stramme Kriegsverbrecher“, und er konnte sich dabei ein hysterisches Kichern kaum verkneifen. Dann sah er sich ganz nach rückwärts um und blickte in Wilhelm Hankels bekümmertes Gesicht. Er tat ihm wirklich leid. Es hatte den ja wesentlich schlimmer erwischt als ihn. Der hatte damals, als er an einem Sonnabend sein Stammlokal aufsuchte, nie damit rechnen können, dass er von dort nicht mehr zurückkehren würde. Dann der Schreck am nächsten Morgen und endlich die Erlösung, als die Russen sie freigelassen hatten … und er kehrte doch nicht zurück, alles war am Ende verloren: Haus, Hof und Familie, die man davongejagt hatte. Eigentlich ist so was nicht wirklich zu begreifen, sagte er sich.
„Alles Marsch!“, ertönte schließlich die Stimme des Stationskalfaktors und ein weiterer Austausch mit Hankel wäre in dem dann anbrechenden Krachen der schweren Holzschuhe auf den Holzplanken des Gangs nicht mehr möglich gewesen. Dann ging es polternd die steinernen Treppen hinab und hinaus auf den Hof.
„Abstand halten!“, rief dort der Vorturner, auch ein Gefangener, und trat in die Mitte des Rasenstücks, das die Gefangenen einzeln hintereinander zu umrunden hatten.
Und so liefen sie, Sebastian, Hankel hinter ihm und die anderen der Station in ihren Holzschuhen und runden Mützen auf den Glatzen, im Gleichschritt und im Kreis um den Rasen auf dem der Vorturner stand und die Kommandos gab: „Links, links, links zwo drei vier …“ An allen vier Ecken des Rundlaufs hatten sich Wärter postiert und achteten darauf, dass jeder Gefangene die in den Erdboden eingelassenen weißen Ziegel beachtete, die an vier Seiten des Rundgangs jeweils einen rechten Winkel beschrieben, den jeder im Gleichschritt in exakter Wendung zu nehmen hatte.
Dazu immer wieder die Stimme des Vorturners: „Links, links, links zwo drei vier …“ Schließlich der Ruf: „Alles Halt! Links um!“, also mit dem Gesicht zum Vorturner, der dann mit Kniebeugen begann, bei denen einige ältere Gefangene von den Posten angeschnauzt wurden, weil sie dabei nur langsam und schwer aus der Hocke wieder hoch kamen. „Na machen Sie endlich! Sie können doch den ganzen Laden hier nicht aufhalten!“
Dann Rumpf beugen, sodass die Fingerspitzen die Schuspitzen berührten. Der Vorturner demonstrierte jedes seiner Kommandos. Auch hier brachten viele der Älteren die Figerspitzen gerade mal bis über die Knie. Schließlich die angewinkelten Arme ausgebreitet einige Male nach hinten schlagen, dann nach oben, um sie danach auszuschütteln.
Dann wieder: „Rechts um! Im Gleichschritt marsch! Links, links, links zwo drei vier …“ Alles lief weiter und jeweils exakt um die eingelassenen weißen Ziegel an den vier Ecken des Kreises, Sebastian kam das blöde vor, diese Verrenkungen, die sich dabei ergaben. Er ließ sie aus.
„Alles Halt!“, rief daraufhin einer der Posten und ging auf Sebastian zu. „Sind Sie blind?“
„Nein“, sagte der.
„Nehmen Sie die Mütze ab, wenn ich mit Ihnen rede. Wie heißen Sie?“
„Sebaldt.“
„Wie?“
„Sebastian Sebaldt.“
„Strafgefangener heißt das. Sie sind verurteilter Strafgefanger, also?“
„Strafgefangener Sebaldt“, sagte Sebastian.
„Wie lange sind Sie hier?“
„Dreiundzwanzig Tage.“
„Und wie hoch verurteilt?“
„Zehn Jahre.“
„Da haben Sie ja noch ’n bisschen Zeit … Was sehen Sie denn da?“ Und er wies auf die in den Boden eingelassenen weißen Ziegel.
„Weiße Ziegel.“
„Und was bedeuten die?“
„Ist ein rechter Winkel.“
„Na so was. Und warum beachten Sie den nicht?“
„Ich war nicht im richtigen Tritt.“
„Nicht im Tritt, so, so … also zurück hop, hop. Und nehmen Sie die Ecke jetzt vorschriftsmäßig.“
Sebastian ging nach sekundenlanger Überlegung einige Schritte zurück. In den Kellerarrest bei Wasser und Brot wie er gehört hatte, wollte er so einer Lappalie wegen denn doch lieber nicht.
