Читать книгу Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August - Страница 27

Kapitel 21

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Martin Schüler, der Boxer, erteilte, zum Spaß der anderen in der Zelle, Sebastian Boxunterricht in der Enge zwischen den Betten. Beide umwickelten sich dazu ihre Fäuste mit Handtüchern. Zumeist krachte Sebastian, nach einem mehr oder weniger kurzen Schlagabtausch, in eines der unteren Betten. Nach einigen Tagen emsigen Trainings passierte das einmal sogar dem Bezirksmeister im Mittelgewicht, zur Freude Sebastians und unter dem Beifall der Zellenbelegung.

Dann geschah es immer öfter, dass Martin Schüler irgendwie lustlos dieses Boxtraining ausfallen ließ. Diese Lustlosigkeit steigerte sich. Und wenn er sich doch wieder mal auf so einen Boxkampf einließ hatte Sebastian natürlich nach wie vor keine wirklichen Chancen, dennoch fiel allen Martin Schülers Kurzatmigkeit auf. Auch erschien er blass und schwitzte leicht, dazu kam Appetitlosigkeit und so verlor er schließlich an Gewicht. Allmählich wurde sein Gesicht schmal …

In der Zelle war man sich einig: „Du musst dich zum Arzt melden. Da stimmt doch mit dir was nicht.“

Aber Martin Schüler sperrte sich: „Ich bin doch nicht krank, das kann gar nicht sein.“

„Du denkst wohl als guter Boxer bist du für immer gegen alles immun?“, fragte Sebastian.

„Unsinn“, wehrte Martin Schüler ab.

„Aber du merkst es doch selbst, du hast ganz schön abgenommen und nicht bloß, weil der miese Fraß hier nicht schmeckt.“

Da mischte sich dann auch der Neue, der Nachfolger Sedlmayrs, ein Diplomingenieur für Maschinenbau, ein: „Du schwitzt doch vor allem auch nachts stark und das kann ja nun nichts mit sommerlicher Hitze zu tun haben. Draußen ists nämlich immer noch ziemlich kühl. Niemand von uns hier schwitzt so“, sagte er mit einer ausholenden Handbewegung, „aber Nachtschweiß wie bei dir“, sagte er kopfschüttelnd, „, das ist nicht normal und könnte auf TBC schließen lassen.

Du solltest dich wirklich mal zum Revier melden und zwar bald.“ Dem stimmten auch die anderen in der Zelle zu.

Endlich gab dann auch der einstige Bezirksmeister im Mittelgewicht diesem Drängen nach. Die Vorstellung von einer Tuberkulose schreckte ihn letztlich doch auf, sodass er sich vor einer möglichen Gewißheit nicht mehr reinen Gewissens zu drücken vermochte.

Am nächsten Tag meldete er sich gleich am Morgen ins Revier und wurde dann am Nachmittag mit einigen anderen Gefangenen über den Hof geführt. Im Kellerflur des Krankenreviers musste er wie üblich warten und bangte innerlich vor einer möglichen Wahrheit, die ihn, einen Sportler, tief treffen musste: TBC!

Schlicht die Motten … Nach seiner Rückkehr in die Zelle berichtete er, der Arzt dort hätte ihm den Rücken abgeklopft, abgehört, was von TBC gemurmelt und auf eine direkte Frage erklärt, es handele sich um einen Verdacht, der erst noch mit Röntgenaufnahmen abgeklärt werden müsse. „Das solle, so weit ich das mitgekriegt habe“, sagte Manfred Schüler, „hier in Cottbus in irgend einer Poliklinik geschehen. Ich kann das noch gar nicht glauben“, und er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Dabei habe ich nie geraucht …“ Als die aus der Nebenzelle beim Antreten zur Freistunde auf dem Gang vor den Zellentüren hörten, dass der Boxer wahrscheinlich die Motten habe, wunderten sie sich nicht. Drei Zellen weiter habe das ja auch schon einer, erzählten sie. Und aus einer Zelle gegenüber sei vor vierzehn Tagen einer mit offener TB ins Haftkrankenhaus nach Waldheim auf ’ne Mottenstation verlegt worden. Die kriegten dort massenhaft Butter zu essen ging das Gerücht. Das solle in den Lungen die offenen Kavernen verkalken helfen.

Schade, dass der Sedlmayr nicht mehr da ist, dachte Sebastian, der hätte dazu was Genaueres sagen können, ob das mit der Butter und dem Verkalken noch stimmt oder ob nicht gerade auch Penizillin gegen einen Mottenbefall besser hilft?

Martin Schüler blieb mit seiner offenen TBC, wie sich’s beim Röntgen herausgestellt hatte, noch drei Wochen auf der Zelle und alle konnten beobachten wie er von Tag zu Tag immer irgendwie durchsichtiger erschien.

