Читать книгу Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August - Страница 26
Kapitel 20
ОглавлениеDie Sonne beschrieb inzwischen einen steilen Bogen am wolkenlosen Himmel wie es der Zeit Ende Juni entsprach. Es blieb vor allem lange hell und sonnige Tage gab es in diesem Sommer viel mehr, als im Jahr zuvor, dem verregneten Sommer 54. So schön ein heißer Sommer draußen sein mochte, in den überbelegten Zellen stand die aufgeheizte Luft, vor allem direkt unter ’m Flachdach in der obersten Station.
An solchen Tagen frönten die Schließer unter Kommandoleiter Wollny immer wieder mal ausgiebig ihrem Hobby, mit dem Verbot die Fensterklappen in den Zellen zu öffnen und sich dort der Jacken zu entledigen. Dazu schlichen sie vor sich hingrinsend auf den Gängen in unregelmäßigen Abständen von Zellentür zu Zellentür und linsten dort durch die Spione. In Abständen konnte man dann das Krachen von Schlössern und Riegeln durch den Bau dröhnen hören. Mancher wurde erwischt, weil er seine Jacke aufgeknöpft getragen hatte. Andere wieder, weil sie trotz des Verbots das Fenster einen ganz schmalen Spalt offen gehalten hatten. Das hieß dann vierzehn Tage Kellerarrest oder aber auch nur eine eingetragene Verwarnung. Es blieb dann weitestgehend der gerade gültigen Laune des Kommandoleiters überlassen.
Der Raum einer Zelle, vor 100 Jahren für eine, allenfalls und ausnahmsweies zwei Personen konzipiert, erwies sich nun, mit vier beziehungsweise sechs Gefangenen, als völlig überbelegt. Schikanen vor allem an heißen Sommertagen machten dann aus so einer Zelle eine Folterkammer. Der Schweiß lief einem dort aus allen Poren und aus Sauerstoffmangel preßten sie der Reihe nach abwechselnd Mund und Nase gegen die Türspalten, um so Luft vom Gang vor den Türen zu schnappen. Dazu kam bei solchen Witterungsverhältnissen dann noch die vermehrt auftretende Ausdünstung aus den stets übervollen Kübeln.
Eines Tages, gerade mal von den fast Toten wiedererstanden, begann sich, zuerst kaum merklich, sein zuvor untereiterter Gaumen wieder aufzuwölben. Sebastian hatte es zuerst mit der Zunge ertastet. Verdammter Mist! ging es ihm durch den Kopf und vor sich sah er erneutes Ungemach. Schmerzen plagten ihn zwar nicht, doch es war klar, dass sich dort wieder Eiter anzusammeln begann.
Sedlmayr sah sich die Sache an, tastete die werdende Geschwulst am Gaumen ab und schüttelte den Kopf. „Die hätten dir gleich Penizillin geben müssen. Das muss jedenfalls raus“, sagte er. „Du musst dich wieder melden, die werden das aufmachen.“
„Mann oh Mann, wie lange soll denn das noch so weitergehen?“, maulte Sebastian.
„Die müssen dir Penizillin spritzen“, warf der Arzt ein.
„Da kann man nur lachen“, winkte Sebastian ab. „Penizillin für’n Staatsfeind“, und er schüttelte den Kopf.
„Also aufschneiden werden sie’s auf alle Fälle“, sagte der Arzt.
„Na gut, aber die können mir doch nicht wieder so’ ne Betäubungsspritze verpassen.“
„Nee, das natürlich nicht.“ Der Arzt schüttelte den Kopf.
„Dann schneiden die einfach so drauflos?“
Sedlmayr zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht“, sagte er, „wahrscheinlich …“
Nach seiner Meldung am nächsten Tag, brachte man Sebastian noch am selben Tag ins Revier und dort auch ohne Aufenthalt im Kellerflur direkt zum Zahnarzt, demselben, der ihn kürzlich fast umgebracht hatte. Im Behandlungsstuhl konnte er sichs nicht verkneifen, ihn an dessen fast verhängnisvollen Fehler zu erinnern. „Also die Spritze letztlich, du erinnerst dich, die Spritze in den vereiterten Kiefer … Ich wäre fast draufgegangen.“
Dem alten Zahnarzt schien das immerhin peinlich zu sein, aber er überging die Bemerkung. „Wir müssen schneiden“, sagte er ganz sachlich zum Sanitätswachtmeister, nachdem er den Gaumen abgetastet hatte.