Der Uniformierte stellte sich provozierend breitbeinig in seinen Stiefeln genau an der Ecke auf und kommandierte: „Links, links, links zwo drei vier …“
Und Sebastian marschierte, wenn auch von widerwilligen Gefühlen bewegt, wie ein tapferer Zinnsoldat und setzte die Füße in den klobigen Holzschuhen exakt in den von weißen Ziegeln vorgegebenen rechten Winkel.
„Halt“, rief der Posten. „Ab jetzt immer so!“ Und er winkte dem Vorturner.
„Links, links, links zwo drei vier … kam dann wieder dessen Stimme und die Gefangenen setzten sich, unter Beachtung der rechten Winkel an den vier Ecken des Rundlaufs, wieder in Bewegung bis zum Kommando: „Einrücken!“, das diesem Rundmarsch, der sich Freistunde nannte, ein Ende setzte. Im Gänsemarsch, eine Reihe von Vogelscheuchen, zogen die Gefangenen über einige Granitstufen wieder in den Zellenbau ein. Dort dröhnte dann das Stampfen und Krachen der schweren Holzschuhe auf den steinernen Stufen der Treppe über die einzelnen Stationen nach ganz oben und dort über die Holzplanken der Galerie vor die Zellentüren. Da nahmen dann die Gefangenen die von den Kalfaktoren geleerten Waschwassereimer und Kübel, sowie die gefüllten Frischwasserkannen über den Tag mit in die Zellen. So wurden tagtäglich nacheinander die Insassen jeder Station zum Rundgang geführt.
Die Lebenslänglichen mit roten statt gelben Streifen an Ärmeln, Hosenbeinen, am Rücken und an den runden Mützen, drehten immer separat ihre Runden.
Auch einige wenige Gefangene, die „aufhetzerischer Äußerungen“, wegen in Einzelhaft saßen, liefen dann, wie Sebastian erfahren hatte, in Riesenabständen sehr einzeln ihre Runden ums Karree.
„Was versteht man denn unter aufhetzerischen Äußerungen?“, wollte Sebastian wissen.
„Na was schon!“, war ihm geantwortet worden. „Du kommst doch nicht vom Mond … die sind angeschissen worden. Spitzel in den Zellen, das weiß doch hier jeder. Das gab’s nicht nur in der Spreestraße. Auch hier muss einer immer überlegen was er sagt und wem er was sagt. Sonst kann jeder wegen Staatsverleumdung oder Boykotthetze noch was obendrauf gepackt bekommen, sozusagen als Nachschlag.“
„Aber ich bin doch als Staats- und Volksfeind schon verurteilt worden. Dann kann ich doch auch meine Meinung sagen.“
„Das denkst du dir so, aber die Partei denkt da ganz anders. Du bist ein Volksfeind, sagen die und sollst hier gebessert werden. Und mit feindlichen Äußerungen betätigst du dich immer weiter als Volksverhetzer und kannst dafür auch immer wieder verurteilt werden. So ist das hier. Es gibt einige die schon so ’nen Nachschlag weg haben.“
„Aha, deshalb Einzelhaft.“, sagte Sebastian. So kann man keinen mehr politisch beeinflussen.“
Und so stürzte vieles auf die beiden Freunde als Neuankömmlinge ein.
Dann verstummte mal wieder für einige Zeit jedes Gespräch in der Zelle. Alle saßen verstreut auf ihren Schemeln, dösten halbschlafend vor sich hin, erinnerten sich an Vergangenes oder dachten auch über die gegenwärtige Situation nach, wie etwa Sebastian, der sich in die Stille hinein an den Graumelierten wandte: „Du sagst, die nehmen jede Gelegenheit wahr, so ein gerade noch geduldetes Ungeziefer los zu werden. Nicht eine Straftat an sich bestimmt Hankels Urteil, sondern die bürgerliche Existenz als Kleinunternehmer selbst ist es …“
„Denk an die willkürlichen Ausnahmen von der Regel“, wandte der Graumelierte ein.
Sebastian wiegte den Kopf. „Ja gut“, stimmte er zu, „das erscheint mir durchaus richtig, aber was bedeutet dann die Verurteilung der jungen Leute in diesem Fall und zu so hohen Zuchthausstrafen von sechs bis zehn Jahren? Ich kann mir das nicht erklären. Schließlich waren das Arbeiterkinder und keine Kleinbürger oder deren Nachwuchs.“
Der Befragte schüttelte nun seinerseits den Kopf. „Diese Frage“, sagte er, „ist zu kompliziert oder aber auch zu einfach“, dazu breitete er beide Hände aus und hob die Schultern, „ich kann sie dir nicht beantworten.“
„Hm …“, brummte Sebastian. „Schade“, sagte er und wieder dominierte Schweigen das Vergehen der Zeit.
Der Graumelierte nannte das den Sparmodus. Schließlich könne man nicht jahrelang nur reden und am Tage auf den Betten zu schlafen sei ja verboten. Wo käme man auch hin, wollten die Gefangenen ihre Strafen verschlafen.“