Читать книгу Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August - Страница 18
Kapitel 12
Оглавление„Strafgefangene Sebaldt und Kunzmann Sachen packen!“, hieß es eines Tages nach der morgendlichen Freistunde, wozu der Stationskalfaktor mit der Faust mehrmals gegen die Türe hämmerte. Die Ankündigung einer Verlegung brachte immer eine Verunsicherung der Betroffenen mit sich, denn es konnte sich dabei um den Umzug in eine andere Zelle handeln, aber auch um den Transport in eine andere Anstalt.
Als dann das Schloss krachte und die Tür aufgestoßen wurde stand dort der Wachtmeister und winkte mit dem langen Schlüssel: „Kommen Sie!“
Die beiden traten, ihre Deckenbündel in den Armen, auf den Flur.
„Gehen Sie“, sagte der Wachtmeister mit einer Handbewegung.
Wohin? Diese bange Frage bewegte die beiden. Wenn es jetzt durch die Gittertür zu den Treppen geht, wird es spannend … sagte Sebastian sich.
„Gehen Sie da rechts rüber“, hörten sie erleichtert den Wachtmeister hinter sich.
Rechts rüber, sagte Sebastian sich, ja natürlich, die Brücke über den Lichtschacht … die gegenüberliegende Seite, also kein Transport.
Und dann schloss der Wachtmeister auch schon eine Türe auf.
Sebastian hörte einen jüngeren Mann Meldung machen. Als beide schließlich die Zelle betraten, begrüßten sie den Jüngeren und sahen einen älteren auf dem Kübel hocken. Sie begrüßten auch den.
„Das sind bei mir die Hämorrhoiden …“: erklärte der Alte mit entschuldigendem Lächeln diesen Kübelgang außer der Reihe.
Es grenze schon an ein Wunder, meinten die beiden Freunde, dass man sie immer noch zusammen in einer Zelle unterbrachte und sie fragten sich schon, ob damit nicht etwas bezweckt werden sollte. Über Einzelheiten ihrer Tätigkeit für den westdeutschen Nachrichtendienst sprachen sie nie miteinander. Das taten auch andere politische Langstrafer nicht. Als sie ihre Sachen in die Regalfächer geräumt und die Decken jeweils zusammengelegt auf die Strohsäcke platziert hatten, gingen sie zum Fenster und sahen hinaus. „ Die genaue Gegenrichtung unserer bisherigen Aussicht“, sagte Sebastian.
„Na klar“, bestätigte Totila, „da unten ist unser Freistundenhof.“
Und beide richteten ihre Blicke dann über die Mauer hinweg in weitläufige Gärten mit massiven Lauben und ganz im Hintergrund mehrstöckige Mietshäuser.
„Der Scheinwerfer des Wachturms dort“, sagte Totila, „wird uns nachts die Zelle erhellen.“
„Sind wir ja gewöhnt“, antwortete Sebastian.
Von den beiden, dem Älteren und dem Jüngeren in der Zelle erfuhren sie, dass beide wegen des 17. Juni verurteilt worden waren: Der Ältere zu zwölf und der Jüngere zu acht Jahren.
„Das sind ja ziemlich hohe Strafen“, stellte Sebastian fest. „Was habt ihr denn da gemacht?“
Der Alte lachte. „Geredet“, sagte er. „Ich fuhr eine elektrische Grubenbahn und kannte viele in der Senftenberger Grube.“
„Senftenberg?“, fragte Sebastian überrascht, „wir beide“, dazu tippte er Totila auf die Schulter, „sind aus Großräschen.“
„Na sieh’ an“, sagte der Lokführer.
„Aber in Großräschen war gar nichts los“, warf Sebastian ein.
„Um so mehr in Senftenberg“, sagte der Alte. „ Als wir das vom Aufmarsch und den Forderungen der Bauarbeiter in Berlin im Radio gehört hatten, machten auch wir mobil. Ich kam viel herum und habe die Leute zusammengetrommelt. Und der Markscheider hier“, und er wies mit einer kurzen Kopfbewegung auf den Jüngeren in der Zelle, „also der Siegfried, der hat zu den Leuten geredet.
Und ich hab’ dann auch noch ein paar Worte von mir gegeben.“ Er lachte wieder. „Ich hab’ ja noch nie zu so vielen Leuten gesprochen.“
„In Senftenberg war schon allerhand los“, bestätigte Siegfried, der Markscheider.