Sebastian machte sich auf Schlimmstes gefasst.
„Vereisen?“, fragte der Sanitäter.
Der Zahnarzt nickte, griff nach einer kleineren Flasche und sprühte zischend etwas gegen die Geschwulst.
„Tut ja verdammt weh“, sagte Sebastian noch. Doch dann kam der Schnitt mit dem Skalpell, dabei schossen ihm Tränen in die Augen. Vor allem aber, als der Zahnarzt mit der Pinzette und einem Gazetupfer auch noch den Eiter aus der Wunde wischte verspürte er einen rasenden Schmerz. Und das wars dann auch.
Er fühlte sich auf dem Weg zurück über den Hof noch immer leicht benommen.
„Ich bin vor Schmerzen fast in Ohnmacht gefallen“, erzählte er in der Zelle, als Sedlmayr sich die große Schnittwunde an Sebastians Gaumen ansah.
„Kann ich mir denken“, sagte der Boxer und auch Siegfried wollte den Schnitt im Gaumen dann ebenfalls in Augenschein nehmen.
„Sieht schlimm aus“, war die einhellige Meinung.
„Ich krieg ja fast ’ne Maulsperre“, protestierte Sebastian endlich.
„Ob das mal ausreicht, dieser Schnitt da …“, gab der Arzt zu bedenken.
„Wie meinst du das, warum soll das nicht ausreichen?“, fragte Sebastian verunsichert.
„Na ja, es könnte sich erneut Eiter bilden.“
„Und was kann man dagegen tun?“
„Eigentlich nichts …“
„Kann das auch von alleine weggehen?“
„Vielleicht. Wahrscheinlicher aber nicht.“
„Und wenn nicht?“
„Tja, dann frißt der Eiter sich womöglich durch den Knochen der Kieferhöhle.
Von dort könnte er auch in die Augenhöhle geraten und schließlich auf den Sehnerv treffen …“
„Hör auf damit!“, protestierte Sebastian. „Wenn das alles einträfe, wäre ich letzlich zahnlos und blind.“
Der Arzt lachte. „Aber Penizillin“, sagte er dann, „das wäre schon wichtig.“
„Na, das sind ja schöne Aussichten“, bedankte Sebastian sich.
Der Schnitt im Gaumen heilte bereits nach wenigen Tagen, doch zehn Tage später traf prompt ein, was der Arzt als Befürchtung geäußert hatte: Der Gaumen quoll erneut auf. Auch diesmal hielten akute Schmerzen sich in Grenzen.
Sebastian meldete sich erneut zum Zahnarzt. Und die Schließer wussten inzwischen Bescheid. Im Behandlungsraum tauchte diesesmal ein Arzt auf, der, wie Sebastian bemerkte, unter dem weißen Kittel eine Offiziersuniform trug. Offensichtlich hatte der die Genehmigung zu erteilen Penizillin zu verabreichen oder auch nicht.
Sebastian sah dann nur, dass der Zahnarzt eine Spritze aufzog und spürte wie er mit der Nadel Stich für Stich rund um die Geschwulst setzte.
„War das Penizillin“, fragte er danach.
Der Zahnarzt nickte.
Wieder in der Zelle berichtete Sebastian Friedrich Sedlmayr, dem Arzt, von der Penizillingabe. „Ein Offizier war dabei“, erzählte er. „Ich konnte die Uniform unter’m weißen Kittel erkennen. Der musste wohl das Penizillin erst genehmigen.“
„Das ist stark anzunehmen“, bestätigte Sedlmayr. „Penizillin wird ja auch draußen nicht beliebig verordnet.“
„Dann ist’s ja doch erstaunlich, erklärte Sebastian, „dass die einen westlichen Agenten, einen Feind des Volkes, bei der Verordnung berücksichtigt haben.“
„Das musst du gar nicht so ironisch sagen“, ließ der Arzt sich vernehmen. „Penizillin im Knast und dann noch für einen Artikel 6er, das ist nicht so selbstverständlich … vielleicht, weil du noch so jung bist?“ Sedlmayr zuckte dazu mit den Schultern. „Ich weiß nur“, sagte er, „dass mit dem Zeug ganz allgemein ziemlich gegeizt wird, auch draußen.“
„Wir leben doch im humanen Strafvollzug“, witzelte der Boxer. „Das sagen die jedenfalls immer“, setzte er mit gespielt naiver Miene hinzu.
