Читать книгу Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August - Страница 22
Kapitel 16
ОглавлениеEines Tages wurde der alte Sawatzky verlegt und Arno, der Sohn, blieb zurück.
„Da wer’ ich mein Vadder kaum noch sehn“, kommentierte er die Trennung.
Vom Kalfaktor erfuhr er, dass der Vater auf die andere Seite, also in eine der gegenüberliegenden Zellen verlegt worden war.
Der Sohn winkte ihm durchs Fenster bei dessen täglichem Rundgang zu.
Sebastian indes stieß sich am Wort „Verlegung“, als handelte es sich bei den Gefangenen nur um x-beliebige Gegenstände, die man dahin und dorthin legte und manchmal auch verlegte und nicht um lebende Menschen, mit ihren vielen differenten Schicksalen. Die Sprache, machte er sich klar, sagte schon viel über das Menschenbild eines politischen Systems.
Zwei Tage später stand Martin mit seinem Bündel in der geöffneten Zellentür und bezog dann das Bett des alten Sawatzky.
Martin Schüler erzählte auf Nachfrage, dass er von Beruf Elektriker sei und in Schwarzheide im Chemiekombinat gearbeitet habe. Verurteilt sei er wegen Totschlags zu zwölf Jahren Zuchthaus. „Ein Jahr ist ja schon rum“, sagte er grinsend. Als er bemerkte, dass alle ihn fragend ansahen, lachte er. „Na, mit Untersuchungshaft.“
„Untersuchungshaft? So lange?“, fragte Sebastian erstaunt.
„Die wollten mir ’nen Mord anhängen“, erklärte Martin Schüler.
„Und deshalb auch die hohe Strafe für Totschlag?“, fragte Siegfried ein wenig unsicher.
Der so Gefragte hob die Schultern und breitete ratlos die Arme aus. „Mein Anwalt hat auf Körperverletzung mit Todesfolge plädiert.“
„Hatten die was gegen dich?“, fragte Sebastian.
Martin nickte. „Könnte schon sein.“
„Na wie’n Totschläger siehste nich gerade aus“, stellte Arno Sawatzky fest.
„Richtig“, sagte Sebastian und die andern nickten. Keiner konnte sich vorstellen, dass dieser schlanke blonde Kerl mit dem intelligenten Gesicht jemanden absichtlich totgeschlagen haben sollte.
„Wie is ’n das passiert?“, fragte wieder Arno Sawatzky.
„Ich war Boxer“, antwortete Martin Schüler, „Bezirksmeister im Mittelgewicht …“
„Und da haste Ee’ n nich bloß ko jeschlagen“, unterbrach Sawatzky den Boxer, „sondern gleich janz mausetot?“
„Quatsch. Boxen ist doch ’n ganz normaler Sport. Nee“, fuhr Martin dann fort, „das war ganz anders. Zwei Kerle aus Schwarzheide, die ich kannte, hatten mich nach ’ner Tanzveranstaltung überfallen. Ich war alleine, als die mich als geilen Bock beschimpften und dann beide auf mich losgingen, der eine davon mit ’ner Latte in der Hand. Als der zuschlug, hatte ich mich weggeduckt. Angetrunken waren beide. Der Schlag ging vorbei, er stolperte über meinen Fuß und das hatte ihn mit dem eigenen Schwung umgeschmissen. Ehe der wieder auf die Beine kam, hatte ich den andern, einmal Leber, einmal Kinnspitze außer Gefecht gesetzt, wie ich glaubte. Der fiel auch gleich um. Der andere, der mit der Latte, rannte davon. Das war erst mal alles.“
„Und der ko-Geschlagene blieb liegen?“, fragte Sebastian.
„Ja natürlich. Man konnte da aber auch nicht gut sehen. Die Straßenlaterne stand ein Stück entfernt. Aber so was kannte ich ja auch. Der wird gleich wieder auf die Beine kommen, sagte ich mir.“
„Und dann ist der nicht mehr aufgestanden?“, erkundigte Siegfried sich.
Martin, der Boxer, nickte. „Richtig“, sagte er, „, damit hatte ich aber nicht rechnen können …“
„Und was war dann mit dem ko-Gegangenen?“, unterbrach Sebastian den Boxer.
„Der war tot, mit ’m Kopf auf ’ne Bordsteinkannte gefallen, doch so haben die mir’s beim Verhör nicht gesagt. Das Ganze ging aber schon am selben Abend los. Und wenn man’s richtig nimmt“, dazu winkte er ab, „schon seit Wochen.
