Читать книгу Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August - Страница 16

Kapitel 10

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So ging der Sommer dahin, die lange Regenperiode war vorübergegangen, auch die darauf folgende späte Hitzewelle hatte nachgelassen, als eines Tages in die Nachmittagsstille hinein Schmerzensschreie durch den Bau hallten. Als die Schreie sich wiederholten klopfte Sebastian mehrmals gegen die Türe, bis endlich der Stationskalfaktor auf dem Gang sich meldete.

„Überall klopft es“, sagte er, „ich kann mich doch nicht zerteilen. Die Schreie, ja, da braucht dringend einer ein spezielles Medikament … Ich weiß auch nicht welches, aber schon seit Tagen.“

Die Schreie kamen aus einer der unteren Stationen, denn von dort brach dann auch der lärmende Protest der Gefangenen los, die auf die Betten geklettert waren, mit ihren Blechschüsseln gegen die Gitter schlugen und „Mörder! Mörder!!“, nach draußen schrien, über die Mauern hinweg in die Stadt hinein. Das griff blitzartig auf alle Stationen, auch auf die obersten über, sodass letztlich der ganze Zellenbau dröhnte, da auch noch gegen die eisenblechbeschlagenen Türen gehämmert wurde. Wie später zu erfahren gewesen war, ging es wirklich um irgendein lebenswichtiges Medikament für einen akut erkrankten Gefangenen. Während dieses Höllenlärms liefen alle Schließer über die Gänge, um durch die Spione in den Zellentüren die Protestierer zu ermitteln.

Danach waren alle Arrestzellen im Keller belegt: Verächtlichmachung des Staates, Boykotthetze wegen der Mörder-Mörder-Rufe und Anstiftung zum Aufruhr.

Einigen mit Spitzeln auf der Zelle konnten solche Rufe zum Verhängnis werden.

Da war leicht ein Nachschlag von ein, zwei Jahren möglich, je nach Bedeutung ihrer Vorstrafe.

Auch Sebastian und Totila hatten mit dem West-Berliner Journalisten umgehend nach ihren Aluminiumschüsseln gegriffen, um damit den schrillen Lärm an den Gittern zu unterstützen. Natürlich hatten sie aus ihrem Zellenfenster auch die Mörderrufe nach Kräften wiederholt und so den Chor mit verstärkt. Nur mussten sie dazu nicht auf ein Bett klettern wie in den unteren Stationen und wurden deshalb auch nicht erwischt, weder mit den Schüsseln am Gitter, noch bei ihren Rufen. Auch wussten nun alle in der Zelle genau, dass unter ihnen kein Spitzel sein Unwesen trieb, weil niemand in den Arrest oder gar vor Gericht musste. In Hinsicht auf die Zuverlässigkeit einer Zellenbelegung konnte es sich aber immer nur um eine Momentaufnahme handeln, die sich bei jeder Verlegung und jedem Zugang ändern würde.

Später war über den Kalfaktor zu hören gewesen, dass der erkrankte Gefangene, der den Aufruhr ausgelöst hatte, das zuerst verweigerte Medikament dann doch noch erhalten hatte.

Seit Wochen gab es jeden Mittag statt einer wässrigen Weißkohl- oder Spinatsuppe dick zusammengekochte Bruchnudelpampe mit brauner Mehlsoße. Jeden Tag, wenn die großen aus Armeebeständen ausgemusterten Thermoskübel auf den Treppenabsatz krachten, um dann auf diesem kleinen Karren zum Austeilen der Nahrung von Tür zu Tür den Gang entlang transportiert zu werden, hofften die Gefangenen auf eine Abwechslung, wohl wissend, dass es eine müßige Hoffnung war.

Kartoffeln, hatten Totila und Sebastian gehört, habe es schon seit Anfang März nicht mehr gegeben. Sebastian dachte dabei an zu Hause. Auch dort waren die zugeteilten Einkellerungskartoffeln für die ganze Familie immer schon im April, spätestens im Mai, zu Ende gegangen.