Sebastian saß inzwischen wieder auf einem Hocker und starrte mit den Händen auf den Knien vor sich auf den Boden. Dann blickte er zum Arzt hoch, der gegen einen Bettpfosten gelehnt stand. „Meinst du“, fragte er ihn, „dass das noch mal wiederkommen kann?“ Dazu wies er mit dem Zeigefinger auf die rechte Wange. „Ich meine das mit dem Eiter.“
„Penizillin ist schon richtig“, antwortete der Arzt. „Der Abzeß wird erst mal verschwinden. Doch der Herd, der könnte sich verkapseln, entwickelt sich weiter und könnte die Kieferhöhle angreifen.“
„Das wäre sicher schlimm …?“, fragte Sebastian.
Der Arzt nickte bestätigend. „Und ob“, sagte er, „das kann aber auch erst in zwanzig, dreißig Jahren so weit sein. Wenn du wieder draußen bist, dann lass das mal überprüfen.“
„Na ja, ein Weilchen dauerts ja noch … Aber wenn’s schneller geht und noch hier im Knast?“
„Das müsste dann operiert werden.“
„Operieren im Knast?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Im Haftkrankenhaus“, sagte er.
„Und wenn dann nichts passiert, also wenn die wieder mal nicht reagieren?“ Sebastian sah dazu den Arzt an .
Der hob die Schultern, stieß sich vom Bettpfosten ab und breitete die Hände aus. „Was soll ich dazu sagen? Ich bin ja auch bloß ’n Knastrologe wie alle hier.“
„Aber wenn was passieren sollte und dann wieder nichts geschieht, könnte das lebensgefährlich sein?“
„Eine komische Frage“, sagte der Arzt, „aber möglich ist natürlich alles. Doch so eine Operation ist auch keine Lappalie.“
Vom Abzeß bemerkte Sebastian bald nichts mehr. Lediglich mit der Zunge erspürte er noch eine lange wulstige Narbe am Gaumen.
Wochen vergingen in dauernder Wiederholung eines ständigen Einerleis. Büchertausch gabs auch nur noch monatlich. Sebastian hatte sich mit dem älteren Bücherkalfaktor etwas angefreundet, das heißt, dem tat der junge Kerl wahrscheinlich leid, der offensichtlich in geistiger Notlage sich stets recht intellektuelle Bücher bei ihm bestellte.
Sebastian hatte dann auch mit ihm abgesprochen, dass der ihm die deutchen Klassiker bei jedem Büchertausch nacheinander in die Zelle geben würde. Dabei hatte Sebastian dann auch die Erfahrung machen können, dass etwa Goethe ein Schutz gegen depressive Stimmungen sein konnte, aber auch Herder und etwas weniger vielleicht Schiller, wie er meinte.
Eines Tages wurde Sedlmayr überraschend aus der Zelle geholt. Vielleicht zusätzliche Post von zu Hause, rätselte man unter den Zurückgebliebenen. So was gab’s manchmal. Und wenn so ein Brief sehr Wichtiges für den Gefangenen enthielt, dann konnte es, wenn sicherlich auch äußerst selten geschehen, dass der Kommandoleiter diesen Brief oder auch nur einen Ausschnitt daraus, dem Gefangenen in seinem Büro vorlas.
Doch das traf nun bei Sedlmayr nicht zu, denn als er wieder in die Zelle zurückgebracht worden war berichtete er, dass er schon am nächsten Tag als Arzt in ein Haftkrankenhaus verlegt werden würde. Er wisse nur noch nicht in welches. „Ich habe damit noch gar nicht gerechnet“, sagte er.