„Die beiden“, fuhr er nach kurzer Pause fort, „es waren da im Saal anfangs noch drei andere mit von der Partie gewesen, doch die beiden stänkerten schon den ganzen Abend. Und als dann bei der Damenwahl“, sagte er lachend, „gleich drei der schönsten Mädels mit mir tanzen wollten, waren vor allem die beiden Stänkerer ziemlich sauer.“
„Det globe ick schon“, ließ Arno Sawatzky sich hören, „So ’n jutaussehender sportlicher Typus“, dazu wies er mit der Hand auf den jungen Bezirksmeister im Mittelgewicht, der dort gegen einen Bettpfosten gelehnt stand. „Klar, da waren die sauer, kann ick mir jut vorstellen. Und dann die Weibsstücke hinter dir her“, wandte er sich an den Boxer. „Und die Blödköppe haben an den Abend nischt abjekriegt.“
„Beide waren FDJ-Funktionäre, hauptamtlich bei der Kreisleitung“, gab der Boxer zu bedenken. Und einer von denen, offizieller SED- Kandidat.“
„Na da brauchste dir nich zu wundern“, trumpfte Sawatzky auf.
„Und du warst kein FDJ-Mitglied?“, fragte Sebastian.
„Doch, war ich. Wenn ich weiter boxen wollte, musste ich das. Ich hätte ja sonst schon gar nicht um die Bezirksmeisterschaft kämpfen dürfen.“
„Sag’ bloß“. Sebastian blickte vom Schemel, auf dem er inzwischen saß, erstaunt zum Boxer hoch, der langsam und nachdenklich zwischen den Betten die wenigen Schritte auf und ab ging, schließlich bei Sebastian stehen blieb und nickte.
„Klar“, sagte er dann, „Vor ’nem Kampf um die DDR-Meisterschaft“, das wurde mir lange im voraus mitgeteilt, „müsste ich mich schon um eine SED-Kandidatur bemühen.“
„Kandidat?“, fragte Sebastian und wiegte den Kopf. „Also wenn du den Kampf verlierst, bleibst du weiter Kandidat und wenn du gewinnst, wirst du Parteimitglied …?“
Martin, der Boxer, nickte wieder. „Durchaus möglich, dass das so abläuft, wenn ich mitgemacht hätte.
Ohne Bewerbung um eine Partei-Kandidatur, hätte ich gar nicht erst bei ’ner DDR-Meisterschaft antreten dürfen.“
„Ist denn das überall so? Ich meine auch bei anderen Sportarten?“
„Weiß ich nicht. Ich denke schon, aber Ausnahmen wirds auch ’ne Menge geben. Das ist doch immer und überall so.“
„Wieder diese beschissene Willkür“, schimpfte Siegfried mit etwas gedämpfter Stimme. „Auf nichts kannst du dich berufen, wenns drauf ankommt. Du bist immer im Unrecht, sitzt stets am kürzeren Hebel, bist unsicher und hast dauernd Angst.“
„Den Sport beginnen die mächtig aufzublasen“, erklärte Martin. „Das soll wohl so was wie ein internationales Aushängeschild werden. Ich erinnere mich noch gut. Keiner hatte mir vorher was gesagt und plötzlich wurde ich fürs Training von der Arbeit freigestellt, sozusagen von jetzt auf gleich. Aber es stimmt schon“, fuhr er nach einer Weile fort und nickte nachdenklich. „Ich habe in der Kneipe öfter mal zu viel gequatscht.“
„Du weißt aber, dass du immer beobachtet worden bist?“
„Das haben die mir beim Verhör schon klar gemacht. Ich hätte keinen guten Ruf, haben die mir gesagt und genau aufgezählt, wo ich was gesagt haben soll …“
Sebastian lachte. „Als gewissermaßen künftiger Hoffnungsträger im DDR-Sport waren die wohl ziemlich enttäuscht von dir.“
„Aber das schönste am Ganzen“, sagte Martin, „ist ja, dass der, der damals weggerannt war, der mir die Latte über die Rübe ziehen wollte, ausgesagt hat, ich hätte sie beide als Kommunistenschweine beschimpft, ehe ich den einen totschlug. Ich hatte aber gar nichts gesagt, mich nur verteidigt. Schließlich hatte nicht ich angegriffen, sondern wurde angegriffen.“
Sebastian wiegte wieder den Kopf. „Wir glauben dir das natürlich alle hier. Aber offiziell steht da Aussage gegen Aussage und dabei hattest du schlechte Karten gegen einen FDJ-Funktionär und SED-Beitritts-Kandidaten, der du nicht werden wolltest.“
„Das weiß ich jetzt auch“, sagte Martin. „Ich habe die Partei mitsamt dem Kommunismus diffamiert und einen FDJ-Funktionär erschlagen. So was nennt man einen Staatsfeind und Mörder haben die mir beim Verhör gesagt. Das Gericht machte dann in offensichtlich milderer Stimmung lediglich einen Staatsverleumder, Volksfeind und Totschläger aus mir.“
„Na klar“, sagte Sebastian grinsend, „du hast Vertreter des Arbeiter- und Bauernstaats beleidigt, als Kommunistenschweine beschimpft und einen davon sogar erschlagen. Da hast du noch Glück gehabt, dass die dir nicht wirklich einen Mord angehängt haben. Nicht die haben dir, sondern du hast den beiden aufgelauert. So hätte es auch vor Gericht heißen können … Und wie wolltest du dagegen ankommen? Und wer hat dich eigentlich verhört, die Kripo?“
„Nee, die Stasi. Bei der Kripo war ich nur ganz zu Anfang …“ „Sportler, also Boxer“, sagte Sebastian, „vielleicht geltet ihr schon ab ’ner Bezirksmeisterschaft als Vorbilder in der Öffentlichkeit und bei der Jugend. So seid ihr also auch Funktionäre. Du hattest das wahrscheinlich nicht richtig kapiert und gedacht die schenken dir Trainingsstunden während der Arbeitszeit.