Wenn es auch Tag für Tag die immer gleiche klebrige Bruchnudelpampe gab, zuvor zusammengefegt in einer Cottbuser Nudelfabrik, galt die Nahrungsausgabe allen Gefangenen auch als Zeitmesser, als Uhr … Wer jeden Tag im wesentlichen auf einem Hocker sitzend zu verbringen hatte und das wochen-, monate- und jahrelang, unter extrem beengten und hygienisch mehr als nur fragwürdigen Verhältnissen, für den war das Austeilen der Nahrung eine Zäsur, deren Bedeutung über die pure Ernährung hinausging.

Die Zuteilung eines monatlichen Briefes von zwanzig Zeilen an Angehörige auf einem vorgedruckten DIN A5-Bogen war keine Selbstverständlichkeit, sondern galt als eine an Auflagen geknüpfte Gewährung. Das war auch Sebastian und Totila schon vor ihrem ersten Brief von Kommandoleiter Wollny klar gemacht worden. Jeder Brief durchlief eine Zensur, wurde also in der Strafvollzugsverwaltung gelesen. So durfte etwa über Krankheiten in der Anstalt, vor allem aber auch über eigene Erkrankungen, im Brief nichts erwähnt werden. So was galt als Anstaltsangelegenheit wie auch die Verpflegung, die Unterbringung, die Behandlung, die ganzen Alltäglichkeiten …Wer das in seinem Brief nicht strikt beachtete, durfte ihn, aber dann auch nur ausnahmsweise, noch einmal schreiben. Bei erneuten Beanstandungen, und solche waren leicht zu finden, gab es keinen Brief mehr.

Wieder einmal hockten Sebastian und Totila vor den Zellen an einem Tischchen auf einer der drei Brücken über dem Lichtschacht, um ihren Zwanzig-Zeilen-Brief an die Angehörigen zu verfassen. Auf der Zelle zu schreiben war, aus welchen Gründen auch immer, nicht gestattet.

„Ich weiß einfach nicht was ich hier schreiben soll …“, sagte Sebastian, dazu schob er den Briefbogen von sich.

Auch Totila saß brütend da und drehte den Bleistift zwischen den Fingern. „Wir müssen halt schreiben, dass es uns gut geht …“ „Den Umständen entsprechend“, unterbrach Sebastian.

„Ja klar“, Totila nickte. „Ist ja einerseits logisch, andererseits stellt sich aber auch die Frage, ob sie das durchgehen lassen.“

Sebastian schüttelte den Kopf. „Also den Umständen entsprechend“, sagte er.

„Ich denke, ein langjähriger Zuchthausaufenthalt ist doch wohl ein einleuchtender Umstand. Wir schreiben doch nicht aus einem Genesungsheim.“

„Du hast ja recht, aber den Umständen entsprechend klingt doch irgendwie kritisierend.“

„Ach Quatsch, dann sollen die mir den Brief eben wieder zurückgeben. Ich probiers jedenfalls.“ Totila zuckte mit den Schultern. „Versuchs einfach, wenn du meinst … Wichtig ist aber, dass die sich zu Hause nicht zu große Sorgen machen.“

Sebastian schob die Lippen vor und wiegte den Kopf. „Besonders dick auftragen“, sagte er, „müssen wir deshalb hier aber auch nicht.“

„Brauchen wir ja nicht“, antwortete Totila.

„Ja aber, wenn ich schreibe mir geht es gut, dann ist das keine halbe Zeile.“

Totila schüttelte grinsend den Kopf. „Mann“, sagte er, „lass dir was einfallen, du kennst doch genug Füllwörter und schreibst nicht zum ersten Mal so einen Brief. Frag’ einfach an wie’s den Geschwistern geht oder wohin dein Vater seinen Bienenwagen zur Akazientracht gefahren hat. Ich glaub’ so heißt das doch oder?“, fügte er hinzu und sah Sebastian an.“ Frag auch, was die Oma macht.