„Das ist doch nicht verwunderlich“, äußerte der Boxer sich zu dieser Überraschung. „Es ist schließlich klar, dass Ärzte gerade unter den Verhältnissen hier, also in den Gefängnissen, Zuchthäusern und Arbeitslagern … immer gebraucht werden. Wir alle hier“, fuhr er mit einer umfassenden Handbewegung fort, „zählen doch, jeder einzelne, zu einem Arbeitskräftereservoir der DDR, das beim Einsatz den Staat fast nichts kostet. Und Ärzte braucht es dann natürlich, um die Arbeitskraft des Einzelnen möglichst zu erhalten oder wieder herzustellen.“
„Wie dem auch sei und wozu du als Arzt auch eingesetzt wirst“, wandte Sebastian sich an Sedlmayr, „eines ist doch klar: Als Arzt gehörst du, auch als Gefangener, in eine andere Kategorie. Hier bist du jetzt bloß Strafgefangener. Dort aber wirst du eine Einzelzelle kriegen, einen weißen Kittel und eine ganz andere Verpflegung. Dazu kann man nur gratulieren.“
Und so verließ der Arzt Friedrich Sedlmayr die Zelle mit seinem Bündel an einem Tag mit blauem Himmel und Sonne, die selbst die sonst düsteren Zellenschächte freundlicher wirken ließ.
Sebastian und die anderen blieben teils traurig, teils ein wenig neidisch zurück.
Der Friedrich Sedlmayr sei für ihn ein Glücksfall gewesen, erklärte Sebastian ein bisschen nachdenklich, nachdem der Arzt die Zelle verlassen hatte. „Wenn der sich nicht tagelang mit großer Geduld um mich gekümmert hätte“, fuhr er fort, „wäre ich in meiner mehr als nur desolaten Verfassung womöglich draufgegangen.“ Es hatte dann ja immer noch gut drei Wochen gebraucht, bis er halbwegs wieder auf eigenen Beinen hatte stehen können.
„Eine simple Erkältung, eine Lungenentzündung etwa, hätten ausgereicht“, sagte er, „mir das Licht für immer auszublasen.“ Das habe natürlich auch Sedlmayr gewusst, der ihn ohne Pause zum Essen förmlich gequält hatte.
Sebastians Mutter schrieb ihm eines Tages in einem der Monatsbriefe, dass die Bauunion einen Einzelvertrag mit seinem Vater geschlossen habe und dass sein jüngerer Bruder auf Grund des Vertrages nun auch Abitur machen dürfe.
Da Sebastian sich darunter nicht wirklich etwas Konkretes vorstellen konnte erkundigte er sich während des Antretens zur Freistunde bei Gefangenen aus der Nebenzelle, von denen er wusste, dass sie erst kürzlich verurteilt worden waren und von einem, ein Diplomingenieur, von dem zumindest anzunehmen war, dass er über solche Verträge, von denen seine Mutter ihm geschrieben hatte, Bescheid wissen konnte, erfuhr er dann auch, dass es diese Einzelverträge mit einem Betrieb wirklich gab, statt der normalen Kollektivverträge mit allen anderen Arbeitern und Angestellten. Sonderverträge also, die deshalb auch „Intelligenzverträge“, hießen und mit einigen Vorrechten ausgestattet waren, vor allem hinsichtlich der Versorgung mit Mangelwaren. Dahinter stände die Absicht, sagte man ihm, Ingenieure und Wissenschaftler in der DDR zu halten. Eine „Notmaßnahme“. Zu viele davon seien bereits in den Westen getürmt.
Bei einer vierteljährlichen Sprecherlaubnis, also dem halbstündigen Besuch seiner Mutter, erfuhr er schließlich, dass so ein Einzel- oder Intelligenzvertrag auch mit einer Garantie ausgestattet sei, dass nämlich Kinder dieser Intelligenzler, die bis dahin ja großenteils der bürgerlichen Klasse zugerechnet worden waren und damit eigentlich dem Klassenfeind nahestanden, nun bei entsprechender Leistung weiterführende Schulen besuchen und auch studieren durften.
Die Not des Staates DDR, dem die besten Leute wegliefen habe in diesem Fall die ihm innewohnende Willkür ein wenig eingrenzen müssen, nur würde das den Freund auch nicht mehr retten überlegte Sebastian dort am Tisch seiner Mutter gegenüber.
„Dein Bruder“, hörte er seine Mutter wieder, gemeint war der jüngste, „wird das nun wahrnehmen können.“
„Na toll, da kommt so was für den ja gerade zum richtigen Zeitpunkt … Alles weitere wird sich später finden. Für mich gab’s damals ja noch keinen Platz, aber das ist nun auch egal. Ich habe diese prekäre Schule hier erst mal zu absolvieren.“ Dazu schielte er zum Wachposten am selben Tisch, der aber wohl mit dem Begriff des Prekären nichts anzufangen wusste und so diesen Satz unbeanstandet hatte durchgehen lassen.