Denk dabei doch nur mal an diesen Radfahrer … wie heißt der doch gleich?“ Dazu schlug Sebastian sich mit der flachen Hand gegen die Stirn „Täve, glaube ich“, sagte er, „, ja, Täve Schur. Der ist inzwischen Mitglied der Volkskammer. Solche Leute woll’ n die haben und nicht so einen wie dich. Ich könnte mir sogar vorstellen“, sagte Sebastian etwas nachdenklich, „dass die deine Angreifer dazu aufgefordert haben, den großen Boxer mal auf ’s Pflaster zu schicken und dann das!“ Er schüttelte den Kopf. „Also diese Panne, das nehmen sie dir übel. So hatten die nicht gewettet.“
„Aber nee … das kann ich mir so nicht vorstellen“, warf Siegfried, der eine ganze Weile nur zugehört hatte ein. „Ich meine, dass du in die FDJ eintreten musstest, wenn du um eine Bezirksmeisterschaft boxen wolltest … oder auch in die Partei bei ’ner DDR-Meisterschaft? Nee“, betonte er, „das glaube ich so nicht!“
„Du musst natürlich nichts glauben“, entgegnete der Ex-Boxer, „überhaupt nichts. Es wird dir nur ganz intern nahegelegt. Nicht von der Partei, sondern nur vom Trainer und später von den Sportfunktionären.“
„Also doch nicht gezwungen, das sagst du ja selbst.“
Martin schüttelte den Kopf. „Gezwungen“, sagte er, „wie stellst du dir das vor?
Im Sport, das ist wie in der Kunst, da gibt es keine festgelegten Normen, die einer erfüllen muss …“
„Doch“, widersprach Siegfried, „im Sport gibt’s Sekunden, Punkte, Tore, Siege …“
„Ja, die nur Sportler selber setzen können, nicht der Staat.“
„Übel nehmen sie dir’s schon“, mischte Sebastian sich ein, „nämlich wenn du’s könntest und nicht willst, also das Ansehen der DDR im Volk und möglichst in der Welt zu mehren.“
Martin, der Ex-Boxer lachte. „Na ja“, sagte er, „aber eine Bezirksmeisterschsaft ist keine DDR-Meisterschaft. Dort geht’s dann international zu und hat mit der Mehrung des DDR-Ansehens durchaus zu tun.“
„Es ist aber auch immer schon so“, sagte Sebastian, „dass Diktaturen den Sport hochjubeln. Das begann spätestens bei den Römern, dann bei Hitler, bei Stalin und jetzt bei Ulbricht. Es ist wohl besser“, fügte er nachdenklich hinzu, „man kommt in der Kunst oder im Sport gar nicht erst so weit, dass man auffällt und politisch erpreßbar wird. Das hättest du bedenken sollen“, wandte er sich an Martin, den Ex-Boxer.
Der nickte zustimmend. „Nachher weiß man immer alles besser.“
Das Gespräch zum Thema verebbte allmählich. Die Zelleninsassen versanken wieder in Schweigen, starrten vor sich hin oder saßen mit geschlossenen Augen auf ihren Hockern gegen einen Bettpfosten oder die Heizungsrippen gelehnt.
Schließlich erwies es sich als nicht möglich den ganzen Tag redend zu verbringen. Auch wurden nach Wochen die Themen knapp. Sebastian hatte anfangs noch erstaunt bemerkt, dass Menschen oft nur relativ wenig zu erzählen wussten, auch ältere, die seiner Meinung nach doch einiges erlebt haben mussten, an das sie sich aber nicht selten nur sehr bruchstückhaft erinnern konnten. So manches von dem man annehmen durfte, dass es ihr Leben geprägt haben musste, hatte, wie Sebastian es immer wieder erfuhr, in ihrem Bild von der Welt nur wenige Spuren hinterlassen, so als hätte das Erlebte sie nie wirklich erreicht.