Ein richtiger Briefwechsel wird das hier sowieso nie.“ Sebastian nickte: „Ja, Tracht heißt das bei den Bienen. Also wirklich“, sagte er dann, „unter diesen Bedingungen hier? Ich würde am liebsten gar nicht schreiben.“

„Du spinnst total! Du hast doch die andern Briefe auch alle geschrieben und die zehn Zeilen an deine Christa …“

„Richtig. Die wird ja auch denken ich bin so simpel wie ich schreiben muss. Na ja“, gab er nach kurzem Nachdenken schließlich zu, „mir wird schon irgend ein unverdächtiger Unsinn einfallen.“

„Wenn dir nicht bald was einfällt“, mahnte Totila, „ist die Zeit dafür vorbei. Wir haben höchstens noch ’ne Viertelstunde, dann kommen die nächsten die hier schreiben sollen.“

Beide brachten dann aber die erlaubten zwanzig Zeilen doch noch aufs Papier.

Sebastian auch die zehn Zeilen an seine Freundin Christa, die seine Mutter nach Leipzig schicken würde. Wie seine Freundin Christa nun ihrerseits über die ganze Angelegenheit dachte, konnte sie ihm ja auch nicht mitteilen und er nicht, weshalb das alles so gekommen war. Was für ein Briefwechsel! Seine Mutter würde wohl etwas zur Aufklärung beitragen, aber Missverständnisse waren dabei natürlich fast vorprogrammiert.

„Das wimmelt bei mir nur so von Belanglosigkeiten“, murrte Sebastian schließlich und schnippte den Briefbogen von sich.

„Ich denke“, sagte Totila, „wir müssen uns auf das alles hier erst noch richtig einstellen.“

„Soll das heißen, wir müssen gleichgültiger werden?“

„Vielleicht“, antwortete der Freund.

Immer wieder dachte Sebastian an den Todeskandidaten und den überheblich zynischen Ton als sie ihn weggebracht hatten: „Da wo Sie jetzt hinkommen, brauchen Sie keine Sachen mehr …“ Im Krieg Jagdflieger, verheiratet und zwei Kinder, die noch zur Schule gingen, so verbreitete es sich auf Station vier. Die MIK 15: Dank dieses Mannes wusste man im Westen nun gut über das Bedrohungspotential dieser sowjetischen Maschine Bescheid. Tropfen für Tropfen sagte Sebastian sich, höhlt mit der Zeit auch den festesten Stein.

In der Zelle war es still geworden, alle dösten auf ihren Schemeln vor sich hin.

Sebastian bewegte das Schicksal dieses Fluglehrers, wenn er dabei noch an die Empfindungen seines eigenen Traums dachte. Der einsame Gang zum Fallbeil, umgeben von Kälte und Tod: Für ihn nur ein Alptraum, doch der andere, der Fluglehrer, war ihn wirklich gegangen, diesen Weg …

Langsam lief Sebastian im schmalen Spalt zwischen den Betten auf und ab: Vier Schritte zum Fenster, kehrt, vier Schritte zurück, kehrt, vier Schritte zum Fenster … hin und her, ganz gleichmäßig wie ein großes Pendel in einem Uhrwerk und dazu das regelmäßige Knarren eines Dielenbretts. Sebastian bemerkte, dass er kurz davor stand in etwas wie Trance zu verfallen. Dresden, sagte er sich … Dresden, Hitler und die Guillotine. Tod und Verderben … Wie mochte dem Fluglehrer dort zumute gewesen sein … Alles Streben, Wollen, Können, alles Lieben, alle Schönheit, würde für ihn dort zu Ende gehen. Und die fanatische Blödheit der Menschen um ihn her, die ihn zum Tode bringen würden, kalt und selbstgerecht. Ein kurzer Aufschub noch, eine kahle Zelle und das Warten … Sebastians Schritte eins, zwei, drei, vier, und kehrt. Eins, zwei, drei, vier, und kehrt … dazu das im immer gleichen Rhythmus knarrende Dielenbrett schränkten seine Sinne ein. Er empfand eine weite Leere, alles verlor an Bedeutung, wurde klein und x-beliebig … er selbst, die Zelle, die Mitgefangenen, der Zellenbau, seine Verurteilung, seine Taten, seine Überzeugungen … Gab es denn diese Welt um ihn her überhaupt? Doch immer wieder kam er dann doch zurück in die Welt, die sich real nannte. Schließlich bemerkte er, dass sich in ihm angesichts der erlebten Welt, so etwas wie ein Schock zu lösen begann, an den er erst nicht hatte glauben wollen. Es wurmte ihn nun um so mehr, dass er sich ahnungslos und naiv auf diesen Freund aus fernen Kindertagen hatte einlassen können. Im Nachhinein fielen ihm Kleinigkeiten ein, Kleinigkeiten mit tiefen Wurzeln, die ihm schon früher hätten auffallen müssen. Da war etwa die Sache mit dem heimlich besorgten Kleinkalibergewehr. Bei Schießübungen im Keller hatte er die Ladungen aus Mangel an Originalmunition immer ein wenig mehr mit Plättchenpulver aus einer alten Karabinerpatrone erhöht, um mehr Durchschlagskraft zu erzielen. Vor jedem Abschuß einer Ladung war sein Freund eilig aus dem Keller bis auf den Hof geflüchtet, um nach dem Schuß vorsichtig durch die spaltoffene Kellertür nach ihm Ausschau zu halten. Sebastian hatte damals darüber gelacht.