„Wir beide hier, wir waren ja nicht die einzigen, die was gesagt hatten. Und natürlich gab’s auch genug Stasi-Spitzel unter den Bergarbeitern, die dann als die Russen alles umstellt hatten, aus ihren Löchern gekrochen kamen. Einige von uns wurden noch am selben Tag abgeholt, in diese Stasivilla gebracht und dann gleich nach Cottbus in die Spreestraße.“
„Diese hübsche Villa in Senftenberg hab’ ich auch kennengelernt und diesen grobklotzigen Obersten dort.“
Siegfried, der Markscheider lachte. „Der sah aus wie ’n Russe, kam durch ’ne Tür rein, sah uns bloß an und verschwand gleich wieder.“
„Der hatte wahrscheinlich wie viele damals ’ne Scheißangst. Ohne den Iwan mit seinen Panzern wärs auch zu Ende gewesen mit der geborgten Bonzenherrlichkeit …“
„Das kann man wohl sagen“, bestätigte der Grubenbahn-Lokführer kopfnickend.
Nee, das sind keine Spitzel, sagte Sebastian sich und Totila stimmte dem ohne Worte zu.
Es gab im Zellenhaus immerhin diese wöchentlichen Rasiertermine. Sebastian und Totila hätten sie nicht unbedingt wöchentlich in Anspruch nehmen müssen.
Bei ihnen hätte es auch alle 14 Tage gereicht, doch Abwechslung erschien schon wichtig bei den Tagen dort, die sich oft so öde gleichförmig dahinquälten, als stehe die Zeit still.
So auch an diesem grauen Herbsttag, als der Kalfaktor an die Tür klopfte und : „Rasieren?“, fragte, alle Vier „ja“, sagten und der Kalfaktor sich die Namen auf einem Zettel notierte.
Am Nachmittag holte ein Schließer sie ab und führte sie nach unten in eine Zelle im ersten Stock, die bis auf zwei Hocker und einen Tisch keine weitere Einrichtung aufwies. Jeder Häftling kannte diese Zelle ja inzwischen. Auf dem Tisch befand sich wie immer eine emaillierte Wasserkanne nebst kleiner Schüssel mit Pinsel und Rasierseife. In der Ecke neben der Tür stand ein Abwassereimer. Sebastian wunderte sich, als der Einseifer, der in der Schüssel den Rasierschaum schlug und mit dem er bisher allenfalls über das Wetter gesprochen hatte, ihn auf einmal nach seiner Strafe fragte.
„Artikel 6, Kontrollratsdirektive 38“, sagte er. „Zehn Jahre“, fügte er hinzu, als er nach der Höhe der Strafe gefragt wurde.
„Ein ganz schöner Hammer“, sagte der Einseifer, während er mit dem Pinsel rührend den Schaum in dem Schüsselchen in die richtige Konsistenz brachte.
„Wie alt bist du denn?“, fragte er, während er mit Schaum und Pinsel Sebastians Kinn bearbeitete.
„Achtzehn“, antwortete der, leicht verwundert über das plötzliche Interesse.
„Wenn de raus kommst biste 28“, gab der Einseifer gnadenlos zu bedenken.
„Das weiß ich selbst“, gab Sebastian etwas ungnädig zu verstehen.
„Was meinen denn deine Eltern zu dieser Strafe?“, fragte der Einseifer, ein schätzungsweise dreißigjähriger Häftling, mit schütteren blonden Haaren über einem schmalen Gesicht. Wahrscheinlich ein Krimineller bei diesem Posten hier, ging es Sebastian durch den Kopf. „Na was sollen die schon denken“, antwortete er auf die letzte Frage.
Die nächste Frage, ob er denn noch Geschwister habe beantwortete Sebastian mit einem bloßen „Ja.“
„Na die werden doch auch ganz schön traurig sein“, insistierte der Einseifer ungerührt weiter.
„Ich bin ja nicht gestorben“, entgegnete Sebastian.
Eine Woche später, beim folgenden Rasiertermin, bemerkte der Einseifer Sebastian gegenüber wieder, dass „10 Jahre doch eine mächtig lange Zeit sind für so ’nen jungen Menschen.“ Und als er dann auch noch mit traurigem Gesicht bekundete, dass Sebastian ihm wirklich leid tue, konnte der sichs nicht mehr verkneifen zu erklären, dass seine Mitleidsbekundungen ihm lediglich unangenehm seien. Was er getan habe, sagte er, sei eben geschehen und dazu stehe er!