Anfangs hatte er sich noch geweigert diese Feststellung als Tatsache zu verbuchen, in der Annahme, er sei vielleicht mit Überheblichkeit geschlagen. Doch bald war ihm klar geworden, dass er solche Einsichten dem Aufeinanderhocken in diesen beengten Zellen über viele Wochen zu verdanken hatte, weil es dort kein Ausweichen oder Abwenden gab und jeder durchsichtig werden musste.
Auf eine solch entblößende Konstellation stößt man im normalen Leben natürlich nicht so leicht.
Sebastian ging langsam zum Fenster, blickte hinaus in den verschneiten Hof und über die Mauer hinweg in die zugeschneiten Kleingärten mit den Lauben, in denen auch im Winter Leute hausten. Da und dort kräuselte sich aus Ofenrohren und Kaminen weißlicher Rauch in den tiefgrauen Himmel, dessen Licht den Tag, die Zelle und die Gemüter der Gefangenen kaum erhellte.
Und so zog dann auch bald Sebastian mit seinem Hocker und Herders „Über den Ursprung der Sprache“, ein Buch, das er vom Bücherkalfaktor hatte ergattern können, ins karge Licht, das durchs Klappfenster in die Zelle fiel. Dort erst konnte man, wenn überhaupt, in einem Buch lesen, da die Zelle sich an solchen Tagen als schwarzes Loch erwies.
Inzwischen gab es einen Bücherkalfaktor, der wegen Wirtschaftsvergehens, worunter alles mögliche verstanden werden konnte, zu 8 Jahren verurteilt worden war. Buchhändler im Zivilberuf, lang und dürr, Mitte, Ende Vierzig, von dem Sebastian erfahren hatte, dass die Gefangenenbibliothek über so gut wie alle deutschen und russischen Klassiker verfügte, auch einige französische und englische … Eine Gelegenheit, meinte Sebastian, sich ausführlich mit dieser Literatur zu beschäftigen und damit hatte er dann dort auf seinem Hocker unterm Klappfenster mit Herder begonnen, mit Herders Vorstellung von der „Entstehung der menschlichen Sprache“, die ja nicht einfach so da war.
Und Sebastian überlegte dabei von Herder angeregt, wie die unendlich vielfältige ungezähmte Natur die Vorstellungswelt des ganz frühen Menschen geprägt haben mochte. Wie diese Vorstellungswelt dann eine zunehmend vergleichende wurde und wie es schließlich zur Benennung von Gegenständlichem kam, unabhängig von dessem unmittelbaren Vorhandensein. Ein Faustkeil, ganz gleich wie groß oder klein, wie kantig oder glatt der war, blieb immer ein Faustkeil, sagte er sich, ganz gleich auch wo und wann, also immer vergleichbar mit der abstrahierten Vorstellung eines Faustkeils.
Der erste Schritt zur Benennung, zur Sprache. Für die unübersehbare Vielfalt der Natur fand man einfache Ordnungsrahmen. Irgendwann, machte Sebastian sich klar, erkannte der Mensch überall in der Natur den rechten Winkel und das war ganz sicher wesentlich, denn er erkannte ihn in noch so starker Verzerrung, fand das Quadrat, den Kubus … begann die verzerrt verschlüsselte Natur selbst übersichtlich zu formen, zu benennen und wirkte so auf sie zurück. Und so entstand allmählich auch schlecht und recht die von den Menschen für die Menschen gemachte Welt.
Sebastian saß, das Buch auf den Knien, die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben … Weit war er schon weg, nicht nur von Herders Überlegungen, sondern auch weit weg aus dieser düsteren Zelle. Das waren längst keine tagespolitischen Vorstellungen mehr denen er nachhing. Es ging ihm um die Klärung eines Standpunkts den er brauchte, um seine eigene Lage zu begreifen.
Die Welt, so sagte er sich, bewegte sich aus Gegensätzen … Das so genannte Gute musste nicht immer gut sein und das Böse nicht stets böse … Das eine gab es ohne das andere nicht. Es war ihm in seiner Lage aber nicht möglich sich das zusammen zu suchen und nachzulesen, was er benötigen würde, um seinen Standpunkt wie er ihm im ersten Moment erschien, zu begründen. Dafür würde die Bibliothek hier wohl nicht reichen und zum Schreiben hatte er auch nichts, wo schon jeder Bleistiftstummel Arrest bedeutete.
So musste er selbst fast wie ein Frühmensch, so sah er sich, mit dem Begreifen der Welt von vorn beginnen: Absolute Gegensätze, meinte er, seien gleichen Ursprungs und gleicher Wirkung. Er nahm das als Ausgangsbasis, als Standpunkt, als eine These die ihm einen weiteren Ausblick ermöglichen sollte.