„Eine große Sauerei“, meinte der Boxer selbst. „Ich hätte gleich in Quarantäne gehört …“ „Da hast du Recht“, stimmte Sebastian zu. „Das wäre genau richtig gewesen, vor allem für dich.“

„Das stimmt“, warf der Diplomingenieur ein, „aber durchaus auch für uns hier in der Zelle. Offene Lungentuberkulose ist, wie allgemein bekannt, höchst ansteckend. Und bei dem gehaltlosen Schlangenfraß hier sind wir alle gesundheitlich bereits angeschlagen, davon müssen wir ausgehen.“

„Ganz meine Meinung“, erklärte der tuberkulosekranke Boxer. „Ich dachte jeden Tag die würden mich holen und jetzt sind schon drei Wochen vergangen.“

„Wer weiß denn, was die sich so denken?“, ließ wieder mal Siegfried sich hören.

„Nichts!“, reagierte Sebastian. „Die denken nichts und warten wahrscheinlich, bis sie einen Mottensammeltransport nach Waldheim zusammen haben.“

Eines Tages holten sie ihn, Martin Schüler, den verurteilten Totschläger und TBC-kranken Boxer. Der Stationskalfaktor hämmerte mit ein paar Faustschlägen gegen die Zellentür: „Schüler, Sachen packen! Auf Transport.“

„Ist gut, hab’s gehört“, antwortete der. „Meine Reise auf die Mottenstation ins Haftkrankenhaus“, wandte er sich an seine Zellengenossen und fing dann etwas fahrig und unkonzentriert an, seine Sachen zusammenzusuchen und auf der ranzigen Decke zu deponieren.

Die andern sahen ihm dabei schweigend zu.

„Im Krankenhaus, da wirste wohl erst mal viel im Bett liegen müssen“, durchbrach Siegfried das Schweigen. „Da kannste dich sicher an Butter satt fressen“, fügte er hinzu und lachte kurz.

„Ich denke da eher an Penizillin“, gab Sebastian zu bedenken. „Ich kannte da mal einen bei uns zu Hause“, fuhr er fort, „da hats Wunder gewirkt und bestimmt auch bei dir“, wandte er sich an den Boxer. „Und außerdem hast du die Motten doch noch gar nicht so sehr lange …“

„Ach, was weiß ich?“, reagierte der mit skeptischer Miene.

„Quatsch! Du bist doch hier nicht der Einzige. Manche haben Wasser, andere auch TBC und Hungerödeme hatten wir hier fast alle schon mal … Ich selbst war, du hast’s ja miterlebt, auch schon fast am Ende. Und was hat mich gerettet, außer Sedlmayr natürlich?“, fragte er und sah dazu Martin Schüler an. „Na Penizillin!“, sagte er. „Ja, Penizillin und das wird bei dir ebenso wirken und du wirst es auch kriegen, denn die verzichten nicht auf dich, nämlich deine Arbeitskraft …“

Draußen auf dem Gang näherten sich Schritte und krachend sprang dann die Tür auf.

„Strafgefangener Schüler …“

„Ja hier. Der Boxer hob kurz den Arm.

„Kommen Sie! Nehmen Sie Ihre Sachen“, sagte der Schließer und wartete schlüsselschwenkend auf dem Gang vor der Tür. „Na los, los, machen se hin!“

Martin Schüler griff nach seinem Bündel auf dem Bett und trat hinaus auf den Gang.

„Mach’s gut!“, verabschiedeten ihn die Zellengenossen. Man würde sich ja nie wiedersehen, aber daran wollte niemand denken.

„Hau anständig in die Butter rein“, rief Siegfried ihm nach, „und denk dabei an uns.“

„Denk dran, das mit den Motten wird wieder …“: rief auch Sebastian dem Boxer noch hinterher, bevor die Tür wieder krachend ins Schloss fiel.

„Ist schon eine Sauerei“, ließ der Ingenieur sich nach einiger Zeit vernehmen.

„Wissen wir denn, wer von uns sich in der ganzen Zeit hier inzwischen angesteckt hat? Sehr widerstandsfähig sind wir ja alle nicht mehr in diesem Verlies und bei dem Fraß hier: Verkochte Spinatwassersuppe im Sommer, verkochte Weißkohlwassersuppe im Winter …“

„Richtig“, bestätigte Sebastian. „Niemand hier hat über die Jahre auch nur ein Stück Gemüse, vielleicht ’ne Zwiebel oder Obst je zu sehen bekommen.“

„Und dazu das ständige Rumsitzen auf den Hockern hier“, ergänzte wieder der Ingenieur die krankmachende Situation in diesem Käfig.

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