Natürlich, eine gewagte Aussage, das war ihm klar, aber damit hatte er nichts verraten und bereut hatte er ja weder bei der Stasi noch vor Gericht etwas. Dort hatte man ihnen beiden das sogar vorgehalten.
Der Einseifer hielt sich daraufhin mit seinen Bemerkungen Sebastian gegenüber erst einmal zurück, der sich keinen Reim darauf zu machen wusste, weshalb der gerade ihn mit seinem falschen Mitleid so herabwürdigend berührte. Anders könne man das nicht empfinden, meinte er. Vielleicht aber konnte der Einseifer das nicht begreifen. Mir soll’s halt egal sein, sagte Sebastian sich. Es ist nicht wichtig.
Und dann immer wieder das Phänomen der Zeit, das ihn beschäftigte.
Totila hielt das für Unsinn. „Zehn Jahre und sieben Jahre bleiben, wie man’s auch dreht und wendet, „zehn und sieben Jahre.“
Das sei ja nicht falsch, meinte Sebastian.
Doch Totila lehnte es ab, auf Sebastians Überlegungen einzugehen.
„Wenn man beim Thema Zeit nur das berücksichtigt, was man sehen und anfassen kann greift man vielleicht zu kurz“, sagte Sebastian.
Totila blieb dabei und hielt das was er von seinem Freund zum Thema gehört hatte, für hochgestochene Spinnereien.
Allein das was man sehen und anfassen könne, meinte Sebastian wieder, weise ja schon in recht eigenartige Zusammenhänge, die gerade dort, in dieser öden Zuchthauswelt, ganz gut wahrzunehmen seien.
Wieder waren Wochen vergangen. Die Häftlinge froren, denn die Heizungsrippen blieben kalt. Durch die Fensterklappe sickerte trübes Licht.
Sebastian stand vor dem Fenster und blickte, gegen einen Bettpfosten gelehnt, durch die geschlossene Scheibe hinaus auf die feucht glänzenden Teerpappendächer der masiven Lauben, die ganzjährig bewohnt sein sollten wie er gehört hatte. Obstbäume reckten ihr kahles Geäst schwarz in einen gleichmäßig grauen Himmel. Seine ganzen Monate in diesem Bau, rekapitulierte er, waren in aller Einförmigkeit Tag für Tag im Schneckentempo verlaufen: Wecken, Zählung, Kübel raus, Frühstück, Kübel rein, Freistunde im Hof, Mittag, Kübel raus, Zählung, Kübel rein für die Nacht, Einschluss, Licht aus … und das Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr? Richtig. Jahr für Jahr! Genau besehen geschah ja dauernd etwas, allerdings immer das gleiche. Als Unterbrechung dieser Gleichförmigkeit erwiesen sich vor allem Verlegungen. Wenn man sich mit den Menschen in einer Zelle halbwegs eingelebt hatte, hieß es bald wieder: „Sachen packen!“ Und der Eingewöhnungsvorgang begann von neuem. Schmerzlich konnte es werden, wenn man aus einer Zelle mit Menschen die man verstehen konnte, und die einen selbst verstanden, herausgerissen wurde mit der Gewißheit, dass man sich nie wiedersehen würde, um dann unter Menschen zu landen, die einem womöglich fern oder sehr fern standen. Es gab immer mehr Dinge, die Sebastian gerne mit jemandem besprochen hätte, der auch verstehen konnte worum es ihm ging.
Doch wenn er jetzt zurückschaute mit Blick ins spätherbstliche Land dort draußen, zurück bis an den Tag seiner Ankunft vor einem dreiviertel Jahr, dann schien ihm diese gleichförmig verstrichene Zeit fast wie im Fluge vergangen.
Die Erinnerung ließ sich dort auch nur noch an wenigen Ereignissen fest machen wie etwa an der Fußballweltmeisterschaft Westdeutschlands oder auch am Aufstand im Zellenhaus mit den Mörder! Mörder!-Rufen aus den Fenstern.
Vielleicht auch noch an der Erneuerung der Strohsäckefüllung …?
Dieser dauernde Wechsel der Menschen um ihn her mit denen er zwangsläufig stets nur sehr begrenzt zu tun hatte erschienen nur noch wie ein Zug wechselnder Gestalten, die dann auch bald im Nebel der Erinnerung verschwanden.