Ein anderes Geschehen hatte ihn dann aber doch wieder kurz nachdenklich werden lassen, nämlich wie abfällig der Freund sich in seiner Gegenwart über die eigenen Eltern ausgelassen hatte, um das dann aber auch rasch wieder zu verdrängen, vielleicht weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte? Auch hatte er das alles stets in ein komisches Licht gerückt, um sich die Wahrheit nicht eingestehen zu müssen.

Es hatte noch viele Warnzeichen gegeben, die er bewusst missachtet hatte. Er ahnte damals schon, dass das an diesem Freund Charakterscharten waren, die nicht auf sich allein beruhten. Doch hätte Sebastian darauf angesprochen, dies sicher von sich gewiesen..

So verging die Zeit im Gleichmaß des Zellenalltags: Der Gefangene wechselte hin und wieder von Hocker zu Hocker, man konnte ja nicht immer nur auf ein und derselben Stelle sitzen in den Stunden des Wartens auf die regelmäßige Nahrungszuteilung oder des Raustretens zur Freistunde. Ebenso war es möglich einige Schritte zwischen den Betten auf und ab zu laufen, wenn die andern saßen. Auch eine Weile durch die Fensterklappe nach draußen zu blicken in ein sonnenbeschienenes Land oder in dunstiggraue Regenschwaden, galt als Abwechslung. Gegebenenfalls an grauen Tagen dicht unterm Fenster ein Buch zu lesen und sei es ein sowjetischer Heldenroman, konnte eine ebenso willkommene Ablenkung bedeuten.

Hin und wieder erzählte ein Zellengenosse aus seinem Leben, etwa aus der Kriegsgefangenschaft in Russland, berichtete von Holzfällerarbeiten in riesigen Wäldern hinterm Ural und von der miserablen Ernährungslage dort, den vielen Kranken vor allem im Winter bei 35° bis 40° Kälte. „Stets standen vor dem Lagerzaun aber auch russische Frauen mit Kindern und bettelten um Nahrung bei uns“, erzählte einer, „die wir selbst ja bei schwerer Arbeit und mangelnder Ernährung, ums Überleben kämpften.“ Ein anderer erzählte, dass nach dem Krieg die Russen als Sieger versucht hätten, möglichst viele Kriegsgefangene in den Lagern am Leben zu erhalten. Davor aber, noch im Krieg, sei ein solches Leben nicht allzuviel wert gewesen. Insgesamt habe er im Rückblick die Zeit dort aber nicht als so schlimm empfunden wie die Beerdigung bei lebendigem Leibe jetzt hier, hatte er abschließend mit einer umfassenden Armbewegung durch die Zelle erklärt.

Kein Wunder, meinte Sebastian, denn Ähnliches war ihm schon einige Male von Kriegsgefangenen erzählt worden, von Männern, die Jahre in diesen Lagern überlebt hatten und nun aus politischen Gründen bereits wieder über Jahre in der Enge dieser Zellen zusammengepfercht saßen …

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